Alles im Griff? Ein Plädoyer für mehr Lebendigkeit im Klinikalltag

14 Juni, 2022 - 14:45
Dipl.-Psych. Gabriele Schuster
Selbstmanagement bei Ärzten

Führungskräfte haben mehr von allem: mehr Arbeit, mehr Verantwortung, mehr Dinge so halb im Griff – oder eben auch nicht. All das kann das Leben bereichern, wenn man ein gutes Gespür für sich selbst und andere hat und dem ganzen Durcheinander mit mehr Lebendigkeit entgegentritt.

Vor einiger Zeit traf ich Dr. Neubauer, Oberarzt der Anästhesie eines Klinikums, früh morgens im Flur vor dem OP. Er stand gegen die Wand gelehnt in der Sonne, die durch das Fenster gegenüber hereinstrahlte. Er wirkte verwirrt und abwesend. Ich wusste, dass er in den Jahren zuvor viel Energie in den Aufbau seiner Abteilung investiert hatte, die er in schlechtem Zustand übernommen hatte. Ohne viel zu sagen, setzte ich mich ihm gegenüber auf die Heizung. Nach einigen Sekunden des friedlich geteilten Schweigens sagte er: „Nein, Frau Schuster, es ist nicht alles in Ordnung.“

Innere Distanzierung: Wenn man nichts spürt

Am späteren Nachmittag nutzten wir die Chance zu einem Spaziergang. „Wissen Sie, im Grunde habe ich mein Leben im Griff“, sagte Dr. Neubauer. Er komme als Oberarzt gut zurecht. Seine Abteilung funktioniere inzwischen, schilderte er. Er habe kaum noch Briefe liegen, die diktiere er nachts von zu Hause aus. Manchmal schaffe er es, seinen Sohn zum Judo zu fahren. Seine Ehe laufe im Wesentlichen gut. „Und dabei ich fühle mich, als hätte das alles nichts mit mir zu tun. Ich stehe auf, bin Ehemann, Vater, Chef und dann falle ich irgendwann ins Bett.“ An diesem Morgen habe er seiner Frau einen Kuss gegeben und dabei bemerkt, dass er nichts spüre. Er habe den Vorgang: „Meine Frau küssen“ einfach erledigt, quasi abgearbeitet.

Die Sache machte ihn völlig perplex. Auf dem Weg zurück zur Klinik überlegte er, wann er das letzte Mal gelacht hatte und konnte sich nicht mehr daran erinnern. Dabei funktioniere er nach außen insgesamt recht gut, sagte er. „Wie ein Roboter, eine Art „Chef-Roboter“, beschrieb er. Wenn er so weitermache, höre er bald das Quietschen seiner Scharniere. „Meine Güte. Ich lebe, und bekomme es nicht mit.“ Ich erwähnte, dass innere Distanzierung kurzfristig eine hilfreiche Methode sei, um innerlich mit Erschöpfung umzugehen. Nichts zu spüren sei dann von Vorteil. Langfristig sei das jedoch keine gute Idee.

Dann fragte ich ihn, wie er denn stattdessen sein wolle. Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Er wolle leben, den Kuss seiner Frau spüren, mit seinem Sohn durchs Haus toben. Ein Chef und Arzt sein, der da ist, zeitlich und mental und sich selbst nicht mehr so wahnsinnig ernst nimmt. Lachen, spüren, was ist. Den Roboter könne er gut während der Chefarztsitzungen brauchen, diese seien eher langweilig, aber sonst eigentlich nicht.

Humor und Meditationstechniken

Ich fragte ihn, was ihn denn davon abhalte, genau dies zu tun. Er nahm sich Zeit mit der Antwort. „Der Einzige, der mich davon abhält zu leben, bin ich.“ Das sei einen Versuch wert, meinte er. „Wenn ich so weitermache, liege ich irgendwann auf der Nase und verliere meine Frau.“ Nachdem wir eine Weile schweigsam nebeneinander hergegangen waren, fragte ich ihn, was er nun als Nächstes vorhabe. „Ich fahre nach Hause und probiere die Sache mit dem Kuss noch mal. Und diesmal bin ich mit dabei!“

Am nächsten Morgen sah Dr. Neubauer etwas übernächtigt aus, strahlte aber über das ganze Gesicht. Am Nachmittag sah ich ihn, wie er bei der Einleitung einer Narkose einen kleinen Jungen mit einem aufgeblasenen Handschuh zum Kichern brachte. In den folgenden Monaten spezialisierte er sich darauf, Menschen innerhalb weniger Minuten zum Lachen zu bringen. Dies brachte ihm die Sympathie seines Teams ein. Die Menschen begannen, ihn zu mögen.

Einige Monate später sah ich ihn, als er vor dem Betreten eines Patientenzimmers kurz in seiner Bewegung verharrte. Auf meine Frage, was er denn da mache, entgegnete er: „Ich möchte präsent sein, wenn ich mit Patienten rede. Also wende ich einfache Meditationsmethoden an, bevor ich in ein Gespräch gehe. Ich konzentriere mich kurz darauf, wie ich ein- und ausatme. Das fühlt sich gut an, macht meinen Kopf leer und sorgt für Präsenz. Sollten Sie auch mal probieren!“

Mehr Komplexität, nachhaltigere Lösungen

Ein Jahr später saß er nachdenklich in der Küche der Anästhesie. Seitdem er mehr mitbekomme, denke er viel mehr nach, sagte er. So manche Dinge könne er nun nicht mehr ignorieren. Aktuell habe er einen Assistenzarzt mit einem Alkoholproblem. Früher habe er diesen einfach gekündigt. Im Moment denke er darüber nach, den Kollegen vom Dienst freizustellen, falls dieser sich in Behandlung begebe und seine Sucht in den Griff bekomme. „Die Dinge werden erheblich komplizierter, wenn man das Leben an sich ranlässt, aber man findet bessere Lösungen. Nachhaltigkeit und Menschlichkeit spielen plötzlich eine viel größere Rolle!“

Mit zunehmendem Mut und verbessertem Gespür für sich selbst und andere veränderte sich Dr. Neubauer ganz elementar:

  • Er hörte besser zu und fragte häufiger nach.
  • Er wurde intoleranter gegenüber schlechten Lösungen.
  • Er traute sich immer häufiger, seine Meinung zu sagen.
  • Und er schaffte es immer besser, dabei den richtigen Ton zu treffen.

Ruf als guter Chef und Krisenmanager

All dies führte dazu, dass sich die Beziehungen von Dr. Neubauer innerhalb und außerhalb der Klinik verbesserten. Er erwarb sich den Ruf als guter Chef und Krisenmanager. Es fiel auf, dass sich mehrere ärztliche Kolleginnen und Kollegen bei der Klinik bewarben, weil sie mit Dr. Neubauer arbeiten wollten. Die Patientenzahlen stiegen. Letztlich wurde er Chefarzt der Klinik.

Ein Jahr nach seinem Start als Chefarzt traf ich ihn auf einem Kongress wieder. „Das Leben ist viel größer als wir selbst“, sagte er. „Wenn man das mal verstanden hat, nimmt man sich selbst nicht mehr so ernst. Um das auszuhalten, brauche man eine Menge Hirn, Humor und Lebendigkeit, sagte Dr. Neubauer. Doch wenn das zum eigenen Anker werde, sehe man, wie großartig eigentlich alles sei, auch wenn man mal scheitere. „Das ist eine recht gute Basis, um ein guter Chef und akzeptabler Lebenspartner und Vater zu sein“, schilderte er seine Erfahrungen. „Ich hätte das Leben verpasst, wenn ich mich damals nicht entschieden hätte, den Roboter abzulegen. Der macht für mich jetzt nur noch die Aufsichtsratssitzungen.“

Die Autorin

Dipl.-Psych. Gabriele Schuster
Athene Akademie
97072 Würzburg

Dtsch Arztebl 2022; 119(24): [2]

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