Ehrlich zu sich selbst sein: Das hilft Ärztinnen und Ärzten bei Leiderfahrungen

11 November, 2024 - 07:15
Gerti Keller
Junger Arzt weint

Im medizinischen Beruf ist man oft sehr nahe dran am Leid der Menschen. Manchmal täglich. Und vor all diesen vielen Gefühlen, die auf einen einprasseln, schützt auch der professionelle Kittel nicht. Die Psychotherapeutin Dr. Nady Mirian hat über Leid ein Buch geschrieben, auch um das Thema aus der gesellschaftlichen Tabuzone zu holen – mit vielen hilfreichen Gedanken für Ärztinnen und Ärzte.

Frau Dr. Mirian, Ärztinnen und Ärzte erleben viel Leid: Gewöhnt man sich irgendwann daran?

Dr. Nady Mirian: Man wird in diesem Beruf wohl lebenslang neue Leiderfahrungen machen. Klar heißt es, dass man stets emotionale Distanz wahren sollte, trotzdem „erwischt“ es einen manchmal. Da merken Sie plötzlich, dass ein Patient Ihrem Vater vom Charakter ähnelt, oder eine Patientin macht dieselbe Geste wie Ihre beste Freundin. Dadurch entstehen automatisch andere Beziehungsformen. Und so wird man stets aufs Neue leiden, wenn diese Menschen erkranken oder sterben. Das kommt in Wellen, immer mit einer anderen Intensität.

Wie können junge oder angehende Ärzte damit umgehen?

Dr. Nady Mirian: Der erste Schritt ist: Zu sich selbst ehrlich sein! Auch wenn das schwer ist, weil einem früh gesagt wird, dass man im Arzt-Beruf immer funktionieren muss. Trotzdem und vielleicht genau deswegen ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass vieles, was Sie sehen, Ihnen weh tut. Also sich nicht einreden „das ist halt mein Beruf“ oder „das geht mir nicht nahe“, weil Arzt-Sein doch ein taffer 80-Stunden-Job sein sollte.

Ich frage Medizin-Studierenden oft: „Ist euch bewusst, dass ihr extrem viel arbeiten müsst, kaum Pausen habt und dabei noch viel Leid erleben werdet? Dass ihr viel mit Sterbenden zu tun haben werdet, mit dem Leid ganzer Familien, die euch vielleicht in die Arme fallen und weinen? Ihr müsst eure Empfindungen akzeptieren, weil ihr nicht immer stark sein könnt.“ Das Studium ist total theoretisch ausgelegt. Das heißt, dort lernt man nicht, wie man derartige Erfahrungen integrieren kann. Überhaupt ist Leid bei uns gesamtgesellschaftlich wenig integriert.

Wie meinen Sie das?

Dr. Nady Mirian: Der Philosoph David Foster Wallace erzählte zu Beginn seines berühmten Vortrags „Fish in the water“ eine dazu passende Parabel. Darin fragt ein älterer Fisch zwei jüngere im Wasser: „Wie ist die Temperatur des Wassers heute?“ Und die beiden antworten: „Was ist Wasser?“ Das beschreibt exakt unser Verhältnis zum Leid, das in unserer Gesellschaft ein blinder Fleck ist – und für mich das psychologische Pendant zum Schmerz darstellt. Schon in Kindergarten und Schule kategorisieren wir Gefühle in gute und schlechte. Dabei werden die vermeintlich negativen wie Wut, Scham, Trauer unterdrückt, da sie uns in einer leistungsorientierten Gesellschaft am Funktionieren hindern.

Welche Folgen hat das? Wie gehen die Menschen bei uns heute mit Leiderfahrungen um?

Dr. Nady Mirian: Meiner Erfahrung nach fällt es rund der Hälfte schwer zu akzeptieren, dass sie überhaupt Wunden haben. Sie verwenden lieber Narrative, wie „nein, das kriege ich schon hin“, „halb so wild“ oder „er/sie ist schuld“ – und machen einfach mit ihren Verletzungen weiter. Viele betäuben sich, greifen zu Drogen und Alkohol. Mittlerweile höre ich auch immer mehr vom Einsatz von Alternativmedizin im Alltag ohne ärztliche Begleitung, wie Magic Mushrooms und Ayahuasca. Die andere Hälfte setzt sich mit dem Leid auseinander, manche gehen in die Konfrontation.

Für mein Buch interviewte ich acht Menschen mit unterschiedlichen Leiderfahrungen. So auch Teresa Enke, die Witwe des Fußball-Nationaltorhüters Robert Enke, der sich wegen Depressionen das Leben nahm. Sie hatten zuvor schon ihre kleine Tochter verloren, die Teresa nach deren Tod fünf Tage in die Mitte ihres Bettes legte. Da kamen die Nachbarskinder, um sich zu verabschieden. Auch ihren verstorbenen Mann holte sie nach Hause, um bewusst Abschied zu nehmen. Teresa ist resilient. Ihre Erfahrungen können sehr vielen Menschen ein gutes Beispiel geben, wie man nicht im Außen, sondern bei sich bleiben und selbstständig die Leiderfahrungen integrieren kann. 

Heilt die Zeit alle Wunden?

Dr. Nady Mirian: Nein. Sehr oft höre ich von Freunden, Bekannten oder auch meinen Klienten etwa nach einer Trennung „warum geht das jetzt schon sechs Monate?“, „wann hört diese Schwere endlich auf?“. Wir schämen uns, wenn wir länger als die Masse leiden. Aber was ist die Masse? Diese Vergleiche sind auch kontraproduktiv. Keiner sagt: „Das ist vollkommen okay. Vielleicht brauchst du einfach noch Zeit.“ Jeder Mensch verarbeitet unterschiedlich und das ist gesund! Ungesund wird es, wenn wir verdrängen, wegdrücken, uns sedieren wollen und dann plötzlich aus Leid Leidensdruck wird. Sie können Leiderfahrungen nicht auslöschen. Egal, wie sehr Sie es versuchen, es kommt immer zu Ihnen zurück und hinterlässt dann tiefe Spuren.

Kann man Leiderfahrungen nicht vergleichen?

Dr. Nady Mirian: Nein, Leiden lässt sich nicht hierarchisieren. Endet beispielsweise eine Beziehung, tut das weh. Für manche ist Verlassenwerden genauso wie der Tod. Andere gehen drei Jahre durch eine Krise, weil sie einen bestimmten Job nicht bekommen haben. Aber manche werden durch den Tod eines geliebten Menschen auch stärker als vorher. Es hat immer mit den eigenen Kerben zu tun.

In meinem Buch schreibe ich auch über meine Begegnung mit der faszinierenden Free Diverin Alessia Zecchini im Oktober 2023 in Rom. Sie und Stephen Keenan, ein irischer Sicherungstaucher, verband die Liebe zum Ozean und diesem Extremsport. Er riskierte sein Leben für das ihre, als sie 2017 versuchte, einen neuen Rekord aufzustellen – und starb dabei. Von diesem Liebespaar erzählt auch die Dokumentation „The deepest breath“ auf Netflix. Ich fragte sie: „Wie gehst du denn damit um?“ Sie antwortete, es gebe keinen Tag, an dem sie nicht an ihn denkt. Aber sie hat den Verlust akzeptiert und in ihr Leben integriert. Genau daran scheitern viele, denn Menschen wollen nicht leiden. Alessia aber sagt offen, es darf da sein, es ist menschlich. Das ist der Unterschied. Trotzdem wird es immer schmerzen. Es gab ihr auch Kraft noch tiefer zu tauchen – auf 123 Meter mit einem einzigen Atemzug.

Was ist denn die „Zauberkraft“, die unserer Psyche hilft, damit umzugehen?

Dr. Nady Mirian: Es ist wichtig, den Tod als integralen Bestandteil des Lebens zu akzeptieren. Schon in der griechischen Philosophie der Stoa wird das so definiert. Es ist schlichtweg eine Realität, die uns alle verbindet – und die auch schon Kindern nahegebracht werden kann. Es gibt ein Projekt namens „Hospiz macht Schule“. Da arbeiten Ehrenamtliche einer Hospizbewegung über einen Zeitraum von fünf Tagen als Team in einer Schulklasse. Das finde ich sehr wichtig: raus aus dieser Seifenblasen-Realität und mehr in die Wertschätzung des Lebens und auch seiner Kürze.

Auch Ärztinnen und Ärzte sind viel mit dem Tod konfrontiert. Was kann ihnen helfen?

Dr. Nady Mirian: Die meisten Ärztinnen und Ärzte haben einen Leistungsanspruch. Aber es ist wirklich hilfreich zu akzeptieren, dass wir das Leben nicht steuern können, egal ob man Arzt oder Professor ist. Man sollte diesen realistischen Blick bewusst in seinen Alltag mitnehmen, dass einem Patienten heute etwas passieren kann. Zu diesem Realismus gehört es auch, den eigenen Panzer abzulegen. Ärzte und Ärztinnen zeigen sich in der Regel den Patienten und Angehörigen gegenüber stark, auch aus Eigenschutz. Das ist verständlich. Doch wenn sie nebenan ins Zimmer gehen, sollten sie die eigenen Gefühle rauslassen. Man kann sich durchaus Nischen bauen. Es ist es vollkommen natürlich, auch als Behandler mal die komplette Nacht zu weinen.

Wer in einem medizinischen Berufen arbeitet, ist oft viel zu streng mit sich selbst – und interpretiert das eigene Leid manchmal sogar als Scheitern. Doch das stimmt nicht. Leid macht uns menschlicher und verbindet uns, wenn wir es zulassen. Ich habe damals in meiner Ausbildungszeit auch einmal während der Psychotherapie vor meinen Klienten geweint, als ich erfuhr, dass jemand aus dieser Familie gestorben ist. Vor zehn Jahren hätte ich mich noch dafür geschämt. Heute bin ich stolz drauf, dass ich Gefühle zeigen kann und authentisch arbeite. Ich hoffe sehr, dass der medizinische Nachwuchs, der so wichtig für unser Überleben sind, irgendwann auch das Recht dazu hat – auch vor der Führungsebene.

Was ist Ihre Bewältigungsstrategie?

Dr. Nady Mirian: Fotografieren ist meine visuelle Bearbeitungsstrategie. Seit meinem Jugendalter beschäftigte ich mich mit der Fotografie, vor allem mit der Kriegs- und Dokumentarfotografie bei Magnum Photos. Heute mache ich kleine Momentaufnahmen, gerne von Händen. Wenn ich zum Beispiel einen sehr schwierigen Tag hatte und dann in der Straßenbahn Menschen sehe, die Händchen halten. Danach ist mir leichter zumute. Es gibt auch eine Ästhetik im Leid.

Warum haben Sie das Buch geschrieben?

Dr. Nady Mirian: Das hat mit meiner Biografie zu tun. Meine Eltern kamen paar Tage vor der islamischen Revolution im Iran nach Deutschland. Mein Vater war ein bekannter Journalist und Feminist. Er verlor viele Freunde und Familienmitglieder. Der Schrecken des islamischen Regimes mit den ganzen Verhaftungen, frauenfeindlichen Unterdrückungen und Hinrichtungen war bei uns zuhause immer präsent. Meine Eltern versuchten uns davor zu schützen, indem sie nicht so offen darüber sprachen. Klar, Eltern wollen ihre Kinder immer vor Leid schützen, aber Kinder bekommen trotzdem alles mit. Unbewusst habe ich mich sehr früh damit beschäftigt, wieso wir Gefühle immer wegdrücken – und mich schon in der Schule gewundert, warum sich Menschen fürs Weinen entschuldigen und schämen.

Später gelangte ich dann über meinen Berufsweg und die eigenen emotionalen Wellen in meinem Leben zur Erkenntnis, dass wir Leid gesamtgesellschaftlich so schlecht integrieren, weil wir unter anderem im Kapitalismus funktionieren sollen. Wir haben keine Leidkultur, also wie kann man lernen, Leid zuzulassen? Im Moment leidet die Welt – und alle haben Angst, allein vor dem Begriff. Das erfuhr ich auch bei den Recherchen zu meinem Buch. Eine Titelüberschrift wie „Resilienz in sieben Schritten“ wäre bestimmt viel gefragter. Dabei ist Leid doch etwas, was uns alle betrifft und wachsen lässt. Ohne gibt es übrigens auch keine Resilienz.

Die Expertin:

Dr. Nady Mirian

Dr. Nady Mirian ist eine deutsch-iranische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin sowie Dozentin für Bildungswissenschaften an der Universität Köln. 2024 veröffentlichte sie das Buch „Leid – Die emotionalen Wellen des Lebens: Warum schwere Lebensphasen dazugehören und uns sogar wachsen lassen“, Kösel-Verlag, ISBN-13 978-3466373246

Bild: © Serena Mola

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