
Seit mehr als 30 Jahren betreut der Berliner Hausarzt Michael Latzke HIV-Infizierte. Er erzählt, was das heute für seinen praktischen Alltag bedeutet und informiert über neue Gefahren.
Mitten im lebendigen Zentrum der Hauptstadt, in Berlin-Mitte, befindet sich der Arbeitsplatz des niedergelassenen Hausarztes Michael Latzke, eine HIV-Schwerpunktpraxis. Das heißt, neben Berlinerinnen und Berlinern, die wegen Bluthochdruck oder Magen-Darm im Wartezimmer sitzen, tragen etliche seiner Patientinnen und Patienten das Virus in sich. „Die Betroffenen können inzwischen ganz normal leben. Sie arbeiten, treiben Sport und haben wegen der guten Therapien eine Lebenserwartung wie jeder andere Mensch. Alles hat sich ein bisschen normalisiert…“, schildert der 58-jährige.
Leben mit HIV: Eine Pille pro Tag
Das Portfolio an wirksamen Medikamenten ist groß. Diese werden individuell angepasst und zeigen in der Regel kaum Nebenwirkungen. Die wohl erfolgreichsten sind zurzeit die sogenannten Integrasehemmer, welche die Vermehrung des Virus behindern. „In der Regel genügt eine Pille pro Tag“, betont Latzke. Und noch mehr hat sich zum Guten gewendet. So zählen beispielsweise Bluter nicht mehr zur Risikogruppe. Ihre Gerinnungsmedikamente werden mittlerweile ohne Blutspenden hergestellt – wobei man diese ohnehin effektiv kontrolliert.
All das hat zur Folge, dass der Zeitaufwand für Allgemeinmediziner für diese Patienten in der Regel heute nicht mehr größer ist als für andere. Leber-, Nieren- und sonstige Blutwerte werden einmal im Quartal kontrolliert sowie die Anzahl der T-Helferzellen gecheckt. „Viele kommen daher nur alle drei Monate in die Sprechstunde, wollen die Ergebnisse wissen, holen sich ein neues Rezept und sind dann sofort wieder draußen. Eine besondere Betreuung ist sehr häufig nicht mehr nötig“, schildert der engagierte Hausarzt.
Mehr Patienten aus Osteuropa
Seine HIV-Patienten kommen in der Regel über Mundpropaganda und Anzeigen in Szeneblättern wie der „Siegessäule“ zu ihm. Inzwischen ist diese Klientel sehr divers. „Das geht bei mir quer durch alle Schichten und jedes Alter. Mein jüngster Patient war 19, der älteste ist in diesem Jahr 71 geworden. In der Mehrzahl sind es schwule Männer, aber es sind auch einige heterosexuelle Frauen darunter. Die meisten sind Deutsche, aber es kommen auch verstärkt Menschen mit Migrationshintergrund zu mir.“ Und hier gibt es neue Herausforderungen: „Zum Beispiel werden in Russland HIV-Patienten immer noch extrem stigmatisiert. Der dortigen Regierung ist auch nicht sehr daran gelegen, die Infektionen zu entdecken. Daher kommen viele, die schon fortgeschritten erkrankt sind, nach Deutschland. Solche Tendenzen nehmen zu ...“, erzählt der Mediziner.
Generell darf der medizinische Fortschritt nicht so verstanden werden, dass die Infektion harmlos geworden sei, warnt Latzke. Unbehandelt oder spät erkannt, bleibt sie nach wie vor gefährlich. Davon betroffen sind auch Drogensüchtige, die schlichtweg nicht in der Lage sind, kontinuierlich und sorgfältig ihre Medikamente einzunehmen. Auch gibt es einige wenige Menschen, welche die Ansteckung nicht mitbekommen und erst mit fortgeschrittenen Symptomen zum Arzt gehen. „Das sind die sogenannten ‚Late Presenter‘“, informiert Latzke. Allerdings sind diese Gruppen eher klein. Insgesamt 96 Prozent der Infizierten werden hierzulande therapiert. „Aidskranke bekomme ich daher so gut wie gar nicht mehr zu Gesicht“, so der Experte.
Entsetzliches Leid
Das war früher ganz anders. Latzke, der seine Praxis 2010 eröffnete, aber manche seiner Patienten schon seit über 20 Jahren kennt, weiß, wovon er spricht. Bereits 1991 engagierte er sich in der ambulanten Pflege Aidskranker: „Das große Sterben hat mich damals stark bewegt. Zudem betraf die Aids-Krise mich als schwulen Mann selbst, da Freunde und Bekannte erkrankten. Ich bin da quasi organisch hineingewachsen. Als die medikamentösen Therapien noch in den Kinderschuhen steckten, gab es unfassbares Leid. Ich sah ganz entsetzliche und schlimme Verläufe, die meine jungen Kollegen fast nur noch vom Hörensagen oder aus dem Lehrbuch kennen.“ Unvergessen sind für ihn bis heute die Bilder von jungen Menschen, die vollkommen abgemagert und oft durch Hauttumore extrem entstellt, nur noch auf den Tod warteten. „Schlimm war, dass man den Patienten so gut wie nicht helfen konnte. Viel mehr als ein wenig Schmerzlinderung war nicht drin“, sagt er rückblickend.
Wie wird man HIV-Experte?
Im Mai 2021 beschloss der Deutsche Ärztetag, auch als Reaktion auf Covid-19, die Einführung der Ausbildung zum „Facharzt für Innere Medizin und Infektiologie“. Zukünftig erhalten damit Mediziner, die insbesondere HIV-Patienten helfen wollen, eine spezifische Ausbildung. Zurzeit befindet sich dies allerdings noch im Planungsstadium.
Davon unbetroffen ist die bisher übliche Zusatzweiterbildung zur Infektiologie. Sie wird weiterhin angeboten. Nähere Informationen dazu bieten die Landesärztekammern. Mediziner, die zum Teil seit Jahrzehnten HIV-Betroffene unterstützen, sollen ihre Patienten weiterversorgen dürfen. Denn ein Problem zurzeit ist, dass viele der Ärzte, die in der Aids-Krise tätig wurden, heute dem Ruhestand entgegensehen. Es deutet sich daher ein Nachwuchsproblem an.
Auch das damalige gesellschaftliche Klima kann man nicht mit dem aktuellen vergleichen. Zum häufigen Todesurteil kam soziale Ablehnung. Manche konservativen Kreise diskutierten sogar über „spezielle Heime“ nur für Aids-Kranke – weshalb viele Menschen Internierungslager befürchteten. Auch schickten die Behörden diese Patienten damals oft direkt in Frührente – ganz unabhängig davon, ob sich ihr Zustand besserte. „Jetzt ist die Akzeptanz zwar viel größer, aber ein gewisses Stigma ist leider auch in unserer offenen Gesellschaft nach wie vor vorhanden. Ich habe immer noch Patienten, die sich am Arbeitsplatz nicht outen wollen…“, fasst Latzke die Lage zusammen.
Auch wurden die Hämotherapierichtlinien zuletzt im September 2021 angepasst. Erst seitdem dürfen Männer, die Sex mit Männern haben (MSM) und seit mindestens vier Monaten in einer monogamen Partnerschaft leben, Blut spenden.
Und manchmal kann sogar der medizinische Fortschritt Folgeprobleme schaffen. So gibt es – seit 2019 auf Kassenrezept – das sogenannte PrEP, die Prä-Expositions-Prophylaxe. Präventiv eingenommen schützt dies mit einer Sicherheit von etwa 95 Prozent vor einer HIV-Infektion. Allerdings ist Safer Sex für Teile der schwulen Community damit eher unwichtig geworden. Latzke erläutert dazu: „Dann gibt es eben Sex ohne Kondom. Daher haben wir eine deutliche Zunahme der klassischen Geschlechtskrankheiten wie Gonorrhoe und Syphilis.“
Es ist nicht vorbei
Im Gegensatz zur westlichen Welt hat Aids in vielen anderen Regionen der Erde nichts an Dramatik verloren. 2020 starben global etwa 680.000 Menschen daran, hauptsächlich in Afrika. Die Gründe: Weltweit besitzt etwa ein Viertel der Betroffenen keinen Zugang zu Medikamenten. Auch dürfte die anhaltende soziale Ächtung in manchen Kulturen Betroffene bis heute vom Arztbesuch abhalten. Latzke resümiert angesichts von insgesamt etwa 38 Millionen infizierten Menschen: „HIV wird bleiben. Wir können die Infektion nur mit Medikamenten in Schach halten. Aber wir haben sie heute wirklich im Griff, vorausgesetzt der Patient bekommt eine gute Therapie und nimmt seine Medikamente. Sonst nicht!“
Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung starben insgesamt bisher 36,8 Millionen Menschen an Aids, davon 30.000 in Deutschland. Seit ungefähr 1996 verbesserte sich die Lage durch neue Medikamente drastisch. Einen Impfstoff gegen das Virus gibt es trotz intensiver Forschung nicht, zu komplex sind die Strukturen der verschiedenen Virus-Varianten. Und immer noch kommen rund 1.000 Fälle pro Jahr in Deutschland hinzu.
Zur Person:
Michael Latzke ist Facharzt für Allgemeinmedizin und praktiziert als Hausarzt in Berlin-Mitte.
Seit mehr als 30 Jahren betreut er Patientinnen und Patienten mit HIV und AIDS.
Bild: © privat