
Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist kein nationales Projekt mehr – sie ist europäisch. Mit dem European Health Data Space (EHDS) will die EU nicht weniger als einen gemeinsamen Datenraum für Gesundheit schaffen. Was nach großer Vision klingt, hat ganz konkrete Auswirkungen: auf Krankenhäuser, auf Ärztinnen und Ärzte, die darin arbeiten – und vor allem auf den Alltag in der Patientenversorgung.
Spätestens seit Inkrafttreten der EHDS-Verordnung im Frühjahr 2025 ist klar: Die Zeit der Datensilos geht zu Ende. Was einst in Brüssel formuliert wurde, wird jetzt in den Ländern Realität – und verändert den Umgang mit medizinischen Daten grundlegend.
Der EHDS ist der Versuch, die bisher stark fragmentierte europäische Gesundheitsdatenlandschaft zu harmonisieren. Ziel ist es, medizinische Daten sicher, interoperabel und grenzüberschreitend nutzbar zu machen – sowohl für die unmittelbare Versorgung (Primärnutzung) als auch für Forschung, Innovation und Gesundheitspolitik (Sekundärnutzung). Damit das gelingt, braucht es nichts weniger als eine neue Datenkultur: weg von proprietären Insellösungen, hin zu vernetzten Räumen der Zusammenarbeit.
Die Klinik als Datenakteur: Neue Aufgaben, neue Möglichkeiten
Für Krankenhäuser und medizinisches Personal treibt die Installation des EHDS einen Paradigmenwechsel und damit verbunden eine für sie neue Rolle voran: Sie sind nicht mehr nur Versorgende, sondern auch Datenliefernde. Gleichzeitig profitieren sie von einem besseren Zugriff auf strukturierte, standardisierte Informationen.
Ärztinnen und Ärzte können dadurch schneller auf Vorbefunde zugreifen, Doppeluntersuchungen vermeiden und Diagnosen präziser stellen. Insbesondere bei grenzüberschreitender Versorgung, etwa bei Urlaubsrückkehrenden oder zugezogenen Personen, können vorhandene Behandlungsdaten einfach eingesehen werden – sofern technisch und rechtlich alles vorbereitet ist. Auch Forschungsvorhaben profitieren: Der Zugriff auf vielfältige Daten beschleunigt Entwicklungen – von der klinischen Studie bis zur Versorgungsevaluation.
Für IT-Abteilungen in Kliniken bedeutet das: Die eigene Infrastruktur muss interoperabel werden. Datenschnittstellen müssen geschaffen, Formate vereinheitlicht und Prozesse neu gedacht werden. Wer jetzt investiert, kann später davon profitieren – etwa, wenn es um Anbindung an europäische Forschungsprojekte oder nationale Register geht.
Kasten: Was ist der EHDS konkret?
- Verordnung der EU (seit 2025 in Kraft)
- Ziel: Grenzüberschreitende Nutzung von Gesundheitsdaten in Europa
- Zwei Nutzungsarten: Primärnutzung (Versorgung) und Sekundärnutzung (Forschung, Innovation, Public Health)
- Verpflichtend für alle Mitgliedstaaten – mit Übergangsfristen von vier Jahren
Sekundärnutzung: Daten für Forschung und Innovation
Ein zentrales Element des EHDS – und für viele Kliniken zugleich der größte Hebel – ist die Sekundärnutzung von Daten. Gemeint ist: Daten, die im Versorgungsalltag entstehen, sollen für wissenschaftliche Zwecke weiterverwendet werden können, etwa für die Erforschung neuer Therapien, die Verbesserung der Versorgung oder die Entwicklung digitaler Werkzeuge – die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig solche Tools sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene sind.
In Deutschland wird diese Aufgabe vom Forschungsdatenzentrum Gesundheit (FDZ) koordiniert. Hier laufen Anfragen zusammen, werden prüfbar gemacht und in pseudonymisierter Form bereitgestellt. Für Kliniken heißt das: Die Datenqualität gewinnt an strategischer Bedeutung. Gut dokumentierte, strukturierte Daten sind nicht länger nur für die Abrechnung relevant, sondern werden Teil eines größeren öffentlichen Auftrags.
Der zeitliche Rahmen für die Anpassung der eigenen Strukturen an die durch den EHDS geforderten Anforderungen ist eng gesetzt und das setzt die Gesundheitseinrichtungen unter Druck. Doch es gibt auch eine gute Nachricht: Auch Rückflüsse sind möglich. Kliniken, die Daten liefern, können von den Erkenntnissen profitieren. Forschungsnahe Häuser können sich als Standort für klinische Studien oder Innovationsprojekte etablieren. Und letztlich hilft der strukturierte Umgang mit Daten auch im eigenen Haus: zur Qualitätssicherung, zur Prozessoptimierung und zur gezielten Ansprache von Patientengruppen.
Das Forschungsdatenzentrum Gesundheit (FDZ)
- Nationale Schnittstelle für die wissenschaftliche Nutzung von Versorgungsdaten
- Sitz beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)
- Pseudonymisierung, Datenschutz und klare Zugriffsrechte
- Beteiligte: Forschungseinrichtungen, Universitätskliniken, Krankenkassen, Medizinproduktehersteller
Datenkultur – ein stiller Wandel mit weitreichenden Folgen
Der European Health Data Space bringt nicht nur neue Infrastrukturen, sondern verändert grundlegend den Blick auf medizinische Daten. Wo früher Daten vor allem als Dokumentationspflicht galten – oft mit dem Ziel der Abrechnung oder als juristische Absicherung –, rücken nun Fragen der strategischen Nutzung, Verknüpfbarkeit und sekundären Verwertbarkeit in den Vordergrund.
Für Krankenhäuser bedeutet das: Daten sind nicht mehr nur Verwaltungsprodukt, sondern ein klinisches Kapital. Wer sie strukturiert, standardisiert und bewusst erhebt, kann daraus Erkenntnisse gewinnen, Versorgung verbessern und sich als forschungsnahe Einrichtung positionieren.
Doch auf dem Weg zu dieser neuen Datenkultur wird die ohnehin unbeliebte Dokumentation erst einmal noch wichtiger – und strikter. Denn damit Daten interoperabel, vergleichbar und weiterverwertbar werden, müssen sie nach festen, standardisierten Schemata erfasst werden. Was medizinisch sinnvoll ist, kann sich in der Praxis als Hürde anfühlen: weniger Freitext, mehr Kästchen. Weniger individuelle Formulierungen, mehr strukturierte Felder.
Gerade Ärztinnen und Ärzte, die Wert auf Autonomie und persönliche Verantwortung legen, empfinden das schnell als Bevormundung. Die Sorge: Medizinische Freiheit wird zugunsten von Statistik geopfert. Um dem zu begegnen, braucht es nicht nur Schulung, sondern eine andere Erzählung über Dokumentation. Wer versteht, dass strukturierte Datenerfassung nicht Kontrolle, sondern Teil guter Versorgung ist – auch im Sinne von Forschung, Versorgungsqualität und sektorübergreifender Zusammenarbeit – kann sich damit eher identifizieren.
Diese Veränderung verlangt Offenheit. Wie bei jeder tiefgreifenden Transformation gibt es Reibung, Unbehagen und Skepsis. Aber gerade Ärztinnen und Ärzte sind es gewohnt, mit Unsicherheit umzugehen – sie wägen ab, beobachten, passen an. Genau diese Haltung braucht es jetzt: nicht pauschales Dagegenhalten, sondern konstruktive Beteiligung. Denn dass der EHDS kommt, steht fest. Ob er als Zumutung oder als Chance erlebt wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie man ihm begegnet.
Der EHDS ist kein kurzfristiges IT-Projekt. Er markiert einen Kulturwandel im Umgang mit medizinischer Information. Und Ärztinnen und Ärzte tun gut daran, ihn aktiv mitzugestalten. So können sie langfristig profitieren: durch bessere Patientenbindung, gezieltere Versorgung, innovationsfreundlichere Strukturen und eine stärkere Verankerung in dem, was künftig europäische Gesundheitsversorgung ausmachen wird.