Weltraummedizin: Wäre das etwas für mich?

14 Juli, 2022 - 07:15
Gerti Keller
Bettruhestudie DLR, Augenuntersuchung
Augenuntersuchung bei einem Probanden einer Bettruhestudie mit 6-Grad-Kopftieflage

Von Piloten-Sehtests bis zur Astronauten-Nachsorge: Im Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) arbeiten Ärztinnen und Ärzte der verschiedensten Fachrichtungen. Institutsleiter Prof. Jens Jordan stellt den ungewöhnlichen Joballtag vor.

Prof. Jordan, auf Ihrer Homepage steht: Ziel des Instituts ist, die Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Menschen im Weltraum, der Luftfahrt und auf der Erde zu erhalten. Ist dieses Ziel nicht ein wenig groß?

Prof. Jens Jordan: Ambitioniert ist es schon. Wir schlagen die Brücke zwischen der Medizin „oben und unten“. Denn im Weltall herrschen ganz andere Bedingungen, wie Schwerelosigkeit, Strahlenbelastung oder Isolation. Das kann dazu führen, dass selbst kerngesunde, hoch ausgebildete Astronautinnen und Astronauten erkranken oder zumindest Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit erfahren. Das große Ziel der Raumfahrtmedizin ist daher, Methoden zu entwickeln, um frühzeitig gegenzusteuern. Dasselbe gilt für die Luftfahrt, um das fliegende Personal angesichts von Schlafdefiziten, Jetlags und veränderten Atmosphärenbedingungen fit zu erhalten. Und diese Erkenntnisse kommen auch den Menschen auf der Erde zu Gute.

Haben Sie Beispiele dafür?

Prof. Jens Jordan: Durch den Wegfall der Schwerkraft verteilt sich die Flüssigkeit im Körper in Richtung Kopf. Das kann Veränderungen im Gehirn erzeugen, wahrscheinlich steigt der Hirndruck an. Raumfahrende bemerken häufig eine verstopfte Nase, zum Teil schwillt auch das Gesicht etwas an. Dabei können sogar Veränderungen am Augenhintergrund auftreten: das sogenannte Spaceflight-Associated Neuro-Ocular Syndrome. Wir versuchen, diese Zusammenhänge zu verstehen und daraus zu lernen. Hierzu tauschen wir uns auch mit Kolleginnen und Kollegen aus der Augenheilkunde aus, damit in Zukunft zum Beispiel erhöhter Augendruck bei Glaukompatienten besser behandelt werden kann. Wir entwickeln und testen auch Trainingsmethoden, um Knochen- sowie Muskelgesundheit aufrecht zu erhalten. Das wenden wir zum Beispiel in Kooperation mit der Pädiatrie der Uniklinik Köln an, um Kinder mit neurologischen oder orthopädischen Einschränkungen beim Laufen lernen zu unterstützen – und zwar indem sie trainieren wie die Astronauten, unter anderem mit Vibrationstraining.

Wie viele Medizinerinnen und Mediziner arbeiten bei Ihnen? Aus welchen Fachrichtungen?

Prof. Jens Jordan: Insgesamt sind wir ein gutes Dutzend aus ganz verschiedenen Disziplinen: Kolleginnen und Kollegen aus der Arbeitsmedizin, Physiologie, Neurologie, Ophthalmologie, Anästhesie, Klinischen Pharmakologie sowie Innerer Medizin mit Subspezialisierung Kardiologie. Ich bin Internist und klinischer Pharmakologe. Wir sind also nicht auf bestimmte Fachrichtungen festgelegt, es muss zu unseren Fragestellungen passen. Die Folgen von Luft- und Raumfahrt umfassen ein breites Spektrum. Das erstreckt sich vom Auge über das Herz-Kreislauf-System, Knochen, Muskel bis zu Schlafmedizin, Molekularbiologie und Digital Health.

Wie muss man sich die Arbeit in Ihrem Institut konkret vorstellen? Wie viel ist Praxis, wie viel Forschung?

Prof. Jens Jordan: Da gibt es unterschiedliche Gewichtungen. Das reicht von klinischen Tätigkeiten vorwiegend in der ambulanten Medizin bis zu avancierter humaner Forschung, zum Beispiel Bettruhe-Studien in Kopf-Tieflage. Idealerweise ist das bei uns immer ein Mix. Die Fragestellungen ergeben sich aus der klinischen Beobachtung, werden dann wissenschaftlich bearbeitet und fließen nachher idealerweise wieder in die medizinische Anwendung ein. Das ist ansonsten ja gar nicht so einfach im Ärztealltag. Das DLR bietet eine gute Möglichkeit, beides unter einen Hut zu bekommen – und man kann Techniken lernen, die es woanders nicht gibt.

Was passiert beispielsweise im :envihab und der Klinischen Luft- und Raumfahrtmedizin?

Prof. Jens Jordan: Das :envihab ist ein international einmaliges Forschungsgebäude. Dort gibt es Druckkammern, eine Kurzarm-Humanzentrifuge, ein Ganzkörper-MRT/PET-Anlage, ein Psychologielaboratorium unter anderem für Isolationsstudien sowie eine Forschungsstation. Die Klinische Luft- und Raumfahrtmedizin wiederum kann man sich wie eine Poliklinik oder eine große Gemeinschaftspraxis vorstellen. Dort werden Piloten eingehend medizinisch gecheckt einschließlich detaillierter Tests des Sehvermögens, was für die Luftfahrt besonders bedeutsam ist. Aber auch Astronautenbewerber sowie Studienteilnehmende werden dort auf ihre Eignung untersucht.

Gehören dazu manchmal auch 24-Stunden-Schichten?

Prof. Jens Jordan: Das kommt auf den Einsatzbereich an. Nachtdienste können schon mal anfallen, aber eigentlich nur, wenn wir stationäre Studien haben, wo eben auch ärztliches Personal vor Ort sein muss. Ansonsten haben wir recht flexible Arbeitszeitmodelle und möchten künftig auch mobiles Arbeiten ermöglichen. Unsere Ärztinnen und Ärzte genießen daher relativ viele Freiheiten, um die Arbeit zum Beispiel mit dem Familienleben zu vereinbaren.

Ich habe gelesen, dass Menschen im All in den ersten 24 Stunden um durchschnittlich 5,5 Zentimeter wachsen. Bei einem Raumfahrer sollen es sogar 13 Zentimeter gewesen sein, sodass ihm bei der Landung sein Anzug nicht mehr passte. Kann man daraus etwas für Menschen mit orthopädischen Erkrankungen ableiten und wie schnell schrumpfen Astronautinnen und Astronauten wieder auf der Erde?

Prof. Jens Jordan: Eigentlich zeigt dieses Beispiel nur, wie sehr unser Körper an die Schwerkraft auf der Erde angepasst ist. Nach der Rückkehr auf die Erde schrumpfen Weltraumreisende innerhalb von Stunden bis zu wenigen Tagen auf die Ausgangsgröße. Das geht schnell – ähnliches können wir auch bei unseren Bettruhestudien in Kopftieflage sehen. Wir gewinnen aber andere Erkenntnisse, die gerade in Bezug auf die alternde Gesellschaft und die damit verbundenen Erkrankungen bedeutsam sind. Umgekehrt lernen wir aus der Altersforschung aber auch viel für die Raumfahrt. Wenn ich mir die Gesamtsituation von Menschen im Weltraum anschaue, ist es quasi ein beschleunigter Alterungsprozess: Nicht nur das Sehvermögen verschlechtert sich, man verliert auch Muskel- und Knochenmasse, kardiovaskuläre Fitness und die Koordinationsfähigkeit lassen nach. Durch die hohe Strahlenbelastung sammeln sich mehr DNA-Schäden in kürzerer Zeit an. Um das zu verhindern, entwickeln und testen wir Gegenmaßnahmen, wie ein besonderes Training, Ernährung etc.

Betreuen Sie auch selbst Missionen?

Prof. Jens Jordan: Nein, aber wir arbeiten mit dem European Astronaut Center (EAC) zusammen. Dorthin entsenden wir auch ärztliche Kolleginnen und Kollegen, die dann Tätigkeiten als Flight-Surgeons übernehmen. Wir kümmern uns aber um die medizinische Nachuntersuchung der Astronautinnen und Astronauten. Nach ihrer Rückkehr wohnen sie auch ein paar Tage im :envihab. Auch waren wir mit Experimenten an der Matthias-Maurer-Mission beteiligt. So konnte er zum Beispiel mit einem portablen, auf künstlicher Intelligenz basierenden Gerät in der Raumstation selbst den Augenhintergrund untersuchen.

Wie geht das überhaupt? Wie versorgt man Astronautinnen und Astronauten auf der ISS?

Prof. Jens Jordan: Dort ist in der Regel kein medizinisches Personal anwesend. Das läuft alles über Telemedizin. So ähnlich wie in Houston gibt es auch am EAC Konsolen, über die man direkt kommunizieren kann. In Zukunft, wenn die Menschen sich noch weiter von der Erde entfernen, wird dies aber nicht mehr möglich sein. Die Funksignale werden mit zunehmender Distanz immer stärker verzögert, sodass eine direkte Kommunikation mit medizinischem Personal auf der Erde oder eine Fernsteuerung von medizinischen Geräten unmöglich wird. Dafür müssen dann autonome Systeme entwickelt werden, also Geräte, mit denen Menschen im All Selbstdiagnosen stellen können und Therapieempfehlungen erhalten. Das ist eine große Herausforderung – aber das ist es ja auch noch in manchen Teilen der Erde.

Checken Sie auch Weltraumtouristen?

Prof. Jens Jordan: Noch nicht, aber vielleicht bald. Denn klar ist: In Zukunft werden auch weniger trainierte Menschen, die vielleicht sogar gesundheitliche Einschränkungen haben, ins All reisen. Das wirft neue Fragestellungen nach Risiken zum Beispiel durch Vorerkrankungen auf. Wir haben beispielsweise in den letzten zwei, drei Jahren gelernt, dass im Weltraum Halsvenenthrombosen auftreten können, wahrscheinlich ebenfalls durch die Verlagerung des Blutes im Gefäßsystem. Das scheint selten zu sein und war eher ein Zufallsbefund, sollte aber ernst genommen werden.

Wie wird man Weltraummediziner?

Prof. Jens Jordan: Das kann man nicht wirklich planen. Es gibt wohl nur wenige Kolleginnen und Kollegen, die das schon immer werden wollten. In der Regel studieren die meisten Medizin, um später in einen Bereich zu gehen, den sie kennen. Und die Weltraummedizin ist eher unbekannt. Ich zum Beispiel komme aus der Herz- und Kreislaufmedizin, mein großes Steckenpferd war schon immer die humane Forschung. Während eines Forschungsaufenthaltes in den USA Ende der 90er Jahre kam ich eher zufällig das erste Mal in Kontakt mit komplexen Kreislaufuntersuchungen während einer Shuttle-Mission. Dadurch bin ich letztendlich beim DLR gelandet.

Suchen Sie aktuell Verstärkung?

Prof. Jens Jordan: Wir haben gerade ein paar Leute eingestellt, freuen uns aber immer wieder über neue Kolleginnen und Kollegen mit Forschungsinteresse.

Das Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR)

Das Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des DLR hat zwei Standorte: die medizinischen und biologischen Abteilungen in Köln und die Luft- und Raumfahrt-Psychologie in Hamburg. Angeboten werden diverse Weiterbildungsmöglichkeiten zum Beispiel für Arbeitsmedizin oder die Betreuung von fliegendem Personal sowie humanphysiologische Workshops und Online-Tagungen. Praktika für Studierende und junge Ärztinnen und Ärzte zum Reinschnuppern gibt’s auch.

Weitere Informationen: www.dlr.de/me.

Der Experte

Prof. Dr. Jens Jordan

Prof. Dr. Jens Jordan leitet das Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln. Der Internist und Klinische Pharmakologe gilt international als Experte für Herzkreislauf- und Stoffwechselforschung.

Bild: © DLR

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