Kinder, Rentner, Feuerquallen: Dr. Frank Kortenhorn ist Inselarzt und kennt keine Langeweile, vor allem nicht in der Hauptferienzeit. In der Nebensaison kann er dagegen das Meer, die Ruhe und die Weite genießen.
Vom kleinen Wehwehchen bis zur Intensivmedizin: „Wir kümmern uns um alles“, sagt Dr. Frank Kortenhorn. Wie häufig seine Hilfe benötigt wird, hängt jedoch von der Jahreszeit ab. So richtig brummt's im Hochsommer. „In der Hauptsaison haben wir rund 12.000 Gäste“, erklärt er. Und dann kommt es durchaus vor, dass am Vormittag 60 Patienten seine Hausarztpraxis aufsuchen und am Nachmittag 40.
Dazu kommen mehrere Notfall-Einsätze, denn er hat immer „den Funk am Mann“. Piept es, steigt er in den Touran oder schwingt sich aufs Fahrrad, zum Beispiel wenn er an den Strand geholt wird. Mitunter ruft er sogar bis zu dreimal am Tag den Rettungshubschrauber. „Die Flugzeit vom Festland beträgt nur zehn Minuten. Wenn ich bei gutem Wetter direkt einen Heli kriege, bekomme ich den Patienten in einer Viertelstunde von der Insel. Damit kann er hier schneller im Krankenhaus sein als in mancher Großstadt“, beschreibt Kortenhorn den Optimalfall. Insgesamt ist er so jede zweite Woche im Dienst, sieben Tage à 24 Stunden.
Petermännchen, aber keine Badeunfälle
Die meisten Besucher der ostfriesischen Insel sind Familien und Senioren, wegen des ortsnahen Strands. Letztere mit den entsprechenden Gebrechen von Herzinsuffizienz über Lungenentzündungen bis zu entgleistem Diabetes. „Das gesamte Spektrum eben“, berichtet er und ergänzt: „Darunter sind auch immer wieder einige Schwerkranke, die sich relativ naiv auf eine Insel begeben. Erst heute Morgen hatte ich einen Nierentransplantierten. Er sagte: ,Ich habe jetzt Wasser eingelagert.‘ Aber da war das Labor schon weg… Und ich antwortete: ‚Na, dann gucken wir mal morgen früh, ne?‘“. Dazu kommen klassische Ferienunglücke: „Fahrradstürze sind auf unserer autofreien Insel relativ häufig oder orthopädisches, zum Beispiel Menschen, die sich den Fuß in den Dünen umknicken.“ Und natürlich reichlich Sonnenbrände. Zudem gibt es Feuerquallen und manchmal giftige Petermännchen-Fische, in die manche Pechvögel reintreten. Und auch Goldafterraupen im Sanddorn können allergische Reaktionen auslösen.
Auch kommt es ab und an zu Surfunfällen sowie immer wieder zu dem ein oder anderen ungewöhnlichen Einsatz. So war vor einigen Jahren eine demente Patientin entlaufen. Auf der Suche nach ihr flog der Polizeihubschrauber abends mit der Wärmebildkamera den Strand ab. Er fand aber nur Seehunde, die im Flut-Saum lagen – dachte er zumindest. Denn am nächsten Morgen stellte sich heraus, dass es sich doch um die ältere Dame handelte. „Unser Polizist wollte die Person identifizieren, drehte sie um und da nahm sie einen tiefen Atemzug. Wir infundierten warme Infusionen, begannen mit Wärmeerhaltung und flogen sie aus“, erinnert sich Kortenhorn, der dann ganz schnell mit dem Feuerwehr-Jeep ans andere Ende der Insel gefahren wurde. Am nächsten Tag war sie körperlich wieder fit.
Im Gegensatz zu den anderen Inseln ertrinkt aber so gut wie niemand auf Wangerooge. Die charakteristischen Steinbuhnen verhindern gefährlichen Querströmungen. Ebenso gibt es kaum Phosphor-Verbrennungen, die eine wirkliche Gefahr für Strandbesucher darstellen. „Vor allem an der Ostsee denken die Leute, dass sie Bernstein sammeln und stecken sich dann Phosphor in die Tasche, wo er sich beim Trocknen entzündet. Obwohl auch bei uns viele Kriegslasten hier vor der Küste liegen, hatte ich aber erst einen Fall mit einer solchen Verbrennung“, informiert der gebürtige Nordrhein-Westfale.
Gestorben wird im Winter
In der Nebensaison kehrt dagegen Ruhe ein auf dem knapp acht Quadratkilometer großen Eiland. „Manchmal habe ich dann wochenlang keinen einzigen Nachteinsatz. In den Winter-Quartalen machen wir überhaupt nur so 550 bis 600 Scheine. Dann ist es eine kleine, schnuckelige Hausarztpraxis“, erzählt der Inseldoc, der sich in dieser Zeit intensiv um seine Insulaner kümmert, also die ganzen Vorsorgen, Check-ups und Impfungen erledigt. „Die Einheimischen kommen in der Hauptsaison so gut wie nicht. Im hiesigen Volksmund heißt es auch: Gestorben wird auf Wangerooge nur im Winter. Im Sommer haben die Insulaner keine Zeit dazu.“
Viele sind es ohnehin nicht, die Gemeinde zählt gerade mal rund 1.200 Einwohner. Dabei ähnelt die lokale Klientel teilweise den Gästen. Denn auch unter den Inselbewohnern gibt es zahlreiche Ältere und Hochbetagte mit dementsprechenden Problemen. Mittlerweile haben sich dort aber auch recht große Communities aus Südosteuropa und dem Baltikum fest angesiedelt, die als Servicekräfte arbeiten. „Ich habe ein wenig gebraucht, um bei ihnen einen Fuß in die Tür zu bekommen. Inzwischen ist Google-Translate aber mein bester Freund“, erläutert Kortenhorn und merkt bedauernd an: „Uns fehlt leider die Mittelschicht. Für eine normale Familie mit zwei oder drei Kindern gibt es kaum bezahlbaren Wohnraum. Wir leiden wie andere Inseln unter der Gentrifizierung.“
Viele Fachgebiete bis zur Veterinärmedizin
Ob einheimisch oder im Urlaub: Neben den Erwachsenen behandelt er auch die kleinen Patienten. „Die U-Untersuchungen übernimmt der Kinderarzt in Jever. Aber vieles Akute, wenn ein Knirps vom Klettergerüst fällt oder vom Laufrad kippt und nun eine Platzwunde hat oder unter Husten, Schnupfen, Heiserkeit leidet, das machen wir alles hier, inklusive der Fortführung der Impfungen“, führt er aus. Überhaupt berührt die Arbeit des Inselarztes viele Disziplinen: von Dermatologie über Augenheilkunde, von kleiner Chirurgie bis zur Gynäkologie.
Und manchmal verarztet er sogar Vierbeiner. „Ich bin kein Tierarzt, versorge aber sozusagen als veterinärmedizinischer Assistent vor Ort die Kleintiere erstmal. Wenn ein Hund Koliken hat, spritze ich ihm Novalgin ‚unter die Jacke‘ oder wenn sich zwei Hunde gekabbelt und Löcher im Pelz haben, nähe ich die auch zu“, sagt Kortenhorn, der als Hundebesitzer denkt: „Ich kann die doch nicht so lassen“. Dafür hängt er viel zu sehr an seinem Michel, einem zwölf Jahre alten Goldie, der seit einem Jahr um seinen verstorbenen Bruder Elton trauert.
Wanted: Kollege/in mit Berufserfahrung
Kortenhorn selbst kam 2006 ins Nordseeheilbad – über eine kleine Anzeige im Deutschen Ärzteblatt. Am 1. November zog das Ehepaar aus dem Ruhrgebiet um, gleich mit der Allerheiligen-Sturmflut. Bis 2019 teilte er sich die Praxis mit seinem Seniorpartner, der dann in den Ruhestand ging. Im Moment hat der 52-Jährige daher vor allem einen Wunsch: einen neuen Kollegen für die Praxisgemeinschaft zu finden. Dieser braucht die Zusatzbezeichnung Notfallmedizin nicht, aber die Fachkunde Rettungsdienst sowie Berufserfahrung. Denn natürlich kann es auch mal „richtig zur Sache“ gehen.
Im ersten Jahr erlebte er sogar einen Flugzeugabsturz. „Das war ein misslungener Start. Der Flieger war auf der Wiese zerschellt und kreiselnd in den Deichgraben gerutscht. Dort hatte ich dann vier Polytraumata. Das war eine groß angelegte Rettungsaktion mit drei Rettungs- und einem Polizeihubschrauber.“ Vor zwei Jahren wiederum wurde er zu einem anderen schlimmen Unfall gerufen. „Eine junge Frau wollte noch auf die anfahrende Inselbahn aufspringen. Sie wurde daruntergezogen und an beiden Beinen schwerstverletzt.“
In einem solchem Fall macht er normalerweise nur eine symptomatische Notfallversorgung und dann geht’s ins Krankenhaus zur weiteren Behandlung. Doch das klappt nicht immer reibungslos. Bei schlechter Sicht fliegt der Heli nicht, dann kommt das Rettungsboot zum Einsatz, aber nur „wenn wir Wasser haben“. Denn Wangerooge ist eine tide-abhängige Insel und zwei mal sechs Stunden pro Tag vom Seeweg abgeschnitten. Da kann es auch mal vorkommen, dass gar nichts geht. „Dann muss man das ein paar Stunden aushalten, improvisieren und zum Beispiel den Oberschenkelhalsbruch mit Schmerzmitteln ins Bett legen“, so Kortenhorn und schildert ein weiteres Beispiel: „Erst neulich hatte ich einen Patienten mit akuter Linksherzinsuffizienz, der innerhalb von zwei Stunden beatmungspflichtig wurde. Ich telefonierte mit der Leitstelle, die sagten ‚die Bundeswehr kommt‘. Dann habe ich ihn intubiert, beatmet und Narkose eingeleitet. Wenig später bekam ich einen Anruf, dass die Bundeswehr nun doch nicht fliegen kann. Richtung Festland war wegen Nebels nichts drin. Aber unser Sauerstoff reicht nicht sehr lange. Wir haben im Wagen nur eine begrenzte Menge davon, das muss also innerhalb von ein paar Stunden erledigt sein“, erzählt Kortenhorn. Doch er – und vor allem der Patient – hatten Glück. Es kamen die Offshore-Retter aus Sankt Peter-Ording, die den Patienten dann querab nach Bremerhaven flogen.
Egal was passiert, stets hat sich für ihn eine Grundregel bewährt: „Tue nur Dinge, deren Komplikationen du beherrschen kannst“, stellt Kortenhorn klar. Und bislang ist trotz einiger nervenzerrender Aktionen immer noch alles gut gegangen. Auch seine hochschwangeren Patientinnen konnte er stets zügig von der Insel befördern, wenn die Wehen begannen. „Eine normale Entbindung wäre kein Problem, aber für eine mögliche Komplikation wie eine Zangengeburt, ein Dammschnitt oder eine Schulterdystokie bin ich nicht erfahren genug. Falls nötig, würde ich das unter telefonischer Anleitung machen, aber das ist nichts, wo ich mich freiwillig drum reiße“, betont er. Manchmal war es allerdings schon sehr knapp. Es wurden bereits Babys zehn Minuten nach der Landung geboren.
Hohe Zuschläge und Zeit mit der Familie
Und: Inselarzt lohnt sich. Denn es winken hohe Zuschläge für die Bereitschaftsdienste, sodass man im Prinzip für weniger Arbeit im Winter genau das gleiche bekommt wie auf dem Festland. Außerdem kommen viele Privatpatienten im Sommer, zuletzt vor allem Schweizer. Ein potenzieller neuer Kollege sollte aber wissen: „In der Dienstzeit hängst du auf der Insel fest und kannst nicht spontan mal eben in den Baumarkt fahren… Wenn man hier sein möchte, ist es ein Paradies, wenn nicht, kann es wie Alcatraz wirken.“
In seiner Praxisgemeinschaft könne man aber ganz unkompliziert im Wechsel arbeiten – und auch Urlaub wunderbar absprechen, zum Beispiel jeder vier Wochen im Frühjahr und im Herbst nehmen. Man teilt sich die Zeit einfach komplett durch zwei, wie es auf den kleinen Inseln üblich ist. Von Ende Februar bis Anfang März sind zudem zwei Wochen Inselferien. Wichtig zu wissen für Eltern: Es gibt ein Inselgymnasium bis zur 10. Klasse. Zudem kann man trotz aller Arbeit immer mit der Familie zusammen sein. „Sie sehen Ihre Kids dreimal am Tag, beim Frühstück beim Mittagessen und beim Abendessen“, sagt der passionierte Motorboot-Skipper, der seine Entscheidung nach Wangerooge zu gehen noch keinen Tag bereut hat. „Ich bin hier mein eigener Herr, kann meine persönliche Note reinbringen und arbeiten wie ich möchte. Für mich ist das ein Traum-Job.“
Also, wer naturaffin ist, gerne selbstständig medizinisch arbeitet und Entscheidungen treffen kann, ist dort goldrichtig. Und am besten mit Hund, dann ist Michel nicht mehr so allein.
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