Ein sorgfältiger Umgang mit der Eigensprache des Gegenübers (Idiolekt) wie auch mit der eigenen würde helfen, viele Komplikationen im Medizinbetrieb zu vermeiden.
Die Eigentümlichkeit eines Menschen kann zur Quelle für Kooperation, Integration und Heilung werden. Um die Subjektivität eines Menschen einzubeziehen, bedarf es eines methodischen Werkzeugs. Der Idiolekt bietet dazu eine ausgezeichnete Möglichkeit, weil sich in den Eigentümlichkeiten des Sprach- und Sprechverhaltens die subjektive Lebenswelt eines Menschen in verdichteter Weise wiederfindet.
Eine Rheinländerin in Oberfranken
Ein Beispiel: Eine 88-jährige Patientin wird nach einem Sturz mit Fraktur des linken Oberschenkels nach chirurgischer Versorgung in die Abteilung für Akutgeriatrie und Frührehabilitation verlegt. Die vormals völlig selbstständig lebende Patientin zeigt ausgeprägte nächtliche Unruhe, Orientierungsstörungen, ist gegenüber Pflegenden abwehrend, teils verbal oder auch körperlich aggressiv. Die Ärzte passen die Medikation im Sinne einer komplexen Schmerztherapie wiederholt an. Darüber hinaus erhält sie ein starkes Beruhigungsmittel. Pflegekräfte beschreiben sie als schwierig, „wehrig“ und schlecht „führbar“. Die Ärzte sprechen davon, Psychopharmaka und Schmerzmittel müssten „noch besser eingestellt werden“.
Wir besuchen die Patientin in der Visite. Sie gibt sich weinerlich, klagt, ihre Stimme bricht immerfort. Sie hat keinen Appetit. Zum Trinken muss sie angehalten werden, ein Häufchen Elend, halb ausgetrocknet. Im Gespräch fällt mir ein rheinländischer Dialekt auf. Ich setze mich zu ihr, nehme ihre Hand und frage: „Was macht denn eine Rheinländerin in Oberfranken?“ Die Frage scheint durch alles Klagen hindurchzuschneiden. Die Patientin verstummt und nimmt das erste Mal richtigen Blickkontakt auf. Ihre Augen füllen sich in Sekundenschnelle mit Leben. „Die Liebe“, sagt sie. Im Zimmer ist es auf einen Schlag still. Eine Atmosphäre von Berührtsein füllt den Raum. „Die Liebe“, wiederhole ich interessiert. „Ja. Mein Mann kommt aus dem Nachbarort. Und nachdem wir viele Jahrzehnte gemeinsam in der Nähe von Düsseldorf in meinem Elternhaus gelebt haben, sind wir vor Kurzem in seine Heimat gezogen. Unsere Kinder leben schon seit vielen Jahren hier und wollten uns in ihrer Nähe haben.“
Idiolekt als Türöffner zu einem Menschen
Aus diesem kurzen Dialog ergibt sich ein Gespräch, das etwa sieben Minuten dauert. Alle Beteiligten schätzten die gefühlte Dauer anschließend deutlich länger ein. Das ist charakteristisch, wenn Situationen eine hohe Dichte aufweisen. Die Patientin erzählt von ihren Kindern, ihrem Mann, dass sie ihn vermisst, und sie erzählt von ihrem Elternhaus, das sie auch sehr vermisst. Dabei legt sich wieder ein Schatten von Traurigkeit über ihre Miene. Sie drückt meine Hand, die sie immer noch hält. „Jetzt ist es besser“, sagt sie.
In diesen sieben Minuten, im Grunde schon nach der ersten Antwort, hat sich ein Raum für eine Beziehung aufgespannt. Die Schmerzen stehen nicht mehr im Vordergrund. Eine scheinbar unbedeutende Randerscheinung, der Dialekt als die Sprache begleitende Nuance, wirkt wie ein Türöffner zu diesem Menschen. In diesem kurzen Dialog war es ihr möglich, sich in ihrer persönlichen Situation neu zu verorten. Sie konnte die Gelegenheit nutzen, sich darauf zu besinnen, sich in ihrer persönlichen Umgebung, die mehr umfasst als Schmerz und Einschränkungen, nämlich die Liebe, neu zu finden.
Im weiteren Behandlungsverlauf konnten die Medikamente rasch reduziert werden. Die Nächte besserten sich. Die Patientin machte die Therapie eifrig mit, um möglichst schnell nach Hause zurückkehren zu können. Nach zwei Wochen wurde sie nach Hause entlassen.
Methodischer Umgang mit der Eigensprache
Die Technik, die der Patientin den Besinnungs- und Findungsprozess ermöglicht hat, nennt sich Idiolektik. Sie ist der methodische Umgang mit der Eigensprache eines Menschen. Dazu zählen sämtliche Facetten von Sprache: die Worte und alles Gestische. Der Dialekt gehört zu den paraverbalen Aspekten und kann ebenso wie eine Geste als Schlüsselphänomen aufgegriffen werden. In anderen Fällen kann dies ein Wort sein, das durch seine Intonation, eine begleitende Geste oder aufgrund seines metaphorischen Gehalts als Schlüsselphänomen zur Lebenswelt eines Menschen führt.
Das interessierte, wohlwollende und mitfühlende Aufgreifen eigentümlicher Aspekte einer Äußerung, solcher Schlüsselphänomene, führt verlässlich zu einer Qualität von Beziehung, die von starker Resonanz geprägt ist. In diesem Gespräch zeigte sich das an den verbalen und nonverbalen Reaktionen der Patientin, wie auch an den Reaktionen der Umstehenden, die ohne jede Aufforderung still wurden, weil sich für alle spürbar etwas Ungewöhnliches ereignete. Der Dialekt war der Schlüssel zur subjektiven Lebenswelt dieser Frau. Hätte sich das Gespräch vor allem mit „medizinisch relevanten“ Fakten aufgehalten, wäre es vielleicht möglich gewesen, die Patientin zu erreichen. Doch wäre es unmöglich gewesen, den Menschen in der Patientin zu erreichen.
Idiolektik bringt Farbe ins Gespräch
Zugleich lehrt der Umgang mit der Eigensprache von Patienten, mit den eigenen Sprach- und Sprechgewohnheiten bewusster umzugehen. Dann fällt es dem Sprechenden eventuell auf, dass ein Patient mit Sicherheit nicht zur „Einstellung von Blutdruck“ kommt, weil eine „Einstellung“ nur bei einer Maschine denkbar ist. Es wäre auch nicht die Rede davon, dass „ein Patient schwierig ist“. Allenfalls würden Ärzte davon sprechen, dass ein Patient herausforderndes Verhalten zeigt, besser noch, dass sie sich von dem Verhalten eines Patienten herausgefordert fühlen. Auch würde niemand davon sprechen, dass eine Patientin „schlecht führbar“ ist, da sie als Mensch und nicht als Tier wahrgenommen würde.
Sobald Patienten spüren, dass sie in einer aufrichtigen Weise als Mensch angesprochen werden, verändert sich die Beziehung immer eindrücklich – von funktional hin zu persönlich, von unkooperativ hin zu kooperativ, von feindselig hin zu freundschaftlich. Damit erfüllen solche Gespräche eine weitere Funktion: Sie erlauben es, den Behandelnden, der Ärztin, dem Pfleger, der Therapeutin ebenfalls als Menschen wahrgenommen zu werden. Idiolektik bringt Farbe ins Gespräch. Sie weckt Kreativität auf allen Seiten und führt zu resonanten Beziehungen.
Dtsch Arztebl 2020; 117(39): [2]
Der Autor:
Dr. med. Eckard Krüger
Facharzt für Allgemeinmedizin
Chefarzt der Abteilung für Akutgeriatrie und Frührehabilitation
Kliniken HochFranken, Klinik Naila
95119 Naila