Ein Krankenhaus ohne Ärztinnen und Ärzte: Chinas KI-Experiment und die Zukunft der Medizin

13 November, 2025 - 07:45
Miriam Mirza
Futuristischer Roboter analysiert holografische Darstellung eines menschlichen Körpers in einer technologischen Umgebung.

In China entsteht das erste vollständig virtuelle Krankenhaus. Das Agent Hospital der Tsinghua-Universität wird von künstlicher Intelligenz betrieben und simuliert komplette Behandlungspfade ohne menschliches Personal. Während das Projekt in Peking als technologischer Meilenstein gefeiert wird, wirft es Fragen nach Verantwortung, Ethik und Vertrauen auf. Es zeigt, wie unterschiedlich China und Europa den Einsatz von KI in der Medizin verstehen.

Virtuelle Medizin "made in China"

In Peking ist kürzlich ein Ort entstanden, der aussieht wie die Zukunft. An der Tsinghua-Universität haben Forschende ein vollständig virtuelles Krankenhaus entwickelt, das Agent Hospital. Hier praktizieren keine Menschen, sondern Algorithmen in Form von KI-Agenten. Sie führen Anamnesen, stellen Diagnosen, empfehlen Therapien und begleiten Patientinnen und Patienten digital.

Die KI-Agenten des Agent Hospital simulieren im virtuellen Raum den gesamten Versorgungsprozess von der Aufnahme über die Triage bis hin zur Therapie und Nachsorge. Über vierzig KI-Ärzte decken einundzwanzig Fachrichtungen ab, sie trainieren an virtuellen Patientinnen und Patienten und lernen aus ihren Fehlern. Offenbar mit Erfolg: In Tests erreichte das System eine Diagnosegenauigkeit von rund 93 Prozent, höher als viele der bislang eingesetzten Assistenzsysteme.

05.12.2025, MVZ OSG Augenzentrum Lüdenscheid
Lüdenscheid
05.12.2025, German Medicine Net
Kassel

Besonders ist die geschlossene Simulation. KI-Agenten trainieren an virtuellen Patientinnen und Patienten, statt Risiken mit echten Menschen einzugehen. Diese Lernplattform soll die Entwicklung und Skalierung medizinischer KI massiv beschleunigen. Der Anspruch, KI als integralen Bestandteil von Kliniksoftware einzubauen und ärztliche Entscheidungen systematisch zu unterstützen, geht weit über die meisten internationalen Ansätze hinaus. Das Ganze klingt nach Science-Fiction, doch das Projekt ist real und es zeigt, wie schnell sich die medizinische Landschaft verschiebt.

Der chinesische Ansatz: Geschwindigkeit statt Vorsicht

Das Besondere am chinesischen Modell ist sein radikaler Anspruch. Es zielt nicht darauf ab, KI als Werkzeug oder Entscheidungshilfe in Kliniken einzubauen, sondern als autonomes System, das ärztliche Rollen vollständig abbildet. Das System generiert Millionen virtueller Fallverläufe, an denen es selbst lernt.

In einem Land, in dem Versorgungsunterschiede zwischen Stadt und Land groß sind, erscheint diese Strategie nachvollziehbar. Sie könnte helfen, Diagnostik und Behandlung dorthin zu bringen, wo bislang kein Fachpersonal verfügbar ist. Gleichzeitig wächst die Gefahr, dass Effizienz zum Selbstzweck wird und medizinische Verantwortung in Algorithmen ausgelagert wird, deren innere Logik kaum jemand nachvollziehen kann.

Was ist das Agent Hospital in China?

Das Agent Hospital der Tsinghua-Universität in Peking ist das erste vollständig virtuelle Krankenhaus der Welt. Es wird von künstlicher Intelligenz betrieben und simuliert den gesamten medizinischen Behandlungsprozess, einschließlich Anamnese, Diagnose, Therapie und Nachsorge. Mehr als vierzig virtuelle Ärztinnen und Ärzte aus einundzwanzig Fachrichtungen trainieren an digitalen Patientinnen und Patienten. Das System erreicht nach Angaben der Forschenden eine Diagnosegenauigkeit von rund dreiundneunzig Prozent. Ziel des Projekts ist es, die Entwicklung medizinischer KI zu beschleunigen und Versorgungslücken zu schließen, insbesondere in Regionen mit Fachkräftemangel.

Deutschland: Fortschritt mit Sicherheitsnetz

Auch in Deutschland schreitet der Einsatz von KI in der Medizin voran, aber in kontrollierten Schritten. Projekte wie das Virtuelle Krankenhaus NRW oder SmartHospital.NRW setzen auf vernetzte Strukturen, die Fachwissen digital bündeln und Prozesse in Kliniken unterstützen. KI analysiert Röntgenbilder, schlägt Therapieoptionen vor oder priorisiert Notfälle, doch Entscheidungen treffen weiterhin Ärztinnen und Ärzte.

Die Bundesärztekammer betont in ihrem Positionspapier „Von ärztlicher Kunst mit Künstlicher Intelligenz“, dass ärztliche Verantwortung und Urteilsvermögen nicht delegierbar sind. Auch das Gesundheitsdatennutzungsgesetz und die elektronische Patientenakte schaffen Grundlagen für datengetriebene Medizin, aber unter strengen ethischen und rechtlichen Bedingungen. Während China auf Skalierbarkeit und Geschwindigkeit setzt, verfolgt Deutschland den Weg der schrittweisen Integration. Dort Revolution, hier Evolution.

Neue Rollen, neue Lücken

Wenn KI-Ärzte ganze Behandlungspfade übernehmen, stellt sich die Frage, wer die menschliche Lücke füllt, die dadurch entsteht. Ärztinnen und Ärzte müssen künftig Kompetenzen entwickeln, die jenseits reiner Wissensvermittlung liegen: Kommunikation, Kontextverständnis, Beziehungsgestaltung und die Fähigkeit, ethische Dilemmata zu erkennen. Doch wer vermittelt diese Fähigkeiten, und wer definiert künftig, was ärztliche Kompetenz bedeutet?

Bislang sind medizinische Curricula stark auf Faktenwissen, Diagnostik und technische Fertigkeiten ausgerichtet, also genau auf jene Bereiche, in denen KI-Systeme zunehmend besser werden. Der eigentliche Paradigmenwechsel könnte darin bestehen, Medizin künftig von einem neuen Ausgangspunkt aus zu denken. Nicht mehr vom Menschen hin zur Maschine, sondern von der Maschine hin zum Menschen. Was KI kann, bildet die Basis. Was sie nicht kann, wird zur neuen ärztlichen Aufgabe.

Damit verändert sich nicht nur die Ausbildung, sondern auch die Identität eines Berufsstands, der sich traditionell über Wissen, Autorität und Entscheidungshoheit definiert. Wenn diese Säulen erodieren, müssen andere entstehen: Empathie, Urteilskraft und moralische Integrität. Doch auch hier stellt sich die Frage, ob diese Lücke ausschließlich von Ärztinnen und Ärzten gefüllt wird oder ob neue Berufsrollen entstehen, die zwischen Technik und Patient vermitteln, beispielsweise digitale Navigatoren, Gesundheitspsychologinnen oder Ethikberater.

Welche Rolle spielt Europa im Umgang mit KI in der Medizin?

Europa verfolgt beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Medizin einen vorsichtigeren, stärker regulierten Ansatz als China. Projekte wie das Virtuelle Krankenhaus NRW oder SmartHospital.NRW setzen auf schrittweise Integration und behalten ärztliche Verantwortung bei. Regulierung wird in Europa als Ressource verstanden, die ethische Standards und Transparenz sichert. Diese Strategie zielt darauf ab, den technologischen Fortschritt mit menschlicher Verantwortung zu verbinden. Dadurch kann Europa ein glaubwürdiges Gegenmodell zu Systemen schaffen, die Geschwindigkeit über Sicherheit stellen.

Ethische Fragen, die bleiben

Das chinesische Experiment rührt an Grundfragen der Medizin. Wer trägt Verantwortung, wenn eine KI eine Fehldiagnose stellt? Wie transparent sind ihre Entscheidungen? Können Algorithmen Mitgefühl lernen oder nur Muster erkennen?
Diese Fragen betreffen längst nicht mehr nur China. Auch in europäischen Kliniken entstehen Systeme, die klinische Entscheidungen vorbereiten oder steuern. Die Versuchung ist groß, sich auf ihre Effizienz zu verlassen. Doch Vertrauen ist kein Code. Es entsteht nicht durch Rechenleistung, sondern durch Integrität auf der Seite derjenigen, denen es entgegengebracht wird.

Wenn Gesundheitsdaten zum Wirtschaftsgut und medizinische Entscheidungen zur Frage von Software-Versionen werden, steht mehr auf dem Spiel als technische Machbarkeit. Dann geht es um die Definition von Menschlichkeit in der Medizin.

Von der Angst zur Gestaltungsfrage

Der entscheidende Unterschied liegt darin, ob wir den technologischen Wandel als Bedrohung oder als Gestaltungsraum begreifen. Die Überlegung ist dann nicht, was Ärztinnen und Ärzte verlieren, sondern was sie gewinnen können, wenn Maschinen Routinearbeit übernehmen. Vielleicht entsteht gerade dadurch mehr Raum für die menschlichen Qualitäten, die in der Medizin nie automatisierbar sein werden: Vertrauen, Empathie und Urteilskraft.

Auch Europas Rolle lässt sich lösungsorientiert betrachten. Regulierung ist kein Zeichen von Schwäche, sondern eine Ressource. Sie schützt vor blinder Geschwindigkeit und ermöglicht, ethische Standards aktiv zu gestalten. Europas Stärke liegt möglicherweise genau darin, den technologischen Fortschritt mit Verantwortung zu verbinden und so ein glaubwürdiges Gegenmodell zu schaffen, das Menschlichkeit als Innovationsfaktor begreift.

Fazit

China erzeugt mit Projekten wie dem Agent Hospital einen Innovationsdruck, der kaum ignoriert werden kann. Doch Europa kann zeigen, dass Fortschritt und Werte keine Gegensätze sind. Vielleicht liegt die Zukunft der Medizin nicht darin, dass Maschinen den Menschen ersetzen, sondern darin, dass sie ihn spiegeln.

Die entscheidende Frage lautet nicht, wie intelligent eine KI ist, sondern wie weise wir mit ihr umgehen. Denn Wissen kann berechnet werden, Verständnis nicht. Vielleicht beginnt die Medizin der Zukunft genau dort, wo wir aufhören, Angst vor der Maschine zu haben, und beginnen, Verantwortung für das zu übernehmen, was sie aus uns macht.

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