
Fehler sind unangenehm, aber sie passieren nun einmal. Mit dem richtigen Blickwinkel betrachtet sind Fehler Gold wert – wenn man sie nutzt. Und da es sie ohnehin gibt: Was spricht gegen die Idee, einfach etwas Gutes daraus zu machen?
Am Rande eines größeren Seminars kam ich vor einiger Zeit mit Helene Vogt ins Gespräch. Die Assistenzärztin, die in der Pädiatrie einer Klinik der Maximalversorgung arbeitete, war zutiefst unglücklich. Sie war auf dem Land aufgewachsen und hatte an einer kleineren Uni studiert. „Ich habe mich an dieser riesigen Klinik beworben, weil ich das Gefühl hatte, dass dies zu einer Karriere dazugehört. Nun fühle ich mich am völlig falschen Platz. Ich hasse diese riesige Stadt, die große Abteilung, die unübersichtliche Klinik. Mein früherer Chef hätte mich gern behalten, in einer kleinen, gemütlichen Klinik im Grünen. Ich Trottel habe ihm abgesagt. Stattdessen habe ich mich in diesem Bunker hier beworben – ein großer Fehler. Und meine alte Stelle ist besetzt. Was mache ich denn jetzt?!“
Fehler werden oft stigmatisiert und vertuscht
Nachdem mir Helene Vogt ihre Misere berichtet hatte, lehnte ich mich im Stuhl zurück und meinte: „Was für ein Glück, dass Ihnen das passiert ist!“ Sie schaute mich an, als wären meine Haare verrutscht. „Schlimmer wäre gewesen“, sagte ich, „wenn aufgrund Ihres Fehlers ein Kind zu Schaden gekommen wäre. Sie sind ein glücklicher Mensch. Sie haben die einmalige Chance, den Umgang mit Fehlern zu lernen, ohne in der ganz großen Katastrophe zu stecken. Nutzen Sie das!“
Wer als Arzt oder Ärztin arbeitet, macht Fehler, die Schäden bei Patienten produzieren können. Trotz vieler Bemühungen um Aufklärung im Rahmen von CIRS-Systemen, Risiko- und Qualitätsmanagement, haftet Fehlern immer noch ein Stigma an. Dadurch werden Fehler zu etwas, was Ärzte und Pflegekräfte mit sich allein ausmachen. Die Folgen sind schädlich: geringere Arbeitszufriedenheit, Angst, geminderte Schlafqualität und verpasste Lernchancen. Stigmatisierung und Vertuschung von Fehlern widerspricht der ärztlichen Grundhaltung in ihren Wurzeln. Ärztinnen und Ärzte treten ihren Beruf an mit der Idee, die Situation von Menschen zu verbessern. Eine Kultur, in der Fehler bestraft und vertuscht werden, vermeidet systematisch dringend benötigte Lerneffekte, die Abläufe optimieren und die Versorgung verbessern. Das fühlt sich für denkende Mitarbeitende zutiefst falsch an. Und es widerspricht dem hippokratischen Eid. Wer Fehler vertuscht, bewahrt seine Patienten eben nicht vor Schaden, sondern akzeptiert Systeme, die Fehler begünstigen.
Helene Vogt sah mich entsetzt an. „Da haben Sie recht. Mir ist klar, dass mir als Ärztin ein Fehler passieren kann, bei dem ein Kind einen Schaden erleidet. Ich glaube, das würde ich nicht aushalten.“ Sie machte eine Pause und schnaufte durch. „Dann kann ich den Umgang mit Fehlern ja jetzt üben, indem ich mich nur mit meiner Mutter auseinandersetzen muss.“
Schritt 1: Die ehrliche Fehleranalyse
Die Assistenzärztin nahm sich Zeit zu überlegen, was zu ihrer Fehlentscheidung geführt hatte. Sie landete bei der Erkenntnis, dass es in ihrer Familie nie eine Alternative zu einer Karriere in einer großen Klinik gegeben hatte. Ihre Eltern waren verbal recht versiert. Aus Angst und Bequemlichkeit hatte sie sich nie die Mühe gemacht, sich in innerfamiliären Diskussionen durchzusetzen. Lieber hatte sie sich den dortigen Wertvorstellungen angepasst.
Schritt 2: Der Weg aus dem Problem
Helene Vogt fiel es schwer, sich auf die Auseinandersetzung mit ihrer Familie einzulassen. Aber sie stellte sich der Sache und übte mit mir und Freunden, wie sie mit den bekannten Argumenten ihrer Eltern umgehen könnte. Mit der Zeit wurde sie sicherer. Als sie sich ausreichend sicher fühlte, rief sie ihren ehemaligen Chef an, entschuldigte sich und berichtete ihm von ihrer Situation. Zu ihrem Erstaunen fand sie eine warme Aufnahme. Sie erlebte etwas, was viele Menschen berichten, die einen Fehler „aufräumen“: Ein ehrliches Wort kommt an und das Gegenüber nimmt ein „Tut mir leid!“ üblicherweise an.
Ihr ehemaliger Vorgesetzter freute sich und bot ihr die Rückkehr an. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Und der Kloß im Hals und die Atemnot, die sie seit Wochen plagten, waren weg. Im nächsten Schritt stellte sie sich der Auseinandersetzung mit den Eltern. Es wurde laut und heftig. In einem anschließenden Telefonat mit ihr traf ich auf eine völlig veränderte, klare und starke junge Frau. Sie kündigte ihren Arbeitsplatz in der großen Klinik und zog an den Ort ihrer alten Stelle zurück.
Schritt 3: Die Fehlerprävention
Sind die gröbsten Schwierigkeiten bewältigt, steht der nächste Schritt an: Maßnahmen, die dafür sorgen, dass genau dieser Fehler nicht wieder passiert. Helene Vogt erarbeitete sich eine neue Beziehung zu ihrem Elternhaus, was ihr ermöglichte, ihr eigenes Leben zu leben. Wenn Schwierigkeiten auftraten, fragte sie sich konsequent, welche Rolle Angst und Bequemlichkeit beim Entstehen schwieriger Themen spielten. Sie wurde mutiger und proaktiver in der Prävention von Problemen, auch im Zwischenmenschlichen.
Vor wenigen Monaten traf ich Dr. Helene Vogt bei einer QM-Prüfung wieder. Sie war inzwischen Leitende Oberärztin in immer noch der gleichen Klinik. Es war ihr gelungen, das Gelernte aus der damaligen Fehlentscheidung in ihrer Abteilung gut zu nutzen. Sie kümmerte sich mit der QM-Beauftragten um das Risikomanagement. Zusammen mit ihrem Team war es ihr gelungen, ein niederschwelliges und effizientes Fehlermanagement zu implementierten. Die Klinik sammelte jährlich einen Schatz von Fehlermeldungen aus dem ganzen Haus. Das Risikomanagement-Team betrachtete jede Fehlermeldung und leitete, wann immer möglich, gemeinsam mit den Betroffenen Folgemaßnahmen ab.
„Wissen Sie, Frau Schuster“, sagte Dr. Vogt über eine Tasse Kaffee hinweg, „dank unseres Fehlermanagements brauchen wir hier keine Unternehmensberatung. Wir lernen dank dem Engagement unseres Teams täglich dazu. Und dabei ist für mich das Wichtigste, dass wir genau dann weiter miteinander sprechen, wenn ein Schaden an den Patienten entstanden ist. Ärzte und Pflegekräfte sind auch Menschen. Es gelingt uns, sie aufzufangen, wenn etwas passiert. Und allein das ist ein unbezahlbarer Wert. Was wäre mir entgangen, wenn ich mich damals nicht falsch entschieden hätte!“
Dtsch Arztebl 2023; 120(24): [2]
Die Autorin
Dipl. Psych. Gabriele Schuster
Athene Akademie
97072 Würzburg