Brustkrebsfrüherkennung mit „discovering hands“

29 Januar, 2020 - 14:53
Lukas Hoffmann
Gynäkologin tastet Frau ab und erklärt zweiter Ärtzin wie es geht
Jessica van Bebber (Mitte) ist beinah erblindet, dafür sind ihre Fingerspitzen besonders sensibel.

Wenn blinde Menschen einen hochsensiblen Tastsinn haben, können sie Knötchen in der Brust besser ertasten als Ärzte. Den Duisburger Frauenarzt Dr. Frank Hoffmann brachte das auf eine Idee.

Innovationen sind immer Antworten auf Fragen. Zum Beispiel Fragen wie diese: Wie kann Brustkrebs bei jungen Frauen früher diagnostiziert werden? Bei Patientinnen unter 50 Jahren ist das Mammographie-Screening nämlich keine gesetzliche Vorsorgeleistung, obwohl jedes Jahr mehr als 10.000 Frauen in dieser Altersklasse an Brustkrebs erkranken.

Dr. Hoffmann dachte darüber nach, wie man diese Versorgungslücke schließen kann. Blinde Menschen sind auf ihren Tastsinn im Alltag angewiesen, dementsprechend gut ist er ausgebildet. Auf der anderen Seite trauen ihnen manche Arbeitgeber wenig zu, eine höhere Arbeitslosigkeit ist die Folge. Bei Frauenärzten ist es genau umgekehrt: Ohne Multitasking ist der durchgetaktete Arbeitsalltag nicht zu schaffen. Für das Ertasten der Brust bleiben bei der Kontrolluntersuchung oft nur wenige Minuten Zeit.

Die einen haben mehr Zeit, die anderen weniger. Die einen haben einen geschulten Tastsinn, bei den anderen ist er nur einer von sechs. Die Idee für eine Fortbildung zur Medizinisch-Taktilen Untersucherin (MTU) war geboren.

Medizinisch-Taktile Untersucherinnen ertasten Knötchen in der Brust

2011 gründete Dr. Hoffmann die gemeinnützige Unternehmensgesellschaft disovering hands. Das Herzstück des Unternehmens ist die Fortbildung blinder oder nahezu erblindeter Menschen zur MTU. Gelernt wird während der neun Monate nicht nur das Ertasten von Knötchen in der Brust. MTUs erheben eigenständig Anamnesen und dokumentieren Befunde, deshalb müssen sie Fachterminologien und das Medizinische Schreiben beherrschen. Auch die Patientenkommunikation ist ein Schwerpunkt der Ausbildung, schließlich verbringen MTUs mit den Patienten viel Zeit. Bis zu einer Stunde dauert die Tastuntersuchung.

Die Düsseldorferin Jessica van Bebber hat die Fortbildung absolviert. Zwei Mal pro Woche arbeitet sie in der Praxis der Frauenärztin Dr. Scheele-Pescheny. Am Morgen fährt sie mit Bus und Bahn eineinhalb Stunden hin, am Abend die gleiche Strecke wieder zurück. Der Blindenstock hilft ihr, durch das Gedränge zu kommen. Aber nicht immer verläuft die Anreise problemlos. Weil sie die Nummer auf den Bussen nicht lesen kann, muss sie stets den Busfahrer nach der Fahrtrichtung fragen. „Manchmal antwortet er nicht. Dann höre ich von einer Passantin: Er hat genickt“. Ein anderes Mal wurde sie von jemandem kommentarlos gepackt und in eine Bahn geleitet. Sie wusste dann nicht, wohin es ging und ob sie in der richtigen Bahn war. „Aber meistens gibt es keine Probleme“, so Jessica van Bebber. „Ich habe das Gefühl, es sind inzwischen mehr Menschen für das Thema Blindheit sensibilisiert.“

Von kleinen Schwierigkeiten bei der Anreise würde sie sich ohnehin nicht abbringen lassen, ihrem Beruf als MTU nachzugehen. Eigentlich ist sie gelernte Fremdsprachenkorrespondentin. Aber nachdem ihre beiden Kinder auf die Welt gekommen waren, fand sie keine neue Stelle. Dass sie lesen und am Computer arbeiten kann, glaubten ihr die potenziellen Arbeitgeber nicht so recht. Sie erfuhr von der Fortbildung zur MTU, meldete sich mit klopfendem Herzen für die Eignungsprüfung an, durchlief das einwöchige Assessment und bestand die Prüfungen. Das ist keine Selbstverständlichkeit. „Einige der Menschen mit reduzierter Sehkraft haben keinen besonderen Tastsinn, zum Beispiel wenn sie an der Zuckerkrankheit leiden - dann können sie nicht an der Fortbildung teilnehmen“, so Dr. Hoffmann.

Die MTU stellt keine Diagnose, das macht der Facharzt

In der Praxis von Dr. Scheele-Pescheny hat Jessica van Bebber einen eigenen Raum, in dem sie ihre Patientinnen und Patienten untersucht. Für eine Tastuntersuchung klebt sie selbstklebende patentierte Orientierungsstreifen auf die Brust, so weiß sie, welche Wege ihre Fingerspitzen nehmen müssen. Wenn sie ein Knötchen ertastet, werden weitere Untersuchungen eingeleitet. „Die Medizinisch-Taktile Untersuchung ergänzt die ärztliche Leistung“, sagt Dr. Hoffmann. „Sie ersetzt sie nicht. Denn eine MTU stellt keine Diagnose, das macht der Facharzt.“

Insbesondere für jüngere Patientinnen hat die Untersuchung der MTU einen entscheidenden Vorteil: Die 46,50 Euro für die Tastuntersuchung werden von vielen Versicherungen getragen. Eine Mammographie „zur Vorsorge“, also ohne konkreten Tastverdacht, gibt es außerhalb des Screenings nicht. Aber auch für manche ältere Frauen hat die Untersuchung ihren Reiz. Eine Stunde ist viel Zeit, auch wenn sie den meisten nicht lange vorkommt. „Viele Patientinnen erzählen gerne, dann höre ich zu“, sagt Jessica van Bebber.

Wenn Praxis- und Klinikbetreiber eine MTU einsetzen wollen, fragen sie bei discovering hands an, denn die MTUs sind dort angestellt. Der Praxisbetreiber bezahlt dann ein Stundenhonorar für die MTU und die Einweg-Streifen, die bei jeder Untersuchung verwendet werden. Sehr lukrativ ist das für den Praxisbetreiber nicht, aber Ärztinnen oder Ärzten, die MTUs einsetzen, geht es auch nicht ums Geld. Frau Dr. Scheele-Pescheny bewertet die Tastuntersuchung als ein gutes Zusatzangebot. Bis jetzt habe sie sehr viel positives Feedback von ihren Patientinnen erhalten.

Auch international findet das Modell der "discovering hands" Beachtung. In Indien haben in diesem Jahr die ersten acht MTUs die Fortbildung bestanden. Auch Kooperationsverträge mit Mexiko, Brasilien und Österreich gibt es. Ein Ziel für die nächsten Jahre: „Bis 2020 sollen 100 MTUs im Einsatz gegen Brustkrebs sein“, so Dr. Hoffmann. Und welche Ziele hat Jessica van Bebber? „Ich würde am liebsten an mehr als zwei Tagen in der Woche arbeiten. Die Patientinnen sind oft so dankbar, es macht richtig Spaß!“

Dieser Beitrag erschien zuerst auf operation-karriere.de, dem Online-Portal des Deutschen Ärzteverlags für Medizinstudenten und Berufseinsteiger (27.12.2018).

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