Lehr- und Lernmethoden: Effektiver lernen mit dem „umgedrehten Klassenzimmer“

17 Oktober, 2023 - 08:03
Prof. Dr. med. Alexander Ghanem
Flipped-Classroom-Modell Symbolbild

Das Flipped-Classroom-Modell macht Lernprozesse flexibler und erhöht die Interaktion zwischen Lernenden und Lehrenden. Mit dem Modell lässt sich Unterrichtszeit effektiver nutzen. Auch bereitet es künftige Ärztinnen und Ärzte oder angehende Fachärztinnen und Fachärzte besser auf die Praxis vor.

Das Flipped-Classroom-Modell bezeichnet eine Lehr- und Lernform, die traditionelle Präsenzlehranteile und technologieunterstütztes Lernen, das sogenannte E-Learning, didaktisch sinnvoll in einer Veranstaltungseinheit verknüpft. Das Konzept verbindet die Effektivität und Flexibilität elektronischer Lerntechnologien und -formate mit den Vorteilen der direkten Kommunikation in klassischen Formaten. Es könnte insbesondere beim Erlernen praktischer Fertigkeiten eingesetzt werden.

Alternative zum traditionellen Unterricht

Als eine Alternative zur traditionellen Unterrichtsstruktur kann das Modell dazu beitragen, die Qualität ärztlichen Lernens zu verbessern. Denn die Motivation und der Einsatz der Ärztinnen und Ärzte sind ausschlaggebend, um Erlerntes wirksam umzusetzen und die angestrebten Kompetenzen zu erzielen. Derzeit geben Social-Media-Kanäle und kommerzielle Anbieter, wie UpToDate, AMBOSS oder Medmastery, den Takt an. Künftig wird es immer wichtiger, zu erlernende Kompetenzen mithilfe einer qualitätskontrollierten und zeitgemäßen Methodik zu vermitteln.

07.02.2025, Hegau-Bodensee-Klinikum Singen GmbH
Singen (Hohentwiel)
06.02.2025, St. Vinzenz-Krankenhaus Hanau gGmbH
Hanau

Das Flipped-Classroom-Modell zeichnet sich durch vielfältige Vorteile aus:

  • Anpassung an das digitale Zeitalter: Die Welt wird immer digitaler, die Art und Weise, wie Menschen lernen, verändert sich. Das Modell nutzt die Vorteile des digitalen Zeitalters, indem es Lernmaterialien online bereitstellt und so den Lernprozess flexibler und zugänglicher gestaltet.
     
  • Fokussierung auf kritisches Denken: In der ärztlichen Praxis ist entscheidend, kritisches Denken und Problemlösungsfähigkeiten fortzuentwickeln. Das Modell fördert diese Fähigkeiten, indem es den Lernenden ermöglicht, Inhalte vorab zu bearbeiten und zu reflektieren, bevor sie in der Praxis diskutiert werden.
     
  • Individualisierung des Lernens: Jeder und jede Lernende hat unterschiedliche Bedürfnisse und Lernstile. Das Modell ermöglicht es zum Beispiel Weiterbildungsassistenten, in ihrem eigenen Tempo zu lernen und sich auf die Lerninhalte zu konzentrieren, die für sie aktuell am wichtigsten sind.
     
  • Mehr Interaktion und Zusammenarbeit: Das Modell bietet mehr Möglichkeiten für Diskussionen, Fragen und Zusammenarbeit, da auf das zuvor im E-Learning Gelernte aufbauend Inhalte am Patienten gemeinsam besprochen werden können.
     
  • Effektivere Nutzung von Zeit: Beim traditionellen Lernen wird oft viel Zeit damit verbracht, Lernziele zu wiederholen, die Studierende bereits kennen. Das Modell ermöglicht es, die Zeit effektiver zu nutzen, indem man sich auf schwierige Lernziele konzentriert und die Lernenden gezielt unterstützt.
     
  • Vorbereitung auf die klinische Praxis: Die ärztliche Praxis erfordert eine enge Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis. Das Modell bietet die Möglichkeit, sich intensiver mit den Lernmaterialien auseinanderzusetzen und sie in der Praxis anzuwenden. So können sich beispielsweise angehende Fachärztinnen und Fachärzte besser auf die klinische Praxis vorbereiten und sind besser in der Lage, erworbene Fähigkeiten in der Praxis anzuwenden, beispielsweise die echokardiografische Anlotung und Beurteilung von Klappenvitien.

Anwendungsbeispiele aus der Praxis

Einige Anwendungsbeispiele verdeutlichen die Vorteile der Methode: Das Anlernen neuer Mitarbeitender ist nicht nur zeitlich aufwendig. In dieser Phase kann es auch gelingen, diese durch Wertschätzung zu binden. Mentoren können sich wiederholende, aber doch nicht ganz einfache Prozesse sowie selten benötigte Informationen begleitend einsetzen oder auf Abruf ablegen. Beispiele dafür sind Inhalte der Transfusion und Hygiene oder auch eine zeitgemäß aufbereitete Version des Leitbildes. Videomaterial kann die persönliche Begleitung nicht ersetzen, ist ohne die Bindung an Mentoren gar schädlich. Aber für die Neuen kann dies Professionalität und gelebte Wertschätzung bedeuten.

Auch das Informieren von Patienten und Angehörigen zu geplanten, medizinischen Eingriffen ist nicht nur ressourcenintensiv. Durch die Monotonie ist der Prozess für Behandler im pflegerischen und ärztlichen Bereich belastend. Durch Zeitdruck bedingt können sie Inhalte vergessen, zu stark verkürzen oder auslassen. Patienten und Angehörige könnten ein umgedrehtes Klassenzimmer im Vorfeld des medizinischen Fach- und Aufklärungsgespräches nutzen, um im persönlichen Gespräch individuell wichtige Fragen vertiefend zu besprechen.

Frequently Asked Questions wirksam adressieren

Das Erlernen einer persönlichen Arbeitsmethodik auf Station ist oft aufwendig und frustrierend. Da sich der Prozess der Einarbeitung für Verantwortliche mehrmals im Jahr wiederholt, lohnt es, drei- bis sechsminütige Lehrvideos vorzubereiten. Diese erklären zum Beispiel die Methodik und die Ziele der Stationsarbeit: Visitendurchführung, Arztbriefschreibung und Laborstandard. Das sind drei der häufigsten Frequently Asked Questions, die auf diese Weise zeitgemäß und wirksam adressiert werden können.

Die Lernkurve der transthorakalen Echokardiografie verläuft flach. Das liegt an der Komplexität des Lernprozesses. Dazu zählen theoretische Hintergrundinformationen, manuelle Fähigkeiten sowie das trennscharfe Abgrenzen und Graduieren pathologischer Befunde in verschiedenen Modalitäten. Zwar müssen Lernende das nicht alles auf einmal können, jedoch bedarf es einer Aktivierungsenergie, ausreichender Optionen der Anwendung am Patienten unter Supervision und regelmäßiger Rückmeldungen. Hilfreich ist dabei ein curriculares Stufenkonzept der Kompetenzentwicklung mit drei- bis sechsminütigen Videos zum Erlernen der Anwendung der genannten Lernziele.

Entlastung bei der Supervision

Selbstverständlich ist das Erstellen eines Flipped-Classroom-Konzepts aufwendig, und das Scripting und Drehen von Videos geht nicht leicht von der Hand. Jedoch kann man diese Aufgaben in einem Team gut verteilen. Darüber hinaus ist die Lernerfahrung für die Jüngeren praxisnah und am Patienten Schritt für Schritt umsetzbar. Und die erfahrenen Kolleginnen und Kollegen werden bei der Supervision und Wissensvermittlung entlastet.

Dtsch Arztebl 2023; 120(42): [2]

Der Autor:

Prof. Dr. med. Alexander Ghanem
Chefarzt Innere Medizin II
Kardiologie & internistische Intensivmedizin
Asklepios Klinik Nord
22417 Hamburg

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