Das Generieren immer spezielleren Wissens und die damit einhergehende Ausbildung von Experten macht auch vor der Medizin und den Gesundheitsfachberufen nicht halt. Auf dem Weg zum erfolgreichen Expertenteam bedarf es einer Abkehr von der klassischen Abteilungshierarchie und Arztrollenbildern.
Für eine gute und effiziente Medizin braucht es Teams, in denen Ärzte unterschiedlicher Fachgebiete und weitere an der Patientenbehandlung beteiligte Berufsgruppen zusammenarbeiten. Jedes Teammitglied verfügt über eine fundierte Einzelexpertise. Patienten erhalten medizinische Behandlung immer unter Einbindung des gesamten Teams, ob durch direkten und persönlichen Behandlungskontakt oder fachliche Supervision oder Beratung des behandelnden Arztes im Hintergrund.
Interprofessionell und interdisziplinär
Medizinische Zentren und Notaufnahmen gelten als die gängigen Formen interprofessioneller und interdisziplinärer Zusammenarbeit. Meist sind sie in regionalen Netzwerken organisiert und arbeiten einrichtungsübergreifend zusammen. Dabei gilt es, Vorgaben oder Zertifizierungsrichtlinien von Fachgesellschaften oder Zertifizierungsorganisationen zu berücksichtigen. Die Vorgaben legen vorwiegend die Formalqualifikationen der Mitarbeitenden und die Ressourcenausstattung fest. Sie sind Grundvoraussetzungen, um die medizinische Behandlungsqualität abzusichern.
Überlegungen zu Spezialisierungen und damit zum Aufbau von Expertenteams werden meist im Rahmen der Weiterentwicklung der abteilungs- oder unternehmensspezifischen Medizinstrategie getroffen. Aber auch personelle Wechsel und damit einhergehende Auswahlverfahren auf Fach-, Ober- und Chefarztebene können impulsgebend sein für ein konkretes Behandlungsangebot eines interprofessionellen und interdisziplinären Expertenteams. Neu angestellte Ärzte bieten den Vorteil, Veränderungen hin zu neuen Expertenteamformen zu entwickeln. Aus etablierten Strukturen heraus ist dies aufgrund diverser Widerstände oft schwieriger umsetzbar.
Breite Fachperspektive auf den individuellen Fall
Gerade im akuten Behandlungsfall kommt es für den Patienten auf die Professionalität und Erfahrung des gesamten Expertenteams an. Unabdingbare Voraussetzung für jeden Experten sind zunächst das Interesse und die Leidenschaft für seinen medizinischen Schwerpunkt. Diese gilt es, von Vorgesetzten zu erkennen, zu fördern und zu entwickeln, idealerweise schon während der Facharztweiterbildung. Eine interprofessionelle und abteilungsübergreifende Zusammenarbeit ermöglicht eine breite fachliche Perspektive auf den individuellen Fall und nicht nur die eine medizinische Fachsicht. Das bedeutet, jeder an der Behandlung Beteiligte bringt die eigene Fachsicht ein und ist in der Lage, medizinisch abzuwägen, fachliche Kompromisse einzugehen, sich der Sichtweisen anderer Fachdisziplinen anzunähern und die Patientenbedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen.
Dabei ist es wichtig, dass alle Experten im Team, also Ärzte, Pflegende, Therapeuten und sonstige Spezialisten, mit ihren jeweiligen Expertisen, Fähigkeiten, ihrem Wissen und ihren Erfahrungen dem Team und den Patienten auf Augenhöhe begegnen. Aktives, ehrliches Zuhören drückt Interesse und Wertschätzung für die Bedürfnisse und Perspektiven des Gegenübers aus. Es fördert das Verständnis für Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Team sowie das Vertrauen in eine Lösung, die mehreren Seiten gerechter wird als das einseitige Durchsetzen von Interessen. Ohne Augenhöhe, gegenseitige Akzeptanz und eine entsprechende persönliche Haltung können komplexe Sachverhalte nicht gelöst werden.
Sichtbarkeit des gesamten Teams
Gerade dann, wenn feste Strukturen für die interprofessionelle Behandlung von Krankheitsbildern aufgebaut werden sollen, ist es für Patienten hilfreich, das gesamte Expertenteam namentlich vorzustellen. Hilfreich ist die bildliche Sichtbarkeit des Expertenteams mit deren fachlichen Professionen, Erläuterungen zum Krankheitsbild in einer zielgruppenadäquaten, verständlichen Sprache sowie die Vorstellung von Ansprechpartnern über den Internetauftritt, moderne Kommunikationsformen wie Podcasts, Chats oder auch noch klassisch über Informationsblätter oder Flyer. So gewinnt der Patient einen Überblick über die fachlichen Perspektiven der Experten. Das fördert das Vertrauen in den Behandlungserfolg.
Wenn ein interprofessionelles Expertenteam, abweichend zur traditionellen, abteilungsspezifischen Behandlung, die Patientenbehandlung übernimmt, ist es hilfreich, zur Koordination ein darauf spezialisiertes Fallmanagement als festen Bestandteil des Expertenteams zu etablieren. Als Beispiel können regelmäßige Fallkonferenzen dienen. Zudem ist es vertrauensbildend, Patienten einen festen „persönlichen Ansprechpartner“ zu benennen, der oder die die Kommunikation des gesamten Behandlungsablaufs dem Patienten gegenüber sicherstellt. Idealerweise ist das der mit dem Fallmanagement betraute integrierend tätige Arzt mit einer fachübergreifenden Facharztkompetenz.
Angesichts der Altersstruktur in den Krankenhäusern könnte dies ein Geriater sein, der bei komplex-geriatrischen Patienten, ob nun internistisch-geriatrisch oder primär chirurgisch-geriatrisch spielt keine Rolle, die Fallkoordination und Kommunikation mit dem Patienten übernimmt. Auch bei nichtgeriatrischen Patienten ist die fachübergreifende Kompetenz als ärztlicher Fallmanager gefragt. So könnte diese Rolle beispielsweise auch Fachärzten für Allgemeinmedizin zukommen.
Teamfähigkeit als wichtiges Auswahlkriterium
Eine erfolgreiche Expertenstruktur erfordert es, Kommunikationsstrukturen zu etablieren, die frühzeitig ein multiprofessionelles Expertenteam einbinden und nicht in einer fachspezifischen Behandlung und Sicht auf die Dinge verharren. Da es auf dem Weg zum erfolgreichen Expertenteam vor allem einer Abkehr von klassischen Abteilungshierarchien sowie Chefarzt-, aber auch generell von Arztrollenbildern bedarf, ist die Teamfähigkeit oder eine Servant-Leadership-Haltung bei der Auswahl von Chef- und Oberärzten für ein Expertenteam ein wichtiges Auswahlkriterium. Hilfreich ist, entsprechende Qualifizierungs- und Entwicklungsangebote wie ein begleitendes Coaching oder Mentoring zu ermöglichen – für ein Mehr an Integration und Innovation im Arbeitsalltag.
Dtsch Arztebl 2022; 119(1-2): [2]
Die Autorin
Christiane Reuter-Herkner
Geschäftsführerin
indialogia GmbH
10407 Berlin