
Die Charité in Berlin umfasst über 3.000 Betten und eine Heerschar von Ärzten und Ärztinnen. Dort kennt wohl niemand alle Kollegen und Kolleginnen. Das sieht auf Borkum „etwas“ anders aus. Chefarzt Stefan Karl Förg und Holger Glienke, Geschäftsführer der Klinikum Leer gGmbH, informieren über Besonderheiten und Arbeitsbedingungen auf der Nordseeinsel.
Herr Förg, wie groß ist das kleinste Krankenhaus Deutschlands?
Stefan Karl Förg: Wir haben acht Planbetten, zwei Privatzimmer und können maximal zwölf Patienten und Patientinnen gut unterbringen. Es gibt zwei Tätigkeitsbereiche: das eigentliche Krankenhaus mit drei Internisten und am Haus angegliedert ein Medizinisches Versorgungszentrum mit einer Allgemeinmedizinerin.
Für wie viele Menschen sind Sie da?
Holger Glienke: Wir versorgen im Schnitt nur vier bis fünf Patienten und Patientinnen stationär. Aber auf Borkum muss man berücksichtigen, dass es extreme Wellenbewegungen gibt. Von Anfang November bis Ostern ist es bis auf Silvester oder ein paar Karnevalsflüchtlinge ruhig. Aber im Sommer tummeln sich bis zu 35.000 Urlauber auf einmal hier.
Dann ist also richtig viel zu tun und im Winter bleibt es eher entspannt?
Stefan Karl Förg: Ruhige Zeiten sind in der Medizin immer so eine Sache. Im Winter bleibt uns schon mehr Zeit für den Einzelnen als in einer großen Klinik. Doch im arbeitsreichen Sommer kommt noch etwas hinzu: Die Menschen wollen im Urlaub nicht krank sein, da sind die Diskussionen mit fast allen eher intensiver.
Holger Glienke: Wenn Borkum voll mit Urlaubern ist, sind viele Einheimische oft auch in einem Zweitjob tätig, der etwas mit dem Tourismus zu tun hat. Entweder sind sie mit der Vermietung von Zimmern und Ferienwohnungen beschäftigt oder arbeiten in der Gastronomie. Da käme keiner auf die Idee, etwa ein Langzeit-EKG zu machen, das passiert im Winter. Dann haben die etwa 5.700 Inselbewohner überhaupt mehr Muße, sich um ihre persönlichen Befindlichkeiten oder Krankheitssymptome zu kümmern.
Also ist es in der Urlaubssaison kein nine to five Job?
Stefan Karl Förg: Im Sommer ist die Sprechstunde um 18 Uhr nicht zu Ende. In dieser Zeit ist unser Job schon sehr anspruchsvoll, auch bei Dunkelheit passiert immer wieder etwas bei so vielen Urlaubern. Man geht feiern, trinkt vielleicht Alkohol und auf dem Heimweg kann schnell was schief gehen. Wir müssen dann nachts oft drei-, viermal zur Notfallversorgung raus. Aber auf Borkum läuft nicht, wie etwa auf Norderney, das ganz heftige Nachtleben, es gibt eher mehr Kneipen und Restaurants.
Was können Sie gut behandeln, und wo sind die Grenzen?
Stefan Karl Förg: Alle internistischen Erkrankungen, aber auch solche aus anderen Fachbereichen, die nicht überwachungspflichtig sind oder eine Intensivstation benötigen, können wir hier zumindest erst mal behandeln. Dann müssen wir entscheiden, ob wir den Patienten oder die Patientin wegen der besseren Diagnostik in ein großes Haus auf das Festland bringen, etwa wenn ein CT erforderlich ist. Auch wenn eine Operation notwendig ist, müssen wir die Menschen verlegen.
Holger Glienke: Wir können hier aber schon digital röntgen. Das bedeutet, dass Aufnahmen, die auf Borkum gemacht werden, bei Bedarf auch zusätzlich im Klinikum Leer betrachtet werden können. So können unsere Internisten auf der Insel mit den Fachkolleginnen und -kollegen auf dem Festland beispielsweise die Frage klären, ob jemand verlegt werden muss.
Können Sie einen normalen Arbeitstag schildern?
Stefan Karl Förg: Der Tag fängt immer auf der Station an, wo wir die Patientinnen und Patienten besprechen und die Visite durchführen, so wie in jedem Krankenhaus. Danach startet die Arbeit im benachbarten MVZ. Wir arbeiten sowohl im Krankenhaus als auch dort. Hier finden zum Beispiel ambulante Ultraschall-Untersuchungen an Herz und Bauch statt. Auch werden Röntgenaufnahmen der Lunge gemacht oder wir untersuchen den Verschleiß des Skeletts. Das nimmt den Rest des Tages ein. Wenn zwischendurch mehr stationäre Fälle kommen, müssen wir das Krankenhaus mitversorgen. Immer im Wechsel, das ist schön, weil abwechslungsreich.
Wie breit ist das Spektrum?
Stefan Karl Förg: Wir haben alles, was man sich an Befunden vorstellen kann: von Husten, Schnupfen, Heiserkeit bis zu schwersten somatischen Erkrankungen. Teilweise gehen die Menschen schon mit schweren Vorerkrankungen in die Ferien, was hier auffällig wird. Dann müssen wir schauen, wie wir das handhaben, ob wir sie auf der Insel behandeln können oder nicht.
Gibt es Besonderheiten im Arbeitsablauf?
Holger Glienke: Ja, etwa, dass immer zwei Ärzte im Rufdienst sein müssen. Denn es gibt im Jahr etwa 120 Noteinsätze, also jeden dritten Tag muss einer der Beiden mit dem Notarztwagen raus. Dazu kommt die Begleitung der Hubschraubertransporte. Direkt beim Krankenhaus befindet sich ein Hügel, auf dem der Heli landet. Da kann man die Menschen aus dem Krankenhaus direkt hineinschieben. Jährlich finden etwa 300 Flüge zur Verlegung ins Klinikum Leer, aber auch nach Emden oder Wilhelmshaven statt. Dazu kommen bei schlechtem Wetter rund ein Dutzend Fahrten auf dem schnellen Seenotrettungskreuzer in Richtung Eemshaven an der niederländischen Küste. Von dort werden die Patientinnen und Patienten von einem Rettungsfahrzeug aus Leer in Empfang genommen.
Gibt es für Sie noch andere schwierige Situationen?
Stefan Karl Förg: Ein Beispiel: Die Insulaner kriegen ja auch Kinder, wir sind aber für Geburten nicht eingerichtet und müssen die Schwangeren aufs Festland bringen. Es passiert aber trotzdem, dass ein Baby hier auf die Welt kommt, wenn der Geburtsvorgang so weit fortgeschritten ist, dass der Hubschrauber nicht mehr rechtzeitig da sein kann. Das ist ein erhöhtes Risiko für Mutter und Kind, weil wir fachfremd sind, und die nötige Weiterversorgung nicht so gut machen können. Aber das ist Gott sei Dank selten.
Was sind die Vorteile im kleinsten Krankenhaus?
Holger Glienke: Der Beruf hier ist so, wie man ihn sich als Studierender anfangs vorstellt: Arbeit über die Sektorengrenzen hinweg inklusive der Möglichkeit der weiterführenden Diagnostik. Ich kann auf der Insel nicht als Internist tätig sein, ohne nach links und rechts zu gucken. Manche jungen Medizinerinnen und Mediziner haben davor aber vielleicht Angst und Respekt. Denn hier kommt auch Unfallmedizin und eventuell Intubieren dazu.
Stefan Karl Förg: Mir gefällt am besten das breite Arbeitsspektrum, was ich mir vorher gar nicht vorstellen konnte. Ich habe auch Gefallen daran gefunden, mich mit der Unfallchirurgie auseinanderzusetzen. Man muss das alles aber auch mögen. Denn man sollte viel über den Tellerrand schauen und muss Entscheidungen treffen, auch außerhalb dessen, was man in seinem Fach gelernt hat.
Und die Nachteile?
Holger Glienke: Die Ärztinnen und Ärzte sind sehr eingebunden. Weglaufen kann man ja nicht, hier ist ja nur viel Wasser drum herum. Auch wenn man Dienst hat und gerade spazieren geht oder Fahrrad fährt, dauert es nicht lange, bis man wieder im Krankenhaus ist. Das ist gut für die Versorgung, aber die Ärztinnen und Ärzte müssen lernen, damit umzugehen. So viele gibt es nicht auf der Insel, sie sind hier nie nur privat, jeder kennt sie.
Kein Job wie jeder andere?
Holger Glienke: Die Insel ist speziell, man muss sich mit dem kleinen Team und der Bevölkerung arrangieren. Wir empfehlen jedem, sich Borkum zumindest ein paar Tage anzuschauen, das Team kennenzulernen und die Rahmenbedingungen zu checken. Damit man weiß, was einen erwartet. In unserem kleinen Krankenhaus ist alles tip top, vom neuen Bau bis zur Ausstattung. Aber in einem großen Klinikum ist immer noch jemand da, der um Rat gefragt werden kann. Hier ist man oft der Letztentscheider, muss sagen, jemand bleibt oder nicht. Dafür braucht es ein bisschen Mut, aber bitte nicht zu viel, denn die Fachkolleginnen und -kollegen am Klinikum in Leer können ja auch in den Entscheidungsprozess eingebunden werden.
2010 stand die Schließung zur Debatte. Wie konnte das Inselkrankenhaus gerettet werden?
Holger Glienke: Bevor wir es übernahmen, gab es jährlich 650 Hubschraubereinsätze. Jeder kostet etwa 2.000 Euro. Jetzt sind es noch 300 bis 350. Bei einer Schließung wäre ein zweiter Hubschrauberstandort fällig geworden, und der kostet sicher mindestens drei Millionen Euro im Jahr. So gab es aus Sicht der Krankenkassen und des Sozialministeriums keine Alternative als die Fortführung des Krankenhauses.
Herr Förg, wie kamen Sie nach Borkum?
Stefan Karl Förg: Ich bin kein Aussteiger, der auf eine Insel wollte. Mich hat es eher zufällig hierhin verschlagen. Die Stelle war im Deutschen Ärzteblatt ausgeschrieben, ich las sie und war interessiert. Nun bin ich seit neun Jahren hier und mag es sehr. Im Sommer mit den vielen Gästen ist es nicht immer angenehm, weil alles überfüllt ist. Aber in den ruhigen Monaten kann ich am Strand laufen und sehe kaum jemanden.
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Stefan Karl Förg
Holger Glienke
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