Als Ärztin auf der Sea-Watch: Ein Erfahrungsbericht

24 November, 2021 - 06:19
Michael Fehrenschild
Patricia Neugebauer und Mina Naguib, Sea-Watch
Patricia Neugebauer (links) und ihr englischer Kollege Mina Naguib beim Triagieren eines Geretteten auf der Sea-Watch3

Zahlreiche Medizinerinnen und Mediziner engagieren sich ehrenamtlich in internationalen Krisengebieten – zum Beispiel bei der Rettung von Geflüchteten im Mittelmeer. Doch kann eigentlich jeder dort helfen? Die deutsche Ärztin Patricia Neugebauer von Sea-Watch berichtet über ihre Erlebnisse und gibt Tipps für Interessierte.

Laut UNO-Flüchtlingshilfe waren Ende 2020 etwa 82 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Das entspricht ziemlich genau der Anzahl der gesamten Bevölkerung der Bundesrepublik. Ein vergleichsweise kleiner Teil versucht nach wie vor, über das Mittelmeer die EU zu erreichen. Obwohl deren Zahl seit einigen Jahren rückläufig ist, sterben dabei immer noch weit über tausend Menschen jährlich. Die Dunkelziffer der Opfer dürfte zudem hoch sein. Und auch der medizinische Zustand der Geflüchteten ist oft katastrophal. Manche Ärztinnen und Ärzte helfen vor Ort, direkt auf hoher See. Zu ihnen gehört Patricia Neugebauer.

Die 33-jährige Anästhesistin arbeitete schon vorher für Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen. Als sie auf die Zustände im Mittelmeer aufmerksam wurde, dachte sie: „Da muss ich was tun!“ Also sprang sie fast spontan bei Sea-Watch ein, als dort ein Kollege ausfiel. „Das erste Mal war ich um die Jahreswende 2019/20 dabei. Als ich die Push-Backs der sogenannten libyschen Küstenwache selbst sah, wurde mir eins noch klarer: Aus meiner Sicht ist es ethisch nicht akzeptabel, Menschen in ein Bürgerkriegsland zurück zu schicken, in dem es die übelsten Camps gibt. Viele schauen vor diesem Elend einfach weg. Das möchte ich aber nicht“, erläutert sie die Gründe für ihr Engagement.

Körperliche und seelische Verletzungen

Und so gestaltet sich der Einsatz vor Ort: Die Seenotrettungsschiffe kreuzen zunächst in internationalen Gewässern vor der libyschen Küste. Mit Ferngläsern sucht die Crew den Horizont ab. Dabei werden sie zusätzlich durch Beobachter in Flugzeugen unterstützt sowie durch die Alarm-Phone-Initiative. Diese NGO bietet eine Notruf-Hotline an, die Menschen in Seenot kontaktieren können. Werden Geflüchtete gesichtet, oft auf hochseeuntauglichen Schlauchbooten, übernimmt man die Menschen erst einmal auf kleinere, sichere Schnellboote. Danach werden zunächst medizinische Notfälle, nun die Frauen und Kinder und dann die Männer auf das Hauptschiff gebracht. „Es wäre einfach zu gefährlich, direkt mit dem großen Schiff an den oft kaputten Nussschalen anzulegen“, erklärt Neugebauer. Jetzt kommt das medizinische Team zum Einsatz, das immer aus zwei Ärzten, einem Krankenpfleger und einem Rettungssanitäter besteht.

Die gebürtige Flensburgerin, die im „normalen“ Leben in Aachen am Luisenhospital als Anästhesistin arbeitet, beschreibt das, was nun passiert, so: „Zuerst wird nach internationalem Standard triagiert. Das läuft ab wie bei einer großen Gruppe von Verletzten, auch wenn nicht alle der Geretteten direkt erkennbar verwundet oder erkrankt sind. Wir verteilen grüne, gelbe und rote Armbänder. Rot bedeutet, dass jemand sofortige medizinische Versorgung benötigt. Menschen mit gelbem Band können noch etwas warten und bei grün braucht man erst mal keine Behandlung, denn die Person kann laufen, sprechen und schaut einen wach an."

Schnell wird dabei in der Regel deutlich, wie schwer auch die seelischen Folgen sind. „Die Menschen haben alle eine posttraumatische Belastungsstörung. Wir stellen keine aktiven Fragen, denn das könnte gefährlich werden. Patienten können in dieser Situation leicht die Kontrolle verlieren. Wir hören aber zu, wenn sie erzählen wollen. Manche haben merkwürdige Wunden, oft Anzeichen von Folter. Die Frauen berichten häufig von Vergewaltigungen. Wer sich in diese oft kaputten Boote setzt, für den muss das vorherige Leben an Land wirklich die Hölle gewesen sein. Erst recht, wenn sogar die Kinder mitgenommen werden. Denn sie setzen sich bewusst der Gefahr des Ertrinkens aus“, berichtet die Ärztin.

Was passiert in der Seenotrettungs-Praxis an Bord?

Wenn alle an Bord sind – das können mehr als 400 Personen sein – entwickelt sich sogar eine Art Routine. Nach der Versorgung der Verletzten müssen die Menschen erst einmal beruhigt und überzeugt werden, dass es nicht zurück nach Libyen geht – die größte Angst der Geflüchteten. Danach versucht man die oft Mangel- und Unterernährten mit guter Nahrung zu stärken und ihnen die notwendige Ruhe zu geben. Zudem schauen sich die Ärztinnen und Ärzte zweimal am Tag alle an.

Jenseits der Grundversorgung können die Medizinerinnen und Mediziner aber gar nicht so viel tun; schwierigere Operationen etwa sind nicht möglich. Bei Schwerverletzten muss deswegen mit den zuständigen Behörden beispielsweise von Malta oder Italien verhandelt werden, damit die Patienten zur weiteren Behandlung mit Schnellbooten der zuständigen Küstenwachen abgeholt werden. Nach mancherlei Problemen passiert dies zumeist innerhalb einiger Stunden, manchmal wird die Rettung aber auch verweigert.

Psychische Belastbarkeit ist nötig

Die Rettungseinsätze umfassen in der Regel drei bis vier Wochen. Aktuell sind sie aber wegen den wechselnden Corona-Regeln sehr schwer zu planen und können aufgrund von Quarantänezeiten auch deutlich länger dauern. „Ärztinnen und Ärzte sollten aber nicht monatelang auf dem Schiff sein. Es ist extrem anstrengend und wäre dann zu belastend“, mahnt Neugebauer. Zudem müssen viele dafür entweder ihren Jahresurlaub opfern oder unbezahlten Urlaub nehmen, was nicht immer klappt. Das hängt auch von der Haltung der Arbeitgeber ab. Zudem sind eine gewisse Spontanität und Flexibilität bei Interesse unbedingt erforderlich. Manche kündigen sogar und suchen sich danach eine neue Stelle.

Neugebauer ist nicht nur selbst regelmäßig dabei, sondern auch für das Crewing, das Besatzungsmanagement der Bewerberinnen und Bewerber, zuständig. „Ich bespreche mit ihnen, ob Persönlichkeit und Qualifikation passen, erst dann geht es an Bord“, erläutert die erfahrene Medizinerin. Denn so sinnvoll und wichtig die geleistete Arbeit ist: Wer helfen will, muss selbst auch jede Menge verarbeiten. Die Folterberichte und auch die häufigen, durch Vergewaltigungen verursachten, Schwangerschaften der Patientinnen sind nicht einfach wegzustecken. „Medizinisch schulen wir nicht mehr so viel, diese Kenntnisse muss man schon mitbringen. Wir informieren aber zum Beispiel über die bei den Geretteten häufige Seekrankheit. Wir führen zudem intensive Trainings an Bord durch: So werden gefährliche Situationen wie ‚Mann über Bord‘, Feuer oder gar der Schiffsuntergang geübt. Da muss man schon wissen, was man macht. Der kompletten Crew muss einfach klar sein, wo was im Notfall ist. Die Ärztinnen und Ärzte brauchen aber keine nautischen Kenntnisse mitzubringen."

12.04.2024, Landkreis Passau Gesundheitseinrichtungen - Krankenhaus VILSHOFEN
Vilshofen an der Donau

Übrigens: Alle Beteiligten können durchaus von der immensen Erfahrung älterer Ärztinnen und Ärzte profitieren. „Kürzlich war sogar ein 69-jähriger Kollege im Ruhestand dabei“, sagt Neugebauer, für die es jenseits der vielen schwierigen Situationen auch Momente gibt, in denen sie genau weiß, warum sie das alles auf sich nimmt. „Für mich persönlich war der schönste Augenblick die erste Patientin, die wir an Bord genommen haben. Es war ein vier Monate alter Säugling, ein Mädchen. Sie hatte eine Babyrettungsweste an, schaute mich an und lächelte. Das war sehr ergreifend“, erinnert sie sich.

Was wird aus den Geretteten?

Früher oder später legt das Schiff an Land an und die Mission ist beendet. In der Regel weiß die Sea-Watch-Crew nicht, was danach mit ihren Schützlingen passiert. Wie über ihren Asylantrag entschieden wurde, ob sie ein Bleiberecht bekamen oder wieder abgeschoben wurden, bleibt fast immer unbekannt.

Seit der Gründung konnte Sea-Watch in Kooperation mit anderen NGO Schiffen, Küstenwachen etc. circa 39.000 Menschen retten.  

Wer kann mitmachen?

Prinzipiell gibt es immer Bedarf an Medizinerinnen und Medizinern, die bei der Seenotrettung helfen wollen. Allerdings sollten Interessenten ein paar Dinge beachten, um bei Sea-Watch mitmachen zu können:

  • Jeder muss mindestens zwei Jahre Berufserfahrung in der Akutmedizin haben und selbstständig arbeiten können.
  • Alle sollten körperlich und seelisch belastbar sein. Manche Rettungen können sehr lange dauern. Zudem bekommt man einen Einblick in das Elend der Menschen, mit dem man klarkommen muss.
  • Gefragt sind Fachrichtungen der Akutmedizin (Innere, Chirurgie, Anästhesie, Gynäkologie, Pädiatrie, Allgemeinmedizin, Notfallmedizin und Intensivmedizin) – und zwar aller Altersklassen.
  • Fremdsprachenkenntnisse sind sehr hilfreich, fließendes Englisch ist Voraussetzung, wünschenswert sind Französisch und Arabisch.

Zur Person:

Patricia Neugebauer ist Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin im Luisenhospital in Aachen. 2017 war sie für Ärzte ohne Grenzen im Irak, 2020 in Afghanistan. Zurzeit engagiert sie sich für Sea-Watch und unterstützt die Hilfseinsätze im Mittelmeer.

Kontaktadresse: Patricia@sea-watch.org

Das könnte Sie auch interessieren: