
New Work, Technologie und Hausärzte, die zuhause arbeiten: Das kann – klug kombiniert – mithelfen, die Gesundheitsversorgung in der Fläche zu sichern. Der eHealth-Experte Dr. Florian Fuhrmann wirft einen Blick in die Zukunft – und stellt ein innovatives Konzept vor, das bereits in den Startlöchern steht.
Die Versorgungslücke klafft längst: Schon heute sind mehr als 4.000 Hausarztpraxen in Deutschland unbesetzt. Nicht wenige Patienten, insbesondere auf dem Land, müssen bereits jetzt 40 bis 50 Kilometer zum nächsten praktischen Arzt fahren. Und das wird sich weiter verschärfen. „Studien prognostizieren, dass bis zu 11.000 Hausarztpraxen bis 2035 nicht nachbesetzt werden“, erklärt Dr. Florian Fuhrmann. Erschwerend kommt hinzu, dass der Bedarf gleichzeitig steigt und immer mehr chronische Erkrankungen langfristig und interdisziplinär versorgt werden müssen.
Klar ist: Neue Ideen müssen dringend her! „Die Lösung kann eine Kombination aus Technologie New Work und neuen Gesundheitsberufen sein“, betont der ehemalige, langjährige Geschäftsführer der kv.digital – und fischt ein anschauliches Beispiel dafür aus dem großen Topf Zukunft: „Die meisten Menschen nutzen ihr Smartphone schon in so vielen Bereichen, vom Online-Banking über E-Commerce bis Entertainment. Warum nicht auch überall eine App für die eigene Gesundheit, verknüpft mit ihren Praxen?“
Arztbrief per ChatGPT?
Zudem können die neuen Technologien Gesundheitseinrichtungen noch viel stärker unterstützen, in punkto Verwaltung, Organisation, Personal oder IT. „Sie müssen nur konsequenter eingesetzt werden“, sagt der Digital-Health-Spezialist – und zwar ebenso in medizinischer Hinsicht. „Mammographie- oder Hautkrebs-Screenings mit KI sind nur der Anfang. Die Entwicklung ist so rasant, dass da noch eine ganze Menge passieren wird“, prognostiziert er. Denkbar sei extrem viel. So könnten zum Beispiel Arztbriefe künftig durch KI vorformuliert werden, bevor sie vom Arzt freigegeben werden.
Darüber hinaus sollten auch die Zuständigkeiten neu gedacht werden. Hier fällt den neuen Gesundheitsberufen wie Physician Assistant (PA) und Community Nurse eine entscheidende Rolle zu. Sie werden künftig mehr Verantwortung übernehmen. Damit entlasten sie die Ärzteschaft, wodurch sich diese dann stärker auf die schweren Fälle konzentrieren dürfen.
Leistet Pionierarbeit: Lillian Care
Genau dieses Konzept verfolgt das Start-up Lillian Care, ein echter Vorreiter, den Fuhrmann mit zwei weiteren Gesundheitsprofis Ende 2022 gegründet hat. Und so funktioniert das im Detail: Mit einer eigenen Patienten-App lassen sich Folge-Rezepte bestellen, mit der Praxis chatten, Termine buchen und die Patientenakte einsehen. „Schon bei der Terminvergabe wird anhand einer Pre-Anamese digital gesteuert, wer zu wem kommt“, informiert Fuhrmann. Dafür werden verschiedene symptomspezifische Punkte abgefragt, wie Vorerkrankungen, Körpertemperatur, Schmerzlevel oder Dauer der Beschwerden.
Der Clou ist: Die jeweilige Ärztin oder der Arzt sind auf Wunsch an drei Tagen die Woche im Homeoffice, aber telemedizinisch mit der Praxis verbunden, inklusive des Zugriffs auf alle Daten und Prozesse. „Der Arzt ist immer nur einen Knopfdruck weit entfernt, sodass er stets übernehmen kann und in jede Behandlung eingebunden ist“, fasst Fuhrmann zusammen.
Teamarbeit mit Delegation
Die PAs oder Nurses behandeln die leichteren Fälle beziehungsweise bereiten sie vor. Dafür haben sie vor Ort haben ein Tablet dabei und verbinden sich mit den Medizinern, um Fall, Diagnose und Therapie durchzusprechen. „Der Arzt oder die Ärztin kann die vorbereiteten Informationen in kürzerer Zeit einschätzen und in der Supervision bestätigen. Zudem gibt es die Möglichkeit, in der Behandlungssituation direkt mit dem Patienten online zu sprechen“, erläutert der 43-Jährige. Die schwereren Fälle werden direkt dem Arzt zugewiesen, entweder für die Videosprechstunde oder live. Denn zusätzlich zur hybriden Versorgung werden ärztliche Sprechzeiten in den Praxen angeboten.
International sind die neuen Berufe übrigens schon viel stärker im Einsatz. Fuhrmann: „Insbesondere in englischsprachigen Ländern werden diese Fachkräfte längst im großen Stil an vorderster Front in der ambulanten Versorgung eingesetzt. Aber auch in Finnland kommen eigentlich alle Patienten zuerst bei der Primary care Nurse oder dem Physician Assistant an.“ 60 Prozent aller Behandlungen werden in dem nordischen Land übrigens fallabschließend von diesen Berufsgruppen durchgeführt, was dort nebenbei auch zu deutlich niedrigeren Ausgaben führt.
Immer mehr PAs auch in Deutschland
Soweit sind wir in Deutschland noch nicht. Wie viele Ausgebildete dieser neuen Gesundheitsberufe es hier überhaupt gibt, ist auch nicht bekannt. „Ich habe bislang sehr unterschiedliche Zahlen gehört. Die niedrigste war 750, die höchste 3.000. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen“, schätzt Fuhrmann. Was man weiß: De facto arbeiten sie hier noch insbesondere im stationären Bereich. „Ich kenne aber auch einige Praxen, die sie schon in der ambulanten Regelversorgung einsetzen, auch im Rahmen der ärztlichen Delegation“, sagt er.
Offensichtlich sind diese Berufsbilder jedoch stark im Kommen. Mittlerweile gibt es hierzulande sehr viele entsprechende Bachelor- und Master-Studiengänge an verschiedenen Hochschulen. Manche setzen eine pflegerische Ausbildung voraus, andere nicht. Meistens werden diese aber absolviert von Pflegefachkräften. Seit Juli 2023 vergeben die AOK Baden-Württemberg, der Hausärzteverband und der Medi-Verbund zudem 300 Stipendien für PAs.
Kein Stress mit Administration
Die Lillian-Care-Praxen setzen außerdem auf den konsequenten Einsatz von Digitalisierung in der Verwaltung sowie auf ein Geschäftsmodell, das Ärztinnen und Ärzte von nicht-medizinischen Aufgaben entlastet. „Wir stellen ihnen die Praxisräume, die Infrastruktur, Technologie und ein qualifiziertes Team zur Verfügung. Darüber hinaus übernehmen wir das komplette Praxismanagement, inklusive Personal und Abrechnung.“ Alle werden angestellt, auch die Ärztinnen und Ärzte. Sie und die Versorgungsteams sollen außerdem am Unternehmenserfolg beteiligt werden und erhalten variable Vergütungen. Im Blick der Gründer sind ferner spezielle Technologien, wie Ultraschallgeräte, mit denen Ärztinnen und Ärzte via VPN live die Untersuchung aus dem Homeoffice mitverfolgen können.
Und es geht konkret los: Im ersten Quartal 2024 eröffnen die ersten vier Praxen in Rheinland-Pfalz. Aktuell sucht man nach weiteren Standorten im Raum Osnabrück, Minden-Lübbecke in Ostwestfalen und im Schwarzwald, alles besonders unterversorgte Regionen. „Wir finden sehr offene Türen vor. Es besteht ein reger Austausch mit mehreren stark interessierten Kommunen und den zuständigen KVen. Die Kommunen hoffen, dass wir auch bei ihnen Praxen eröffnen und die Standorte durch eine Hausarztpraxis vor Ort für Bürgerinnen, Bürger und Unternehmen wieder attraktiver machen.“
Trotzdem: eine ganz normale Praxis
Darüber hinaus steckt noch mehr Potential in der Grundidee, wie Fuhrmann erläutert: „Wir möchten perspektivisch im Verbund mit vielen Praxen telemedizinisch gut erreichbar sein, um auch die Tagesrandzeiten abbilden zu können. Zudem ist uns der Community Gedanke wichtig. Wir wünschen uns, dass die Teams untereinander in Kontakt sind, dass sie Qualitäts-Zirkel bilden und Best Practices teilen.“ Im zweiten Schritt könnten geeignete Facharztdisziplinen wie Kardiologie oder Diabetologie übergeordnet dazu kommen – aber, so Fuhrmann: „Das ist wirklich noch Zukunftsmusik“.
Wie weit es auch immer gehen mag, die Patientinnen und Patienten wird es in jedem Fall freuen. Und bei aller Modernität finden sie eine freundliche, neue, aber letztlich auch ganz normale Vor-Ort-Praxis vor. „Da steht vorne einen Tresen, an dem die MFA sitzt und die Karten einliest. Sicher gibt es das ein oder andere technische Gerät mehr, wie die Tablets und deren Arme, um das Gespräch zum Arzt zu schwenken – aber es ist kein Raumschiff“, resümiert Fuhrmann.