Kultursensible Gesundheitsversorgung im Krankenhaus

12 Mai, 2025 - 07:22
Miriam Mirza
Eine Ärztin kniet vor einem Kind, das auf dem Schoß einer erwachsenen Person sitzt, und hält die Hand des Kindes. Im Hintergrund sitzt eine weitere Person und macht Notizen. Die Szene spielt in einer hellen, modernen Arztpraxis. Auf einer Bank liegt eine braune Tasche.

In deutschen Krankenhäusern ist Vielfalt längst Alltag. Menschen mit unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen, religiösen Prägungen und Sprachkenntnissen treffen auf ein hoch standardisiertes, funktional ausgerichtetes Gesundheitssystem – da sind Spannungen quasi vorprogrammiert. Denn was für das Klinikpersonal selbstverständlich erscheint – etwa eine kurze Aufklärung vor einer OP, eine Intimuntersuchung oder die Einnahme eines Medikaments – kann für Patientinnen und Patienten mit anderen kulturellen Prägungen befremdlich oder gar unmöglich sein.

Gleichzeitig arbeiten Kliniken unter hohem Druck: Personalmangel, Zeitnot und hohe Fallzahlen lassen wenig Raum für individuelle Anpassung. Doch genau in diesem Spannungsfeld müssen sich Ärztinnen und Ärzte bewegen und sich der Herausforderung stellen, wie unter strukturell angespannten Bedingungen kultursensible Versorgung gelingen kann.

Kultursensibilität ist kein Wissen, sondern eine Haltung

Kultursensibilität bedeutet nicht, alle Traditionen und Gepflogenheiten jeder Kultur im Detail zu kennen. Es geht vielmehr um eine Grundhaltung: um Offenheit, Respekt und die Bereitschaft, sich mit der Sichtweise des Gegenübers auseinanderzusetzen. Entscheidend dabei ist, kulturelle Differenz nicht zu problematisieren oder zu pathologisieren – sondern sie anzuerkennen und professionell damit umzugehen. In der Praxis heißt das: Fragen stellen, statt zu urteilen. Eigene Werte reflektieren, statt sie als Norm zu setzen. Und Unsicherheiten aushalten, ohne in Abwehr oder Überforderung zu verfallen.

Um diesem Anspruch gerecht zu werden, ist es notwendig, ein Bewusstsein für die eigene Sozialisation zu entwickeln. Denn auch das medizinische Personal selbst bringt kulturelle Prägungen mit – zum Beispiel bestimmte Vorstellungen von Hygiene, Körperlichkeit, Kommunikation oder Professionalität. Wer das anerkennt, kann kultursensibler reagieren – übrigens nicht nur gegenüber Patientinnen und Patienten, sondern auch im interprofessionellen Team.

Warum ist das gerade im Krankenhaus so wichtig?

Der Klinikalltag ist geprägt von schnellen Entscheidungen, engen Zeitfenstern und hohen Anforderungen an Kommunikation und Dokumentation. Gerade in diesem Setting ist kultursensible Versorgung besonders anspruchsvoll – und besonders wichtig.

Denn es gibt mehr Missverständnisse in der Versorgung, die ihren Ursprung in kulturell geprägten Kommunikationsstilen haben, als man glaubt. Ein Beispiel: Wird Schmerz lautstark geäußert oder eher zurückhaltend? Wird die Entscheidung über eine Operation allein oder im Familienkreis getroffen? Wird medizinische Autorität akzeptiert – oder muss sie erst sozial „verdient“ werden?

Wer hier vorschnell urteilt, riskiert nicht nur die therapeutische Beziehung, sondern unter Umständen auch den Behandlungserfolg. Gerade wenn es um Compliance, psychische Erkrankungen oder chronische Schmerzsyndrome geht, kann kultursensible Kommunikation entscheidend dafür sein, ob eine Behandlung überhaupt angenommen wird. Hinzu kommt, dass negative Erfahrungen oft als traumatisch wahrgenommen werden und diese Traumata sich sogar in Familien fortsetzen können.

Sprachbarrieren – ein unterschätztes Risiko

Ein zentrales Thema in der kultursensiblen Versorgung ist die Sprache. Zwar sind viele Informationen inzwischen in mehreren Sprachen erhältlich – doch im Alltag fehlt es häufig an professionellen Dolmetschenden, standardisierten Abläufen und interkulturell geschultem Personal. Die Folge: Angehörige oder sogar Kinder übersetzen, oft in sensiblen Situationen. Das ist nicht nur rechtlich problematisch – es birgt auch ein hohes Risiko für Fehlinterpretationen und Vertrauensverlust.

Auch nonverbale Kommunikation ist kulturell kodiert: Ein Lächeln kann Zustimmung bedeuten – oder Scham. Der Blickkontakt kann Respekt ausdrücken – oder als Konfrontation empfunden werden. Wer hier zu schnell interpretiert, verfehlt die Intention.

Unterschiedliche Erwartungen an die Medizin und die ärztliche Rolle

Menschen mit Migrationshintergrund bringen zudem häufig andere Erwartungen und Konzepte von medizinischer Betreuung mit – geprägt durch das Gesundheitssystem, die kulturellen Werte und den sozialen Umgang im Herkunftsland. Was hierzulande als patientenzentrierte Versorgung gilt, kann andernorts als unzureichend wahrgenommen werden – und umgekehrt.

Ein Beispiel: In vielen Ländern erwarten Patientinnen und Patienten, dass Ärztinnen und Ärzte eine klare, autoritäre Rolle einnehmen. Sie wünschen sich eine starke Führung, eindeutige Entscheidungen und möglichst schnelle Maßnahmen. Das in Deutschland verbreitete Modell der partizipativen Entscheidungsfindung, das auf Aufklärung, Mitsprache und gemeinsamer Verantwortung beruht, wird von manchen als Zeichen von Unsicherheit oder mangelnder Kompetenz gedeutet. Umgekehrt kann eine solche Direktive für deutsche Patientinnen und Patienten unangemessen oder übergriffig wirken – hier wird häufig Wert auf empathische Gesprächsführung, umfassende Information und Augenhöhe gelegt.

Auch im Umgang mit Diagnosen und Prognosen zeigen sich kulturelle Unterschiede: Während in Deutschland Offenheit und Transparenz als Zeichen von Respekt gelten, bevorzugen manche Kulturen eine zurückhaltende Kommunikation, um Betroffene zu schützen. Ebenso ist die Rolle der Familie unterschiedlich besetzt – in vielen nicht-westlichen Kulturen ist es selbstverständlich, dass Angehörige in Entscheidungen eingebunden sind oder gar stellvertretend für die erkrankte Person sprechen.

Diese Unterschiede sind keine Barrieren – sie sind Hinweise auf unterschiedliche Denk- und Kommunikationsmuster. Wer sie kennt, kann gezielter auf Patientinnen und Patienten eingehen, besser verständlich kommunizieren und mehr Vertrauen aufbauen – die Basis für jede erfolgreiche Therapie.

Praktische Maßnahmen für mehr Kultursensibilität im Krankenhaus

Auch wenn keine Klinik alle Herausforderungen sofort lösen kann – viele Schritte lassen sich mit überschaubarem Aufwand umsetzen. Dazu gehören:

  1. Einsatz professioneller Sprachmittlung – persönlich oder per Video, insbesondere in Aufklärungsgesprächen oder bei sensiblen Themen.
  2. Mehrsprachige Materialien – Aufklärungsbögen, Merkblätter, Hinweise auf Patientenrechte und Abläufe in mehreren Sprachen bereitstellen.
  3. Kulturell sensible Essensangebote – religiöse oder kulturelle Essensvorgaben berücksichtigen, insbesondere bei längeren Aufenthalten.
  4. Reflexion im Team fördern – durch interkulturelle Fallbesprechungen, Supervision oder Austausch über herausfordernde Situationen.
  5. Bewusstsein für eigene Prägungen schärfen – z. B. mit Impulsfragen in Fortbildungen: Warum irritiert mich bestimmtes Verhalten? Wie wirken meine Reaktionen auf andere?
  6. Einheitliche Standards entwickeln – etwa dazu, wer dolmetschen darf, wie mit religiösen Symbolen umgegangen wird oder wie gender-sensible Pflege organisiert wird.
  7. Interkulturelle Ansprechpersonen etablieren – z. B. als Lotsen im Aufnahmeprozess oder als vertrauliche Kontaktstellen bei Konflikten.
  8. Patientinnen und Patienten aktiv einbinden – durch kultursensible Feedbackinstrumente oder partizipative Formate wie „interkulturelle Patientinnen- und Patientenräte“.

Praxisbeispiel: Schmerz anders gedacht

In einer chirurgischen Klinik klagt eine Patientin mit arabischem Hintergrund lautstark über starke Schmerzen. Der betreuende Mediziner fühlt sich irritiert und unterstellt ein "Theatralisches Verhalten". Eine erfahrene Pflegekraft klärt später im Teamgespräch auf: In vielen arabischen Kulturen wird Schmerz nicht stillschweigend ertragen, sondern laut kommuniziert – nicht aus Hysterie, sondern weil dies als legitimer Ausdruck von Leid gilt. Die Haltung des Teams ändert sich: Kulturelle Unterschiede im Schmerzempfinden werden nicht mehr abgewertet, sondern bewusst mitgedacht.

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Dieses Beispiel zeigt: Es geht nicht darum, alle kulturellen Muster zu kennen – sondern sie als Möglichkeit mitzudenken, ohne vorschnell zu pathologisieren.

Kultursensibilität ist auch Selbstschutz

Was oft vergessen wird: Eine kultursensible Haltung schützt nicht nur die Patientinnen und Patienten – sie entlastet auch das Personal. Wer lernt, eigene Gefühle wie Irritation oder Überforderung als Signal zu nutzen, kann professionell reagieren, statt in Ablehnung oder zynische Kommentare zu verfallen. Das reduziert Konflikte und erhöht langfristig die Zufriedenheit im Team.

In Zeiten von Fachkräftemangel, steigender Belastung und wachsendem gesellschaftlichem Druck ist das kein unwesentlicher Aspekt. Kultursensibilität kann auch Teil eines gesunden Arbeitsumfeldes sein – weil sie Konflikten vorbeugt, emotionale Sicherheit schafft und Teamdynamiken verbessert.

Kultursensibilität als Qualitätsmerkmal – und eine Frage der Haltung

Kliniken, die kulturelle Diversität nicht als Ausnahmefall, sondern als Realität begreifen, sind für die Zukunft besser aufgestellt. Kultursensibilität ist kein zusätzlicher Luxus, sondern Ausdruck einer zeitgemäßen, menschlich und fachlich überzeugenden Gesundheitsversorgung.

Sie beginnt mit Zuhören. Und mit der Bereitschaft, nicht jede Reaktion sofort einzuordnen – sondern sie zunächst ernst zu nehmen.

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