Die Karrierechancen im Krankenhaus sind zurzeit zweifellos gut. Eine Bewerbung auf eine Chefarztstelle wird dadurch aber nicht automatisch zum Selbstläufer.
Man kennt das Phänomen in vielen Krankenhäusern schon längere Zeit: Die Bewerbungen auf ausgeschriebene Chefarztpositionen sind rückläufig. Eine gute Nachricht für Chefarztaspiranten? Nach dem Motto: Wo sich weniger bewerben, steigen die Chancen, auf Platz 1 zu landen? Dies ist zwar nicht ganz von der Hand zu weisen, doch ob eine Bewerbung erfolgreich ist, beantwortet sich dadurch noch nicht von allein.
Weniger Oberärzte mit Chefarztambitionen
Speziell aus den Reihen der Oberärztinnen und Oberärzte geht die Zahl der Bewerbungen auf Chefarztpositionen zurück. Dagegen bewerben sich signifikant häufiger als früher Ärztinnen und Ärzte, die bereits eine solche Position innehaben. Die Fluktuation auf der Chefarztebene hat also zugenommen. Das Modell der Chefarztstelle als Lebensstellung ist offenbar für viele keine Selbstverständlichkeit mehr. Man kann davon ausgehen, dass dahinter eher die Unzufriedenheit mit der jetzigen Position oder dem jetzigen Arbeitgeber steht als der unbedingte Wunsch nach beruflicher Veränderung.
Doch was ist mit den Oberärztinnen und Oberärzten? Es verwundert nicht, dass jene eine solche Position für nicht erstrebenswert halten, die einen Chefarzt vor Augen haben, der sich zwischen den unterschiedlichen an ihn gerichteten Erwartungen von Patienten, Zuweisern, Mitarbeitern und Geschäftsführung aufreibt. Hinzu kommt: Immer mehr qualifizierte Oberärzte erhalten eine außertarifliche Vergütung, die sich in einigen Fällen bereits in Richtung Chefarztgehalt bewegt. Die Wechselbereitschaft wird dies nicht beflügeln, was von den Häusern durchaus intendiert ist.
Rollenwechsel als Herausforderung
Also grünes Licht für all diejenigen, die weiterhin eine Chefarztposition anstreben? Selbstverständlich wird nicht jeder seine Traumstelle erhalten, aber die Aufstiegschancen sind durchaus da. Doch sollte man nicht die Augen vor den mit einer solchen Position verbundenen Anforderungen verschließen. Denn berufsbiografisch gesehen endet eine erfolgreiche Bewerbung nicht mit dem Erreichen von Platz 1 der Kandidatenliste, sondern mit dem tatsächlichen „Ausfüllen“ der neuen Führungsposition.
Ob Oberärzte die erreichte Position tatsächlich positiv ausfüllen können, verknüpft sich mit der Frage: Gelingt es, den unterschiedlichen Erwartungen und Anforderungen als Chefarzt gerecht zu werden? Genau an diesem Punkt trennt sich in Bewerberinterviews oder Assessment-Verfahren häufig die Spreu vom Weizen: Die fachliche Qualifikation ist bei nahezu allen gegeben, sonst hätte man sie nicht in die engere Auswahl genommen. Ein wichtiges Kriterium kann dann sein, ob und in welcher Weise die Bewerber erkennbar den mit einer Chefarztposition verbundenen Rollenwechsel reflektiert haben.
So wichtig das fachliche Profil des Kandidaten oder der Kandidatin ist, es gewährleistet nicht von allein die Kompetenz als Führungskraft. Und wer Letztere nicht überzeugend hat, kann das schwerlich durch reine Fachkompetenz kompensieren. Doch was bedeutet „Kompetenz als Führungskraft“? In welchem Maße müssen Bewerber bereits Führungserfahrung mitbringen? Wie weitgehend muss diese sein? Sollten sie zum Beispiel bereits Budgetverantwortung getragen haben? Fragen wie diese lassen sich nicht pauschal beantworten. Wäre dies so, hätten eindeutig die erfahreneren Kandidatinnen und Kandidaten die Nase vorn, erst recht jene, die sich aus einer Chefarztposition heraus bewerben. Doch dies ist keineswegs immer der Fall. Vielmehr kommt es immer darauf an, inwieweit die Bewerber, fachliche Qualifikation vorausgesetzt, sich erkennbar auch mit den über das Fachliche hinausgehenden Anforderungen auseinandergesetzt haben.
Eigenes Selbstverständnis reflektieren
Logischerweise wird der potenzielle neue Arbeitgeber von einem Oberarzt oder einer Oberärztin nicht die Führungserfahrung erwarten können, die ein Kandidat mit Chefarztpraxis mitbringt. Aber er oder sie sollte sich erkennbar mit den eigenen Voraussetzungen für die Übernahme einer Führungsposition befasst haben und Antworten auf Fragen haben wie: Was prädestiniert mich dafür? Inwiefern betrete ich dabei Neuland? Gerade die letzte Frage unterschätzen viele Bewerber. Für die allermeisten handelt es sich ja tatsächlich um Neuland. Also wird es darum gehen, mit welchem inneren Kompass der einzelne dieses neue Terrain betritt. Woran wird er sich orientieren, sei es aufgrund eigener Leitungserfahrung oder aufgrund der Erfahrungen mit bisherigen Vorgesetzten? Darüber lassen sich in jedem Fall Aussagen zum künftigen eigenen Führungsstil machen. Dass dabei auch zur Sprache kommen kann, in welchen Bereichen der Einzelne noch Entwicklungspotenzial für sich sieht, sollte er oder sie als selbstverständlich ansehen und keinesfalls als defizitär. Schließlich ist es Ausdruck dafür, dass man etwas Entscheidendes verstanden hat: Die Übernahme einer Chefarztposition ist tatsächlich ein Rollenwechsel. Bewerber, die das erkennbar reflektiert und über entsprechende Strategien für einen solchen Neustart nachgedacht haben, sind klar im Vorteil.
Dementsprechend lohnt es sich, eine Bewerbung auch in dieser über das rein Fachliche hinausgehenden Hinsicht intensiv vorzubereiten. Ein Coaching vorab kann oftmals entscheidende Denkanstöße geben. Nicht nur, dass sich dabei in einem geschützten Rahmen Vorstellungsgespräche oder Assessments quasi simulieren lassen. Ein qualifiziertes berufliches Coaching wird dazu beitragen, dass der Kandidat oder die Kandidatin sich gezielt auf die neue Position hin reflektieren: Wie wird es sein, wenn ich diese Stelle übernehme? Welche Erfahrungen und Kompetenzen werden mir zugutekommen und wo erwarten mich neue, ungewohnte Herausforderungen? Je klarer sich die Bewerber bereits im Vorfeld solchen Fragen stellen, desto souveräner können sie in eine Vorstellungsrunde gehen.
Onboarding-Coaching ist im Kommen
Ob sich ein Krankenhaus am Ende für einen führungserfahreneren Kandidaten entscheidet oder für den ambitionierten Oberarzt, dem es eigentlich noch an ein bis zwei Jahren bis zur „Chefarzt-Reife“ fehlt, wird von Fall zu Fall unterschiedliche Gründe haben. Doch nicht wenige Häuser sind inzwischen aufgeschlossen für ein sogenanntes Onboarding-Coaching ihrer neuen Chefärzte und Chefärztinnen. Damit setzen sie gezielt auf deren Entwicklungspotenzial – ein durchaus positives Signal.
Dtsch Arztebl 2020; 117(38): [2]
Die Autorin:
Ingrid Rebmann, M.A.
mainmedico GmbH
consulting & coaching
60322 Frankfurt am Main