Frust statt Freude, das erleben auch neu eingestellte Chefärztinnen und Chefärzte. Effektives Onboarding erleichtert ihnen den Start. Wie das funktionieren kann, zeigt das Beispiel des Kreisklinikum Siegen. Geschäftsführer Ingo Fölsing und Coachin Ulrike Ambrosy erläutern, was dort genau gemacht wird – und geben Tipps, worauf Bewerbende achten sollten.
Herr Fölsing: Warum ist Onboarding für die Chefarztposition wichtig?
Ingo Fölsing: In der Regel wechseln Menschen ihre Arbeitsstelle, weil sie sich von der neuen Position viel versprechen. Ich erlebe, dass gerade die jungen Chefärztinnen und Chefärzte eine Vision haben, etwas bewegen wollen. Viele starten mit jeder Menge Elan in der neuen Klinik, doch ihr Anfangsenthusiasmus wird häufig ausgebremst. Wenn man sie einfach so draufloslaufen lässt, sind sie verloren. Sie kennen nicht die richtigen Wege und Ansprechpartner. Also sind sie innerhalb kürzester Zeit frustriert, weil nichts vorangeht. Sie denken dann ganz schnell „oh, das kann aber ganz schön zäh werden in den nächsten 30 Jahren...“
Was tun Sie am Klinikum Siegen, damit das nicht passiert?
Ingo Fölsing: Mit Arbeitsbeginn startet unser Onboarding-Prozess. Gleich zu Beginn bekommt jede neue Führungskraft einen Serientermin: Alle zwei Wochen stehen Treffen mit den Leitern sämtlicher anderer Bereiche an, von der IT über die Technik bis zum Personal. Die Dauer dieser Meetings ist auf eine Stunde begrenzt. Hier kann der Neuzugang alles fragen, was ihn aktuell beschäftigt und sagen, was er konkret benötigt – ob es eine spezielle Info ist, ein Laptop für einen Vortrag, ein ergonomischer Bürostuhl oder dass etwas mit dem eArztbrief-System nicht klappt. So wird alles ganz schnell auf den Weg gebracht. Innerhalb weniger Wochen haben die neuen Chefärztinnen und Chefärzte auf diese Weise zudem alle wichtigen Kontakte und kennen die Strukturen unserer Klinik mit immerhin 1.900 Mitarbeitenden. Darüber hinaus gibt es noch einen zweiten Baustein.
Der wäre?
Ulrike Ambrosy: Über ein Jahr verteilt führe ich alle drei Monate ein Einzelcoaching durch, das einen halben Tag dauert. Zunächst werden die klassischen Management-Themen besprochen, vor allem, was in den ersten 100 Tagen zu tun ist. Dabei ist unter anderem Personalführung ein wichtiges Thema. Dabei lernen die neuen Chefärztinnen und Chefärzte Methoden kennen, beispielsweise wie Feedbackgespräche geführt werden.
Ist das wirklich nötig?
Ulrike Ambrosy: Ja. Wir reden über hochgradig versierte Fachleute, die aber mit solchen Themen nie konfrontiert wurden. Ein bisschen verändert sich das. Manche der Jüngeren haben schon mal eine Fortbildung in diesen Bereichen gemacht – aber wer zu mir kommt, in der Regel nicht. Vielen ist gar nicht klar, welche Aufgaben auf sie zukommen. Ich habe noch Sätze von einem Chefarzt im Ohr, der erst kürzlich zu mir sagte: „Also, dass ich jetzt so viel Zeit damit verbringe, Gespräche zu führen, habe ich nicht erwartet. Aber jetzt sitze ich dort jeden Tag am Tisch und muss reden...“
Was sind weitere Inhalte?
Ulrike Ambrosy: Im Onboarding geht es häufig um Abläufe. Vieles ergibt sich aus dem täglichen Tun. Wie bekommt man eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit hin – mit der Pflege, Therapeuten, aber auch mit Chefärztinnen und -ärzten anderer Stationen, zu denen es Vernetzungen gibt? Hier arbeiten wir mit konkreten Live-Beispielen aus dem Alltag. Dabei handelt es sich häufig um Konflikte mit anderen Kollegen, Konkurrenz, alte Strukturen und Generationenthemen.
Im Verlauf kann Onboarding außerdem dazu führen, dass die Besprechungskultur auf den Prüfstand kommt. Ich frage dann: Wie bespricht man sich bei Ihnen? Und was muss eventuell anders werden? Schon durch kleine Veränderungen lassen sich unheimlich viele Reibereien auflösen, zum Beispiel beim Bettenmanagement.
Ingo Fölsing: Auch wird im Coaching analysiert, was der Auftrag der Geschäftsführung an den jeweiligen Chefarzt oder die Chefärztin ist. Was soll da künftig umgesetzt werden? Oft sind mit der neuen Besetzung einer Position auch weitere konkrete Aufgaben verbunden, wie etwa ein Zentrum aufzubauen. Dann müssen dort die Fachbereiche gebündelt und das Personal neu aufgestellt werden.
Gibt es weitere Module?
Ulrike Ambrosy: Manchmal. In Siegen war es hilfreich, dass der neue Chefarzt mit den Oberärzten eine Offsite-Klausurtagung durchführte, um die künftigen gemeinsamen Ziele zu formulieren. Hier habe ich mit dem Chefarzt überlegt, wie wir diesen Workshop zusammen gestalten. Ein Nebeneffekt ist meist eine bessere Personalbindung. Denn diese Zeit wird immer auch genutzt, damit sich alle untereinander mehr kennenlernen. Das betrifft nicht nur die Neuen. Obwohl viele schon jahrelang zusammenarbeiten, bin ich doch immer wieder überrascht, dass der eine vom anderen so gut wie nichts weiß.
Wie lange machen Sie das Onboarding am Kreisklinikum Siegen schon?
Ingo Fölsing: Seit vier Jahren. Seitdem wird hier keine stille Post mehr gespielt, und die neuen Chefärztinnen und -ärzte nicht mehr von Pontius nach Pilatus geschickt. Das Konzept ist über ein Jahr angelegt. Aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir nach einem halben bis dreiviertel Jahr fertig sind und die Chefärztinnen und Chefärzte guten Gewissens in den Regelbetrieb übergehen lassen können.
Worauf sollten Bewerbende Ihrer Meinung nach achten?
Ingo Fölsing: Wir informieren schon im Vorstellungsgespräch über unseren Onboarding-Prozess. Er ist übrigens freiwillig, wird aber sehr gerne angenommen. Ich kann Bewerbenden nur raten, danach konkret zu fragen. Man sollte unbedingt die Frage nach der Ausgestaltung des Onboardings stellen und sich genau die einzelnen Schritte erklären lassen, wer sie begleitet und wie – und sich nicht mit schwammigen Formulierungen zufriedengeben.
Ist so viel Aufwand wirklich nötig, Chefarztposten sind doch attraktiv?
Ulrike Ambrosy: Im Moment ist es unter den jungen Leuten nicht unbedingt attraktiv, Führungsaufgaben zu übernehmen. Das Finanzielle spielt nicht mehr die Hauptrolle, es geht um Freizeit. Lebensphilosophie und Einstellung zur Arbeit haben sich gravierend verändert.
Ingo Fölsing: Deshalb haben wir in Siegen ebenfalls Chefärztinnen und -ärzte in spe im Blick, wie Sektionsleitende, Oberärztinnen und -ärzte sowie auch manches Talent ab Facharztebene. Wir vermitteln ihnen intern früh durch gezieltes Coaching, dass es Spaß macht, mehr Handlungsspielraum zu besitzen, Entscheidungen zu treffen und Dinge nach vorne zu bringen. Auch bei Mitarbeitergesprächen mit Potenzialträgern kann man salopp gesagt manche auch ein bisschen schubsen, nach dem Motto „probier das doch mal aus und schau, ob das etwas für dich ist“. Da stellt man den jungen Leuten nicht sofort die Führungsverantwortung in Aussicht, sondern fragt: „Kannst du dir vorstellen, dieses Projekt zu leiten?“
Wenn Sie Ihre Leute so fit machen, haben Sie keine Angst, dass sie dann da weggehen?
Ingo Fölsing: Nein. Die meisten bleiben. Wir haben es auch schon erlebt, dass einige gefragt haben, ob sie zurückkommen dürfen. Einer rief schon nach sechs Wochen an.