Dr. Jörg Semler über Inklusion: „Mit 1,40 Metern Körpergröße kann man keine Hüften einsetzen.“

31 August, 2020 - 07:36
Lukas Hoffmann
Dr. Jörg Semler
Dr. Jörg Semler in der Lobby des neuen Klinikgebäudes.

Inklusion und ärztliche Weiterbildung passt das zusammen? Dr. Jörg Semler ist seit seiner Geburt an Osteogenesis Imperfekta, der sogenannten Glasknochenkrankheit, erkrankt und arbeitet heute als Kinderarzt an der Uniklinik Köln. Im Interview spricht er über seine berufliche Vita.  

Dr. Semler hat vor Kurzem ein Büro in einem brandneuen Gebäude der Uniklinik Köln bezogen. Auf den Gängen ist am späten Nachmittag wenig los, die Büros in den oberen Etagen sind noch nicht besetzt. Er begrüßt sitzend an seinem Schreibtisch, kein Umzugskarton steht mehr herum, das Zimmer ist aufgeräumt und sauber. Nur ein Bild an der Wand sucht man vergeblich: „Das wird in der nächsten Zeit noch ein bisschen persönlicher werden“, sagt er. 
 
Herr Dr. Semler, Sie sind Arzt und Patient zugleich. Würden Sie sagen, Sie betreuen Patienten anders als Ihre Kollegen?
 
Dr. Jörg Semler: Ich kann mich wahrscheinlich in manche Erkrankungs-Situationen besser hineinversetzen, weiß aber auch, was trotz Erkrankung machbar ist, wenn man sich anstrengt. Deshalb bin ich jemand, der Patienten und Familien viel abverlangt. Die Hauptsymptome von Osteogenesis Imperfekta hören nach der Pubertät auf. Das heißt, in der Kindheit und Jugend stellt man die Weichen für das spätere Leben, auch wenn diese Zeit die schwierigste ist, weil im Rahmen des Wachstums die meisten Knochenbrüche auftreten. 
 
Sie hatten in Ihrer Kindheit und Jugend dreißig Knochenbrüche. Wie steckt man so etwas weg? 
 
Dr. Jörg Semler: Ich habe in der Kindheit den Umgang mit Rückschlägen gelernt. Und auch, dass man sich mit seiner Erkrankung und seinem Anderssein auseinandersetzen muss. Das ist erst einmal schwierig, dazu muss man eine stabile Psyche aufbauen. Wenn ich mit dem Kittel durch die Ambulanz gehe, finden alle Kinder das interessant und sagen Dinge wie: „Guck mal, Mama, der kleine Arzt da!“ Das muss die Psyche verkraften. 
 
Die Frage nach der richtigen Facharztweiterbildung beschäftigt im Studium viele Medizinstudenten. Haben Sie sich die Frage auch gestellt?
 
Dr. Jörg Semler: Für mich war von Anfang an klar: Entweder werde ich Kinderarzt oder Orthopäde. Das sind die beiden Bereiche, die ich aufgrund meiner Erkrankung als Patient kennengelernt habe. Ich habe überlegt, was ich sinnvoll leisten kann. So wie manch einer sich überlegt, wie sich der spätere Arztberuf mit der Familienplanung kombinieren lässt oder andere ganz persönliche Überlegungen anstellt. Ich habe gesagt, es funktioniert halt nicht. Mit 1,40 Metern Körpergröße kann man keine Hüften einsetzen. In der Kinderheilkunde kann ich meinen vermeintlichen Nachteil zum Vorteil ummünzen. Kinder mit einer Glasknochenerkrankung fassen schnell Vertrauen zu mir, aber auch der 4-Jährige mit Husten und Schnupfen findet mich spannend.

An Schulen ist Inklusion ein heiß diskutiertes Thema. Haben Sie in Studium und Weiterbildung ausreichend Hilfe erhalten? 

Dr. Jörg Semler: Ich bin gut durchgekommen, aber ohne, dass es besonders einfach war. Ich denke, man muss gucken, wo man die Inklusion verbessern kann. Man muss aber auch überlegen, dass sie im Berufsleben realistisch umsetzbar ist. Mit einem Rollstuhl wird es sehr schwierig, eine klinisch-praktische Facharztausbildung zu machen. Als ich als Assistenzarzt anfing, stellte der Betriebsarzt fest, dass ich kleiner als andere bin und wohl Probleme haben werde,  an manche Dinge heranzukommen und Patienten zu untersuchen. Er bot mir an, eine Trittleiter zu besorgen. Das ist eine nette Idee, aber wie stellte er sich das vor? Dass ich bei Visite mit Trittleiter von Zimmer zu Zimmer gehe? Wenn ich niemanden untersuchen kann, in einem normalen Bett, ist es nicht möglich, diese Fachrichtung auszuüben, dann muß man eine Fachrichtung wählen, die mit geringer Mobilität zu leisten ist, wie zum Beispiel Pathologie, Virologie oder ähnliches. Nicht jeder Bereich der Medizin ist für jeden auch unter Inklusionsgesichtspunkten geeignet und umsetzbar. 
 
Können Sie als Kinderarzt in Ihrem Arbeitsalltag nun alles machen, was Ihre Kollegen auch tun, oder gibt es Einschränkungen? 

Dr. Jörg Semler: Schwierig ist für mich, nachts alleine Dienste zu leisten. Im Tagesverlauf ist immer noch ein Kollege da, der einspringen kann, wenn ein agitierter Jugendlicher gebändigt werden muss. Deshalb wurde, sehr mit meinem Einvernehmen, die Entscheidung gefällt, dass ich keine Dienste alleine mache. 
 
Wenn Sie sich heute Ihre berufliche Vita anschauen, sind Sie zufrieden mit Ihrer Studienwahl? Sind sie gerne Arzt? 
 
Dr. Jörg Semler: Ja, ich bin sehr zufrieden mit meiner Berufswahl. Ich hatte bei Studienbeginn allerdings nicht gedacht, dass der Beruf einen so großen Anteil der 24 Stunden des Tages frisst. Gerade deswegen schätze ich hier an der Uniklinik den Mix aus Patientenversorgung, Wissenschaft und Lehre. Dadurch ist mein Arbeitsalltag zwar lang, aber abwechslungsreich und immer wieder spannend. 

Das könnte Sie auch interessieren: