Digitalisierung: Vom Landarzt zum Telearzt

8 Oktober, 2020 - 07:37
Lukas Hoffmann
Dr. Alois Pitzen und Marion Franzen
Dr. Alois Pitzen und seine Medizinische Fachangestellte Marion Franzen vor dem Haus einer Patientin.

Für Jens Spahn in Berlin ist die Digitalisierung der Medizin das neue große Ding. Aber kommt sie auch beim Patienten auf dem Land an? Unterwegs mit Dr. Alois Pitzen in der Vulkaneifel.

Schwarze Jeans, weißes Hemd, quietschgelbe Sneakers – so sieht also einer aus, der die Telemedizin in die Wohnzimmer seiner Patienten bringen will. Dr. Alois Pitzen, 52 Jahre alt, ist Landarzt in Daun mitten in der Vulkaneifel. 

Bislang hatte er wenig bis gar nichts mit der Telemedizin zu tun. Videosprechstunde. Macht er nicht. Apps auf Rezept. Noch nicht mit beschäftigt. Anschluss an die Telematikinfrastruktur – notgedrungen eingerichtet, sonst hätte er ja Strafe zahlen müssen. Aber ein Fan der Digitalisierung ist er nicht. Er bemängelt, dass er als niedergelassener Arzt die staatlich verordneten Neuerungen aus eigener Tasche mitfinanzieren muss, die Vorteile aber vor allem für Krankenkassen entstünden, sei es nun das Terminvergabegesetz, die elektronische Gesundheitskarte oder der Ausbau der Telematikinfrastruktur: „Der Gesetzesgalopp des Herrn Spahn in Berlin hat wenig mit den Bedürfnissen der Patienten oder der Ärzte auf dem Land zu tun. Wenn Herr Spahn verkündet, ein Problem sei gelöst, dann fängt es bei uns erst an, ein Problem zu werden.“


 
Trotz dieser Skepsis gegenüber digitalen Neuerungen nimmt Pitzen an dem Pilotprojekt „Telemedizinische Assistenz“ teil, mit dem die Telemedizin in die ländlichen Wohnzimmer gebracht werden soll. Das Projekt ist gerade gestartet. Insgesamt 24 Hausarztpraxen aus vier Projektregionen in Rheinland-Pfalz sind dabei. Es gibt einen Rucksack mit Telemedizin-Equipment und günstige Leasing-Verträge für Elektroautos. Gefördert wird das Projekt vom Land, der Kassenärztlichen Vereinigung Rheinland-Pfalz, dem regionalen Hausärzteverband und Landesverbänden der gesetzlichen Krankenkassen. 

Frau Dr. med. Barbara Römer, Landesvorsitzende des Hausärzteverbands Rheinland-Pfalz, hat das Projekt mitentwickelt: „Der Bedarf an Hausbesuchen steigt rasant“, sagt sie. „Gleichzeitig praktizieren immer weniger Kollegen, insbesondere im ländlichen Rheinland-Pfalz. Wir müssen in Zukunft unsere Praxen zu multiprofessionellen Teams umbauen, um den immensen Versorgungsaufwand auffangen zu können.“ 

Dr. Pitzen leitet seine Praxis zusammen mit seiner Frau Sandra und seiner 65-jährigen Schwester, die ebenfalls Ärztin ist. Angestellt sind drei weitere Ärztinnen zwischen 68 Jahren und 71 Jahren. Er würde sich wünschen, dass jüngere Ärzte zu ihnen kommen. Weiterbildungsberechtigt ist er und übertariflich zahlt er auch. Aber der Landarzt hat kein gutes Image. Der Nachwuchs will in die Großstädte, ins Ausland oder an ein großes Klinikum. Bei einer Umfrage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung aus dem Jahr 2018 sagte nahezu jeder zweite Medizinstudierende: Auf keinen Fall aufs Land!  

Pitzen kann das verstehen. Er hat lange als Notarzt in Australien gearbeitet und dort die Vier-Tage-Woche genossen. Auf jede Überstunde gab es 200 Prozent Aufschlag. Deshalb habe der Chef dafür gesorgt, dass seine Ärzte nach vierzig Stunden nach Hause gehen. Seit 2016 ist er zurück in der Eifel, die Schwiegereltern sind in die Jahre gekommen, da will man in der Nähe sein, wenn etwas passiert: „Hier habe ich zeitweise, wenn man die Bereitschaftsdienste mitzählt, 120 Stunden in der Woche gearbeitet. Das hält man bestenfalls ein paar Jahre durch, auf Dauer geht das nicht.“

Hausbesuch treibt Blutdruck in die Höhe

Jetzt geht es aber erst einmal nach Weidenbach. Hausbesuch bei der 81-jährigen Margret Michel (Name geändert) mit einer schwachen Lunge. Dr. Pitzen betreut sie erst seit Kurzem. Zuvor hat sie ein Kollege versorgt, aber der ist im letzten Jahr verstorben. Seine Praxis wurde aufgelöst. 

Die Landstraße ist gesperrt, aber er kennt einen Schleichweg. Ein erster Stresstest für den nagelneuen, weißen E-Renault Zoe. Der Schlamm spritzt, die Karosse schaukelt – willkommen auf dem Land. 
 

Margret Michel lebt zusammen mit ihrem Mann in einem kleinen Haus am Rand der 200-Seelengemeinde. Sie ist seit 1989 an COPD erkrankt und hat sich schon seit Jahren nicht weiter als bis zu ihrem Gartentor vom Haus entfernt. Jetzt ist der Aufregung über den Besuch so groß, dass ihr systolischer Blutdruck auf über 190 ansteigt. Dr. Pitzen beruhigt auf moselfränkisch: „Blejvt gaanz rohisch, Frau Michel.“ Im australischen Outback hatte er als Notarzt ein Einzugsgebiet von 350 Kilometern. Da hat er Schlimmeres gesehen als einen hohen Blutdruck. 

Es ist ein Kontrollbesuch und doch ist alles neu. Zum ersten Mal gibt Assistentin Marion Franzen die Vitaldaten von Frau Michel ins Tablet ein: Blutzucker, Blutdruck, Körpertemperatur. Die eingetippten Werte können später via Bluetooth in die Praxisverwaltungssoftware überspielt werden. Auch ein portables EKG-Gerät hat sie dabei, dessen Daten auf das Tablet übertragen werden können. Außerdem gibt es eine Videokonferenz-Funktion. Das nächste Mal wird Franzen die Michels alleine medizinisch versorgen und nur bei Fragen den Doktor per Videocall zuschalten. 

Dr. Pitzen berät dann von seinem Schreibtisch aus. Für ihn fällt die Fahrtzeit weg, so kann er mehr Patienten betreuen. Die Michels profitieren, weil sie – trotz Ärztemangel – nicht zu ihm in die Praxis kommen müssen. Win Win, so zumindest die Theorie. Ob sich der Hightech-Rucksack in der Praxis bewährt, wird sich nach der zweijährigen Testphase des Pilotprojekts zeigen. Es wird wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. 

Im Rahmen des Piloten kann Dr. Pitzen die telemedizinische Betreuung über zwei neue Gebührenziffern abrechnen. Es gibt eine Ziffer für den Besuch der Angestellten und eine für die Videotelefonie. Ob die Ziffern auch nach den zwei Jahren weiterlaufen, ist noch nicht klar: „Wir haben alle Kassen davon überzeugt, am Projekt mitzumachen“, sagt Dr. Römer vom Hausärzteverband, „das war der größte Brocken. Als nächstes müssen wir es schaffen, das wir auch nach den zwei Jahren eine Finanzierung über alle Krankenkassen hinbekommen. Das wird eine riesige Herausforderung. Innovationen werden jedoch nur mit einer adäquaten Gegenfinanzierung in die Hausarztpraxen finden.“ 

Erster Techniktest schlägt fehl

Im Wohnzimmer der Michels wird jetzt die Videotelefonie getestet. Marion Franzen gibt wiederholt ein Passwort ins Tablett ein. Immer falsch. Schließlich gibt sie auf. Es sind die ersten Gehversuche mit der neuen Technik. Beim späteren Test in der Dauner Arztpraxis steht die Verbindung. 

Das Ehepaar Michel ist skeptisch gegenüber des Videocalls. „Es ist eine Notlösung“, sagt Herr Michel. Manchmal würden sie mit der Tochter über WhatsApp videotelefonieren. Aber sie freuen sich mehr, wenn sie aus Köln angefahren kommt und sie besucht. Gleiches gilt für Dr. Pitzen. Lieber würden sie ihn regelmäßig mit Kaffee und Keksen bewirten, so wie an diesem Mittag. „Ich will mit dem Arzt sprechen“, sagt Frau Michel. 
 

Zurück im E-Auto, schnell wieder nach Daun fahren. Es warten noch immer Patienten vor der Praxistür. Dr. Pitzen will bald in neue Praxisräume umziehen. Er wird auch die neuen Räume anmieten, wie bisher, und nicht kaufen. Zum Erwerb einer Immobilie fehlt ihm das Geld. Als die Kassenärztliche Vereinigung zu Beginn seiner Niederlassung im ersten Quartal 2016 nur die Hälfte der Vorauszahlungen ausgezahlt hat, hätte er den Leiter der Honorarabrechung angerufen: „Entweder Sie überweisen binnen 24 Std die zweite Hälfte der Vorauszahlung oder die Praxis bleibt geschlossen.“ Am Tag darauf war das Geld auf dem Konto und er konnte seinen 22 Angestellten die Löhne überweisen. Zwei schlaflose Nächte habe ihn der finanzielle Engpass dennoch gekostet. 

Landärzte verdienen schlechter als die meisten anderen niedergelassenen Ärzte. Es wird nicht leicht sein, sie vom Vorteil einer digitalisierten Medizin zu überzeugen, wenn es keinen deutlichen Mehrgewinn für sie gibt. Entweder sie erhalten mehr Geld oder sparen Zeit ein. Als Autorität auf dem Land bei einer zunehmend älteren Bevölkerung sind sie es, die medizinische Innovationen in die Wohnzimmer ihrer Patienten tragen. 

Immerhin, in einer Bitkom-Studie von Juli 2020 sagten 92 Prozent der befragten Patienten, die über eine Video-Sprechstunde beraten wurden, dass sie das Angebot auch künftig wieder wahrnehmen wollen. Bestimmt werden sich viele Patienten von Dr. Pitzen damit arrangieren, dass nicht mehr er, sondern seine Assistentin zu ihnen nach Hause kommt, wenn sie feststellen, dass die medizinische Betreuung gleichwertig ist. 

Aber es wird auch Patienten wie Herrn und Frau Michel geben, die sich nur schwer an einen Dr. Pitzen auf dem Tablett gewöhnen können. Ihnen, im zweiten Weltkrieg geboren, ist die neue Technik fremd. Sie freuen sich über den Doktor im Wohnzimmer. Mit oder ohne quietschgelbe Sneakers.

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