Der Kaminaufstieg in der Klinik: Tipps für die Turbo-Karriere

25 Januar, 2023 - 08:45
Gerti Keller
junger, selbstbewusster Arzt

Die Turbo-Karriere ist in der Medizin keine Ausnahme mehr. Kaum den Facharzttitel in der Tasche, werden junge Medizinerinnen und Mediziner oft schon auf eine Oberarztstelle befördert. Auch auf dem Chefarztsessel sitzen zunehmend Jüngere. Der Psychologe und erfahrene Arzt-Coach Thomas Röhrßen weiß, was beim schnellen Aufstieg hilfreich ist und wie sich Stolpersteine vermeiden lassen.

Der Kaminaufstieg gilt als steil, aber auch als rußig. Trifft das auch auf die Ärzteschaft zu?

Thomas Röhrßen: Für engagierte und kompetente Assistenzärztinnen und Ärzte in der Regel nicht. Wer fachlich gut ist, wird schlichtweg gebraucht. Manchmal warten Chefs und die ganze Truppe sogar darauf, dass endlich ein qualifiziertes Talent aus dem Kollegium aufsteigt. So winkt die Beförderung zum Oberarzt oder zur Oberärztin immer öfter bereits Monate nach dem Facharzt. Doch auch wenn deren Aufgaben zunehmend organisatorisch sind, werden neue Oberärztinnen und -ärzte die Klinik ja nicht „auf den Kopf“ stellen – und bieten als neue „kleine Chefs“ damit wenig Angriffsfläche. Die Abteilung ist durch den Chefarzt oder die Chefärztin geprägt, die Vorgaben sind klar. Erst beim nächsten Etagenwechsel findet der große Rollentausch statt. Das ist eine ganz andere Liga.

Ich habe gehört, dass Oberärztinnen und -ärzte oft noch keine Führungsverantwortung übernehmen wollen…

Thomas Röhrßen: Das sehe ich nicht so. Meiner Erfahrung nach wollen die meisten durchaus Verantwortung übernehmen, zum Beispiel in der OP-Planung, der Ambulanzorganisation, der Koordination einzelner Diagnostikeinheiten, der Personalplanung sowie auch im Teaching und Coaching der Assistenzärztinnen und -ärzte. Das Problem ist nur, dass ihre Aufgaben häufig nicht klar definiert sind, was ungesund für jede Klinik ist. Ich arbeite in meiner Führungsberatung intensiv daran, dass die Oberarztrolle klarer wird und sie in ihrer Rolle unterstützt werden. Das zu respektieren, müssen manchmal auch die Chefärzte lernen, heißt: Kontrolle abzugeben, ohne sich aus dem Tagesgeschäft ganz zu verabschieden. Sie müssen wirklich aushalten, dass Oberärztinnen und Oberärzte in diesen delegierten Bereichen selbstständig mit viel Spielraum führen dürfen.

29.03.2024, klinik Werk.
29.03.2024, Clienia Littenheid AG
Sirnach

Was müssen Durchstarter allgemein beachten?

Thomas Röhrßen: Ursprünglich kommt der Begriff Kaminaufstieg aus der Welt der Bergsteiger und beschreibt das Hochklettern in einer engen Felsspalte, oft durch bloßes Abstützen des eigenen Körpers. Ganz so auf sich allein gestellt ist man bei der Medizin-Karriere aber nicht. Im Gegenteil: Wer einen Kaminaufstieg „hinlegt“, muss auch bei toller fachlicher Kompetenz vor allem das Umfeld mitnehmen. Das gilt noch nicht so für die Oberarztposition, in die man in aller Regel ohne große Brüche gleitet, sondern für die nächste Stufe. Für den Chefsessel braucht es soziale Kompetenz. Dafür gibt es die folgende, schön einfache Definition: Ein sozial kompetenter Mensch setzt eigene Ziele durch, aber bei maximaler Anerkennung, Wertschätzung und Empathie für die Interessen anderer. Diese Balance zu finden und zu halten ist heutzutage ganz elementar. Sonst ist man ganz schnell draußen und isoliert.

Was sind dafür die ersten Anzeichen? Kann es sein, dass auf einmal keiner mehr mit mir Essen geht?

Thomas Röhrßen: Das läuft nicht übers Essen gehen. Es findet keine „kalte“ Ausgrenzung statt, sondern es geschieht viel subtiler. Meist herrscht eine reservierte Kultur vor, die Leute fremdeln, was untergründig zu einem Auseinanderdriften führt. Dieser Prozess verläuft schleichend, sodass Sie zunächst kaum etwas davon spüren. Nicht selten erkennt man das erst, wenn das Team bereits gespalten und es zu spät ist. Und dass zumeist nur, weil nicht rechtzeitig miteinander gesprochen wurde.

Was sind die empfehlenswerten Schritte für einen guten Start, vor allem wenn ich neu in die Klinik komme?

Thomas Röhrßen: Man muss respektieren, dass die Abteilung, die man übernimmt, vorher auch schon Medizin gemacht hat. Als neue Oberärztin oder Oberarzt und natürlich auch in der neuen Chefarztrolle sollte ich nicht durch bestimmte Bemerkungen in Visiten oder Dienstbesprechungen ständig durchblicken lassen, dass ich die Fachlichkeit des Kollegiums nicht schätze. Auch eine Innovation nach der anderen gibt dem Team das Gefühl, dass sie vorher nichts richtig gemacht haben. Das kann zu einer stillen Ablehnung führen. Ich empfehle den Grundsatz erst „Pacing“ dann „Leading“. Das heißt erst ankoppeln und einfügen, dann führen und verändern. Wer zu schnell ist, kann zum Fremdkörper in der eigenen Abteilung werden.

Und der interne Aufstieg: Wenn ich gestern die Kollegin war und heute die Chefin? Wie gehe ich mit jetzt untergebenen Freunden um?

Thomas Röhrßen: Sie sollten nicht von jetzt auf gleich einen völlig neuen Kommunikationsstil pflegen. Es empfiehlt sich, die bestehenden vertrauensvollen kollegialen Beziehungen zu halten. So dürfen Sie zum Beispiel weiterhin gemeinsam joggen oder sich duzen. Alles andere wäre eine Irritation. Dennoch sollten Sie „alten Freunden“ klar machen, dass Sie sich jetzt in einer anderen Verantwortungsposition befinden, aus der sich Veränderungen im Verhalten und Vorgehen ergeben. Das muss manchmal auch im Vier-Augen-Gespräch geklärt werden.

Wie sollte ich mit Kolleginnen und Kollegen umgehen, die sich ebenfalls Hoffnungen auf die Beförderung gemacht hatten und an denen ich vorbeigezogen bin?

Thomas Röhrßen: Auch hier ist es ratsam, das offene Gespräch zu suchen. Also: Schieflagen nicht tabuisieren, sondern an die Menschen herantreten. Wenn Sie merken, dass irgendetwas stört, sollten Sie sich nicht scheuen, das direkt anzusprechen. Ich nenne das die Gretchenfrage: „Akzeptieren Sie meine Führung?“ Darauf gibts zwar meist keine offene Antwort. Sie machen Ihrem Gegenüber aber schon klar, dass Sie ihn oder sie auf dem Schirm haben. Und auch Bauchgefühle dürfen benannt werden, zum Beispiel mit Sätzen, wie: „Ich empfinde unsere Vertrauensbildung als noch nicht ganz ideal“.

Und wenn man selbst jetzt unterstellte Kollegen nicht so gut leiden kann?

Thomas Röhrßen: Ich sollte mich mit Persönlichkeiten, die mir nicht so liegen, zunächst innerlich auseinandersetzen, bevor ich äußerlich versuche etwas zu verändern – und dabei eine konstruktive Grundhaltung einnehmen. Keinen Schmusekurs einschlagen, aber eine grundsätzliche Wertschätzung entwickeln. Die Strategie ist, erst eine Beziehung aufzubauen und auf dieser Basis den Wandel zu gestalten. Je stärker ich in eine Auseinandersetzung gehe und auch Kritik ausdrücke, desto näher sollte ich der Person sein. Ganz besonders dann, wenn ich mich von einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin trennen muss, hat er oder sie in dieser kritischen Phase meine ganze Zuwendung verdient. Die meisten machen es genau umgekehrt. Sie konfrontieren lieber aus der Distanz.

Was sind die wichtigsten Schritte für eine neue Chefarztposition?

Thomas Röhrßen: Es empfiehlt sich, einen klaren Leitfaden für sehr intensive Einzelgespräche zu entwickeln. Diese sollten nicht zu schematisch verlaufen, aber schon bestimmte Dimensionen abfragen: Was sind Ihre Bedürfnisse? Welche Förderung wünschen Sie sich für die persönliche Entwicklung? Was ist bislang zu kurz gekommen? Wo sind die zentralen Baustellen? Wie gut ist die Zusammenarbeit mit der Pflege oder anderen Disziplinen? Das alles in möglichst vertrauensvollen Gesprächen zu erforschen in denen man eine entspannte Grundatmosphäre schafft, ist für mich das A und O am Anfang. Daraus entsteht eine Landkarte der Klinik und der Kultur, die man sich möglichst schnell erarbeiten sollte.

Helfen auch einfache Gesten wie gemeinsames Teamessen?

Thomas Röhrßen: Bestimmte Rituale, wie mal ein Frühstück ausgeben, vielleicht sogar ein Lunchmeeting einzubauen oder manche Besprechungen mit Kaffee und Kuchen zu gestalten, sind okay, aber am Ende kommts doch immer aufs Zuhören an. Dass das Team merkt, dass man es wahrnimmt, seine Interessen versteht und in kleinen Schritten signalisiert, konkrete Punkte werden wirklich angegangen. Das ist viel wichtiger als nette Gesten.

Schweben Chefärztinnen und -ärzte nicht über den Dingen?

Thomas Röhrßen: Diese Zeiten sind vorbei, selbst wenn manche das noch meinen. Auch wer es dorthin geschafft hat, muss sich in das Umfeld integrieren, um es dann schrittweise zu verändern. Darüber hinaus unterschätzen junge Aufsteiger oft komplett, dass sie heutzutage als wichtigen Partner die Geschäftsleitung haben. Diese Beziehung nach ganz oben ist existenziell. Denn von ihr hängt ab, ob Ihr Stellenplan ausreichend ist, genug OP-Kapazitäten zur Verfügung gestellt werden oder in bestimmte Geräte investiert wird, die Sie brauchen, um ihre Leistungen zu erbringen.

Kann der Einstieg auch schief gehen?

Thomas Röhrßen: Und ob. Ich erinnere an einen neuen Chefarzt, der nicht merkte, dass er einen ganz starken Rivalen hatte, der um seine Alpha-Position im Haus fürchtete. Dieser Chefarzt-Kollege pflegte oberflächlich einen sehr persönlichen Umgang mit ihm – so machten sie Sport zusammen – aber letztendlich sorgte „der Alte“ dafür, dass „der Neue“ geschasst wurde. Da war in der Probezeit bereits Schluss. Und ich erinnere mich an einen Fall, in dem die Oberarztriege den Chefarzt von Anfang an als sozial inkompetenten Fremdkörper angesehen hatte. Es gab mehrere Lösungsversuche, die aber alle scheiterten. Manchmal kommt es zu solchen Querelen um Machtpositionen, die man kaum durchblickt. Insgesamt aber existieren drei große Hürden: das Verhältnis zur Geschäftsführung, Grabenkriege mit anderen Disziplinen und dass sich die Oberärzte in Gruppen abwenden – vor allem, wenn all dies nicht offen ausgetragen wird.

Wie lange dauert es, bis ich angekommen bin?

Thomas Röhrßen: Oberärztinnen und Oberärzte benötigen dafür meist nur einige Wochen. Anders beim nächsten Sprung. Bis Chefärztinnen und -ärzte wirklich verankert sind, das Vertrauen gewachsen ist, man geprüft und der eigene Ansatz verstanden wurde, braucht es meiner Meinung nach rund ein Jahr. Das unterschätzen viele, die frisch aus der Oberarzt-Rolle kommen. Es gilt, den Überblick über die Gesamtsituation der Klinik zu bekommen, ebenso ins Umfeld zu den Einweisern, und sich als klinische Marke zu profilieren. Das ist eine ganz neue Anforderung, auch in punkto Selbst-Präsentation und Netzwerkarbeit.

Wie kann ich mich für den Kaminaufstieg rüsten? Ihr Tipp zum Schluss?

Thomas Röhrßen: Mehr über den Umgang mit Menschen lernen. Das stelle ich seit 30 Jahren bei allen meinen Trainings fest. Es ist wichtig, sich im Klaren zu sein, was man ausstrahlt und auslöst. Neue Oberärztinnen und Oberärzte sollten sich vor allem mit ihrer „Sandwichposition“ zwischen Chef und Team intensiv auseinandersetzen. Angehende Chefärztinnen und Chefärzte müssen ein recht umfassendes Einstiegsprogramm entwickeln: Gespräche mit der Geschäftsführung, den Chefarztkollegen, der Pflegedirektion, dem Team, den Einweisern usw. Sie können zur Vorbereitung die Geschäftsführung um die Finanzierung eines Coachings bitten. Am besten als Präventivmaßnahme, vor dem ersten Tag in der Klinik, nachdem man den Vertrag unterschrieben hat. Viele Häuser unterstützen das mittlerweile. Dann ist das transparent, alle wissen Bescheid und man hat einen klaren Fahrplan für den Einstieg.

Der Experte

Thomas Röhrßen

Thomas Röhrßen ist Psychologe und Psychotherapeut, Karriereberater und Bewerbungscoach für Ärzte. Seit 30 Jahren begleitet er Kliniken, Ober- und Chefärzte. 2021 veröffentlichte er mit dem Co-Autor Dietmar Stephan das Buch „Leadership Performance Krankenhaus. Die Praxis der Führung für Ärztinnen und Ärzte“ bei MWV. Mehr Infos: www.roehrssen-consult.de.

Bild: © privat

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