Ob im Kollegenkreis ein unterschwelliger oder offener Streit besteht oder Patienten nerven – Konfliktpotenzial gibt es im medizinischen Alltag reichlich. Ein gutes Gegenmittel bietet die Gewaltfreie Kommunikation. Wie die funktioniert, berichtet die Ärztin, Autorin und Kommunikationstrainerin Dr. Stephanie Schnichels.
Es gehört zum täglichen Brot der heilenden Berufe: Erkrankte, die trotz ernster Diagnose auf jeden gut gemeinten Ratschlag mit „Ja., aber...“ antworten, nichts an sich ran lassen oder nur meckern. Da kann der Gutmütigste innerlich und äußerlich zum „HB-Männchen“ werden und in die Luft gehen. Die Kommunikationstrainerin Dr. Stephanie Schnichels empfiehlt für solche Momente eine Gesprächsmethode aus den USA: die Gewaltfreie Kommunikation.
Gewaltfreie Kommunikation: Worum geht’s?
Diese hilfreiche Gesprächstechnik aus den 1960er Jahren wurde von dem amerikanischen Psychologen Marshall B. Rosenberg entwickelt – und umfasst auch eine generelle Haltung anderen Menschen gegenüber. Ihr Kern ist, nicht zu bewerten, was jemand falsch macht, sondern zu schauen, was hinter schwierigem Verhalten steckt. Was braucht mein Gegenüber wirklich? Welches Bedürfnis steht hinter der Aussage? Wer das versteht, für den wird der Job-Alltag deutlich leichter. „Vorwürfe sind oft verklausulierte Bitten und ungünstig ausgedrückte Bedürfnisse“, erläutert Schnichels eine Grunderkenntnis.
Ihr Schlüsselerlebnis: Während ihrer Assistenzarztzeit in einer Eltern-Kind-Rehaklinik am Chiemsee erlebte sie Mütter mit hohem seelischem Druck. „Die wollten innerhalb von ein paar Stunden, dass alle Probleme gelöst werden. Mal war es die ausgefallene Massage, die fehlende Besserung der körperlichen Beschwerden, den im Klinikkindergarten aufgeschnappten Infekt des Kindes oder es gab kein Zimmer mit Blick zum See. Daher brachen immer wieder Dispute mit dem Personal aus. Eines Tages kam eine neue Oberärztin ins Team. Die wütenden Frauen verließen nach Gesprächen mit ihr ‚schnurrend‘ ihr Arztzimmer. Ich fragte mich verdutzt: Was macht die nur mit denen?“ Die Kollegin benutzte die Gewaltfreie Kommunikation.
Schnichels erklärt das Vorgehen: „Ich erinnere mich an eine junge Frau. Sie war mit ihren Kindern fünf Stunden angereist und sofort sehr aggressiv. Mit der Begründung, das Haus wäre ein „Gefängnis“, wollte sie noch am gleichen Tag wieder weg. Ich sagte dann aber nicht: ‚Sie sind doch gerade erst angereist. Geben Sie uns erst mal eine Chance‘ – was die übliche Reaktion gewesen wäre. Sondern ich fragte: ‚Sie wirken ganz aufgewühlt, was ist denn los?‘“ Dann kam raus, dass eine Pflegekraft ihr bereits beim Empfang gesagt hatte, dass, wenn ihre Kinder Durchfall bekämen, sie in Quarantäne müssten. Die Mutter und ihr Nachwuchs waren aber kurz vorher wegen Windpocken schon sechs Wochen isoliert gewesen. Es war eine Horrorvorstellung für sie, wieder nur in einem Zimmer zu hocken“. Durch das Eingehen auf die ärgerlichen und zugleich besorgten Gefühle der Patientin und auf ihr Bedürfnis nach Freiheit, das hinter dem Ausdruck „Gefängnis“ stand, konnte Schnichels sie beruhigen und zum Bleiben motivieren.
Connection before correction
Generell gilt: Erst wenn ein guter Kontakt hergestellt ist, sollte die Problemlösungsebene betreten werden. Doch viele Ärztinnen und Ärzte möchten schnell dahin gelangen und machen viel zu früh Lösungsvorschläge. Die Patientinnen und Patienten wollen aber erst einmal Empathie und Verständnis spüren. Das muss laut der erfahrenen Trainerin nicht wie bei einer Psychotherapie stundenlang dauern, sondern kann auch in ein paar Sätzen geschafft sein. Wichtig ist jedoch, dass die Betroffenen das wirklich mitbekommen.
Beispiel: Ein Mann hat Bluthochdruck, dagegen Medikamente bekommen und klagt nach einer Woche schon: „Die Behandlung bringt nichts, mir geht es immer noch schlecht.“ Da denken viele Kolleginnen und Kollegen im Stress schnell: „Seien sie doch geduldig, reißen Sie sich zusammen“ – und manche sagen das auch. Schnichels Tipp dazu: „Günstiger ist, die Menschen mit Empathie abzuholen und erst mal zu schauen, wie es ihnen geht.“ So eignet sich folgende Reaktion: ‚Ich würde gerne verstehen, was Sie gerade beunruhigt. Können Sie mir das erklären? Brauchen Sie vielleicht noch mehr Infos über das Medikament?‘“ Kommt nun bei diesem Patienten heraus, dass er zudem sehr besorgt ist, weil sein Onkel an einer Hirnblutung starb, empfiehlt die engagierte Medizinerin seine Befürchtungen behutsam und empathisch aufzugreifen mit Worten wie: „Sie sind beunruhigt, dass es Ihnen auch so ergeht?“ Und ihm dann erst danach Erklärungen für die fehlende Medikamentenwirkung anzubieten.
Schnichels weiß aus ihren Coachings, dass manche ärztliche Kolleginnen und Kollegen denken, solche Gespräche würden nur wertvolle Zeit kosten. Aber dagegen spricht nicht zuletzt ein sehr praktisches Argument: Unzufriedene und ängstliche Menschen kommen schneller wieder in die Sprechstunde, weiterhin schlecht gelaunt. Dann kann der Termin häufig wegen der Pauschale sogar nicht abgerechnet werden. Empathie spart also Zeit und Geld.
Ein tolles Tool
Noch wichtiger ist die Ansprache bei einer ernsten Diagnose. „Wer eine schlimme Nachricht erklärt bekommt, kann das kognitiv in dem Moment gar nicht begreifen, weil er in einem emotionalen Schock-Zustand gefangen ist.“ Besser sei es, zuerst die Gefühle zu spiegeln – zum Beispiel so: „Sie sind gerade ziemlich erschrocken, stimmt`s?“ oder „Sie wirken gerade ganz schön aus der Bahn geworfen?“ – Dann eine Pause machen und den Patienten seine Emotionen für ein, zwei Minuten wahrnehmen lassen. Denn der Mensch ist wirklich geschockt und muss diesen Gefühlsaufruhr erst mal verdauen. Wenn ich als Ärztin erst über die aktuellen Gefühle rede, merkt der Patient, dass ich ihn und seine Lage verstanden habe.“
Ähnliches gilt für Autonomiebedürfnisse. Sobald der eigentlich erwünschte Dialog mit „Sie müssen...“ anfängt, entsteht oft automatisch Widerstand. Um das zu verhindern, sei es besser zu formulieren: „Ich habe folgenden Vorschlag“ oder zu fragen: „Was haben Sie selber für eine Idee?“ Und bloß nicht sagen: „Sie müssen Sport treiben sonst…“ Erfolgversprechender ist, anzuregen: „Wäre zweimal die Woche Nordic Walking etwas für Sie?“ Dann kommt der Ball vielleicht zurück, zum Beispiel durch eine Antwort wie: „Ich hasse Nordic Walking, aber ich kann schwimmen gehen.“ Auch gut.
Doch Gewaltfreie Kommunikation kann noch mehr. Schnichels fasst zusammen: „Ich habe viele Schulungen in Kliniken gegeben und festgestellt, wie extrem wichtig das auch fürs Team ist. Wenn man sich nicht grün ist, gehen wichtige Infos verloren oder abgesprochene Abläufe werden nicht eingehalten.“ Darüber hinaus ist die Burnout-Gefahr für Ärztinnen und Ärzte, die gut kommunizieren, nicht so hoch. Schnichels resümiert: „Es gibt den schönen Satz des Psychologen Friedemann Schulz von Thun ‚Menschen, die miteinander zu schaffen haben, machen einander zu schaffen.‘ Mit der Gewaltfreien Kommunikation existiert ein tolles Tool, mit dem ich entscheiden kann, was ich in die Welt hinaus sende.“ Und im Grunde werden damit alle Kontakte deutlich angenehmer – nicht nur die beruflichen.
Vier Schritte zur Gewaltfreien Arzt-Patienten-Kommunikation
- Nicht bewerten, sondern beobachten
- Nicht interpretieren, sondern Gefühle benennen und spiegeln
- Bedürfnisse erkennen
- Gemeinsam Lösungen entwickeln
Aber: Verstehen heißt nicht einverstanden sein!