Tipps von Prof. Dr. Jalid Sehouli: Schlechte Nachrichten gut übermitteln

13 Dezember, 2021 - 08:00
Gerti Keller
Junge Ärztin überbringt ihrer Patientin schlechte Nachrichten

Mehr als 200.000 Gespräche führen Ärztinnen und Ärzte im Verlauf ihres Berufslebens mit Patienten und Angehörigen. Dazu gehören auch viele Hiobsbotschaften. Doch wie die am besten überbracht werden sollten, muss man meist für sich allein herausfinden. Prof. Dr. Jalid Sehouli, Direktor der Klinik für Gynäkologie der Charité hat darüber ein Buch geschrieben. Darin gibt er viele praktische Tipps, weist aber auch auf die Kraft der guten Nachricht hin.

Warum ist Ihnen das Thema „schlechte Nachrichten gut zu übermitteln“ so wichtig?

Prof. Dr. Jalid Sehouli: Bereits als junger Arzt wollte ich später große komplizierte Operationen machen. Aber ich sah schon damals, dass dies auch von schweren Schicksalen begleitet wird. Ich fragte mich: Wie kann ich ein guter Operateur werden, wenn ich nicht auch weiß, wie man schlechte Ergebnisse kommuniziert? Doch die Themen Sterben wie auch Versagen sind in der Klinik tabu. Also habe ich mich damit beschäftigt.

Wie lauten Ihre wichtigsten Ratschläge für Kollegen?

Prof. Dr. Jalid Sehouli: Ärztinnen und Ärzte sollten solche Gespräche ankündigen, damit sich die Patientinnen und Patienten darauf vorbereiten können. Vor der schlechten Botschaft empfiehlt es sich, eine kurze Warnung auszusprechen, zum Beispiel „es tut mir leid, aber ich muss ihnen jetzt eine schwierige Nachricht übermitteln“, damit die Kerninformation wirklich ankommt. Auch lautet die Devise: direkt kommunizieren, nicht zu viele Informationen auf einmal und – ganz wichtig – Pausen zulassen. Nicht was gesagt wird zählt, sondern was ankommt. Der Empfänger braucht Zeit, um die Information wenigstens etwas zu verdauen. Daher sollte man zudem gleich ein verbindliches, zeitnahes Nachgespräch vereinbaren, am besten am nächsten oder übernächsten Tag. Die Betroffenen müssen sich sammeln können, um Fragen zu überlegen, bevor Therapieentscheidungen getroffen werden. Wer nur anbietet, „wenn Sie Fragen haben, rufen Sie mich mal an“, weiß doch, dass das kaum klappt.

Was sind wichtige Inhalte?

Prof. Dr. Jalid Sehouli: Patientinnen und Patienten werfen uns immer wieder vor, wir würden „irgendwas“ verkünden, aber sie wüssten gar nicht, was das für sie und ihr Leben bedeutet. Daher sollte man den Fokus nicht so sehr auf CT-Befunde oder Tumormarker legen, sondern ihnen etwas ganz Praktisches an die Hand geben. Fragen, die sie bewegen, sind zum Beispiel: Was passiert denn jetzt mit mir? Wie komme ich nach Hause? Wer organisiert mir die Pflege? Sinnvoll ist, den konkreten nächsten Schritt zu benennen und den Inhalt des Gesprächs zum Schluss noch einmal kurz zusammenzufassen. Zudem ist es immer hilfreich, Materialien und Adressen mitzugeben. Ebenso sollte man ergründen, ob vielleicht seelsorgerische oder psychoonkologische Unterstützung gebraucht wird. Auch ein unterschätzter Punkt: Begleitung. Wir haben unsere Patientinnen mal dazu in einer Studie befragt. 80 Prozent hätten gerne jemand bei diesen Gesprächen dabeigehabt, was in der Regel aber nicht der Fall war.

Müssen immer alle Befunde dazu vorliegen?

Prof. Dr. Jalid Sehouli: Die Wesentlichen sollten da sein, aber man muss nicht auf alles warten. Denn wenn etwas versteckt oder hinausgezögert wird, merken das die Patientinnen und Patienten meist. Das Gespräch sollte daher so bald wie möglich stattfinden. So ist auch der Druck raus und Ärztinnen und Ärzt werden nicht auf dem Flur abgefangen oder Pflegekräfte „gelöchert“. Häufig geht es nicht um den Spezialisten-Plan, sondern um Orientierung. Oft reicht die Diagnose. Dennoch kommt es auf den Einzelfall an. Wenn unklar ist, ob es Rettungsanker geben könnte, sollte man vielleicht schon bis zur Tumorkonferenz warten.

Was kann man auf die Frage „welche Chance habe ich?“ antworten?

Prof. Dr. Jalid Sehouli: Ich finde, man sollte Patientinnen und Patienten fragen, was sie mit Chance meinen, um Missverständnisse zu vermeiden und nicht irgendwelche Monate einer vermeintlichen Prognose benennen. Die Studien benennen eher Durchschnittszahlen als Ausnahmen. Was Sie antworten könnten, ist: „Was ist Ihnen denn wichtig?“ Geht es zum Beispiel um die Einschulung eines Kindes im August, könnten Sie entgegnen: „Ich kann auch nicht in die Zukunft schauen, aber ich glaube, dass Sie das schaffen.“ Ich habe auch schon gesagt „Wissen Sie, ich kenne Menschen, die gehen aus dem Zimmer und sind nach zwei Stunden tot. Und dann kenne ich Menschen, die kommen nach fünf Jahren zu mir und sehen immer noch besser aus als ich. Ich kann Ihnen versprechen, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass Sie heute sterben und es sieht nicht so wahrscheinlich aus, dass Sie in fünf Jahren besser aussehen als ich, aber ich will es nicht ausschließen“. Manchmal mache ich auch den Vergleich zum Fußball auf und sage „alle wollen ins Finale. Aber da gibt es eine erste Runde, eine zweite, eine dritte. Lassen Sie uns erstmal die nächste Runde schaffen. Aber ich sage nicht, dass das Finale ausgeschlossen ist.“ So mache ich das, aber es gibt kein Patentrezept. Man muss schauen, wer einem gegenübersitzt. Denn es gibt auch Situationen, in denen Patientinnen und Patienten es recht konkret wissen müssen. Da geht es um Testamente, Vorsorgevollmachten oder Heirat. Dieser Spagat ist nicht leicht.

Trotzdem: Wie wahr muss die Botschaft sein?

Prof. Dr. Jalid Sehouli: Patienten monieren oft, dass Ärztinnen und Ärzte nicht die ganze Wahrheit sagen, so das Ergebnis unserer Studie. Aber die „echte“ Wahrheit kennt ja keiner. Ich würde eher Wahrhaftigkeit sagen. Ärzte kommen häufig gleich nach der schlechten Botschaft mit einer scheinbaren Lösungsstrategie, obwohl sie wissen, dass es nur eine Option ist, die auch nicht sehr vielversprechend ist. Das kann falsche Hoffnungen schüren und der Beziehung schaden. Gerade bei lebensbedrohlichen Krankheiten ist eine offene, ehrliche Kommunikation wichtig. Man muss nicht alles sagen, was man weiß, aber das, was man sagt, muss so wahrhaftig wie möglich sein.

Wie wichtig sind die Rahmenbedingungen? Sollte ich als Ärztin den roten Lippenstift abwischen?

Prof. Dr. Jalid Sehouli: Das ist ein sehr wichtiges Thema. Ich finde, dass man sich auch in einer therapeutischen Rolle nicht zu sehr verstellen muss. Wenn Sie immer einen knallroten Lippenstift tragen, mit dem die Patientin Sie auch kennengelernt hat, wird ihr das nicht negativ auffallen. Wenn Sie den aber abwischen, wird sie wohl denken, das kann nur ein schlechtes Zeichen sein. Wenn Sie aber zu einer Ihnen unbekannten Patientin kommen mit einem Lippenstift, der eher an eine große Party erinnert, ist das vielleicht schon unpassend. Generell finde ich jedoch, dass äußere Rahmenbedingungen nicht so wichtig sind. Entscheidender ist, authentisch zu sein. Es geht um die innere Haltung, die Beziehung und die nonverbale Kommunikation der Augen, der Hände und des ganzen Körpers. Das Gespräch sollte in Augen- und Herzenshöhe stattfinden und Wertschätzung sowie Hilfsbereitschaft vermitteln.

Ist das immer gut zu schaffen?

Prof. Dr. Jalid Sehouli: Natürlich nicht. Aber es gibt immer noch Plan B. Das ist ein ganz wichtiger Tipp! Verlief ein Gespräch holprig, kann man den Patienten oder die Patientin fragen, ob Sie einen neuen Start versuchen sollten. Ich schicke meine Patientinnen in diesem Fall kurz raus und rufe sie nach einigen Minuten wieder rein. Dann geht es meistens viel besser. Auch weil sie sehen, dass sie mir wichtig sind.

Was machen Sie davor und danach? Haben Sie Rituale?

Prof. Dr. Jalid Sehouli: Rituale wie beim Hochstabspringen wären sicherlich hilfreich. Ich kenne Kollegen, die sich die Hände waschen, Tee trinken oder bewusst aus dem Fenster schauen. Ich selbst habe kein richtiges Ritual, weil ich das nicht per se als Last betrachte. Es gehört dazu wie eine schwere Operation. Ich hole einmal tief Luft, trinke einen Kaffee und gehe in das nächste Gespräch. Das ist in der Regel ja nicht gleich wieder eine Katastrophe. Dennoch ist es gut, bewusst wahrzunehmen, wann es zu viel wird. Denn unsere Arbeit hört nie auf. Da muss man notfalls auch mal sagen „jetzt geht's nicht gleich wieder weiter“. Doch das muss ebenfalls gelernt werden.

Wie wichtig ist Spiritualität in solchen Gesprächen?

Prof. Dr. Jalid Sehouli: Spiritualität kann ein sehr guter Zugang zu Patientinnen und Patienten sein, um Vertrauen aufzubauen und ihre individuellen Kraftquellen zu identifizieren. Das kann der Resilienz sehr dienlich sein. Und warum soll ich gerade in so einer Not nicht über Dinge reden, die jenseits der klassischen Naturwissenschaft liegen? Das wichtige ist der Aufbau der Beziehung über Vertrauen und Verständnis.

Wie nähern Sie sich diesem Thema?

Prof. Dr. Jalid Sehouli: Dafür gibt es keine goldene Regel. Oft ergibt sich das von allein. Man kann das aber auch indirekt erfragen, zum Beispiel mit: „Was ist Ihnen in Ihrem Leben wichtig? Woher holen Sie Ihre Kraft?“ Generell empfiehlt es sich nicht direkt zu fragen: „Sind Sie gläubig?“ Besser ist: „Wie wichtig ist Ihnen Spiritualität?“ Trotzdem sollten wir nicht so viel Angst haben vor falschen Fragen, eher davor, dass wir keine Antworten erlauben. Was soll schon Schlimmes passieren? Wenn jemand sagt, er glaubt nicht an Gott, antworte ich „ich wollte das nur wissen, damit ich kein Thema übersehe, das Ihnen wichtig ist“ – und gehe zum nächsten Punkt über.

Was sollte ich noch beachten?

Prof. Dr. Jalid Sehouli: Der erste Schritt ist, sich klarzumachen „mir ist Kommunikation wichtig“. Das klingt immer so selbstverständlich, wird aber nicht gelebt. Hierzu gehört auch, sich die Frage zu stellen: Will ich in Beziehung zu meinem Gegenüber gehen? Denn das bedeutet, dass es um zwei Perspektiven und den Austausch in beide Richtungen geht. Einbahnstraßen machen Patientinnen und Patienten nicht handlungsfähig und sind schlecht für die Compliance. Und auch wenn wir Ärztinnen und Ärzte darauf trainiert sind, immer zu reden: Versuchen Sie, mehr zu schweigen. Hören Sie einfach mal zu und beobachten Sie die Emotionen Ihres Gegenübers. Und auch wenn Sie schon sehr erfahren sind, schauen Sie trotzdem mal, wie andere das machen. Vielleicht kann sich jemand auch mal Ihre Gesprächsführung angucken. Und: Führen Sie ein solches Gespräch nur, wenn Sie es wirklich schaffen. Denn wenn Sie noch 1.000 andere Sachen zu tun und eigentlich keine Zeit haben, sollten Sie sich entweder den nötigen Freiraum dafür schaffen oder das Gespräch delegieren – man muss nicht alles selber machen.

Was sollte sich in der Medizin ändern?

Prof. Dr. Jalid Sehouli: Wir machen uns nur Gedanken über Indikationen, Kontraindikationen und Dosierungen. Doch für mich ist Kommunikation die wichtigste Arznei – aber wir agieren, als ob wir diese Kunst einfach so beherrschen würden. Doch auch sie muss gelernt und geübt werden. Insgesamt glaube ich, dass wir eine strukturelle Veränderung in der Medizin brauchen. Supervision und Coaching sollten dazugehören, Storytelling Teil des Ausbildungskonzepts werden. Schon Studierende müssten Bücher von Betroffenen lesen, um die Kranken gut begleiten zu können. Das ist mir durch folgendes Erlebnis noch klarer geworden: Vor ein paar Jahren wurde ich in meinem Büro zusammengeschlagen. Vier Stunden später schrieb ich auf der Intensivstation auf, was der Überfall psychisch in mir ausgelöst hatte. Dies veröffentlichte ich später in meinem Buch „Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo“. Etliche Zeit später kam eine Kollegin aus der Unfallchirurgie auf mich zu. Sie meinte, sie habe erst nach dieser Lektüre erkannt, was das für mich bedeutet hat und hätte mir viel mehr helfen sollen.

Was ist Ihnen noch wichtig?

Prof. Dr. Jalid Sehouli: Die gute Botschaft. Eine Zeit lang habe ich mir ganz bewusst etwas Positives für die Visite einfallen lassen. Das muss nicht gleich ein Wunder sein, sondern eine einfache Geste, eine kleine Überraschung. Wie einer Patientin einen Lolli zu geben, als Aufmerksamkeit nach einer Achtstunden-Operation. Meine Philosophie ist, dass man auch in der Beziehung zum Patienten Gutes artikuliert. Ich hatte gerade eben eine Patientin mit fortgeschrittenem Eierstockkrebs da. Ich sagte ihr, das Positive sei, dass sie keine Metastasen in der Leber und Lunge hat, was sie sehr gefreut hat. Auch nehme ich Patientinnen, denen ich gute Botschaften in meiner Sprechstunde mitteilen konnte, mit in die Chemo-Ambulanz und verkünde das dort noch mal, damit sich alle mitfreuen können.

Das heißt nicht, dass es immer etwas Gutes geben muss. Manche Hiobsbotschaften sind einfach todtraurig. Trotzdem gibt es viel Schönes in unserem Beruf, das wir teilen sollten. Stattdessen sagen wir immer nur, dass die Zeit fehlt, dass wir zu viel zu tun haben, dass das Bett nicht fertig ist. Unsere Abteilung bekam neulich einen tollen Brief von einer Patientin. Ich habe diesen unserer Stelle „Lob & Beschwerde“ geschickt – und hörte dann, dass sie dort auch nie ein Lob bekommen.

Fünf goldene Regeln für die Übermittlung der guten Nachricht:

  1. Investiere Zeit in die Vorbereitung und erhöhe die Achtsamkeit für gute Nachrichten (zum Beispiel Normalbefunde, fehlende Zeichen eines Rezidivs)
  2. Kündige die gute Botschaft an
  3. Lass deinem Gegenüber nach der Kernbotschaft Zeit sie anzunehmen. Nutze diese Pause um deine Emotionen und die des Patienten wahrzunehmen.
  4. Nenne die praktischen Konsequenzen. Was bedeutet das (zum Beispiel, dass man keine Nachsorge braucht oder nicht mehr operieren muss)?
  5. Halte die gute Nachricht fest (durch das Führen eines Tagebuchs, eine Notiz im Arztbrief oder eine kleine Feier). Sprich auch mit deinen Kollegen und deinem sozialen Umfeld darüber. So nimmst du nicht nur die Tragödien mit nach Hause.

Der Experte:

Prof. Dr. Jalid Sehouli
Prof. Dr. Jalid Sehouli ist Direktor der Klinik für Gynäkologie und Ordinarius an der Charité in Berlin, Schwerpunkt Krebserkrankungen. Er schrieb mehrere Bücher und führt in der Klinik Mitarbeiter-Seminare zum Thema durch. Hierbei agieren Schauspieler als Patienten in Rollenspielen. Auch etablierte er das kreative Schreiben. Ein Coach gibt regelmäßig Kurse für Patientinnen, damit sie ihre Ängste in Texten verarbeiten. Daraus entwickelte er Übungsbücher für Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal und Betroffene.

2018 erschien sein Buch „Von der Kunst, schlechte Nachrichten gut zu überbringen“ beim Kösel-Verlag. Es enthält zahlreiche Beispiele aus dem praktischen Alltag, stellt Techniken vor und hält Checklisten bereit. 

Bild: © Werner Schuering

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