Prof. Dr. Stingl: „Ich bin fasziniert von der Vielfalt pharmakologischer Therapien“

8 Mai, 2025 - 07:33
Dr. Sabine Glöser
Köpfe und Karriere: Prof. Dr. Julia Stingl
Prof. Dr. med. Julia Stingl ist seit 1. Januar 2025 neue Ärztliche Direktorin der Abteilung für Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie am Universitätsklinikum Heidelberg.

Über wichtige Erfahrungen, gewonnene Einsichten und ausgefallene Wünsche spricht aerztestellen.de mit erfolgreichen Ärztinnen und Ärzten. Dieses Mal stellt sich Prof. Dr. med. Julia Stingl unseren Fragen. Sie ist seit 1. Januar 2025 neue Ärztliche Direktorin der Abteilung für Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie am Universitätsklinikum Heidelberg.

Frau Professorin Stingl, warum eigentlich sind Sie Fachärztin für Klinische Pharmakologie geworden?

Prof. Dr. Julia Stingl: Eigentlich wollte ich Psychiaterin werden. Aber als ich als Stationsärztin in einer Psychiatrischen Klinik in Berlin arbeitete, sah ich all die schlimmen Nebenwirkungen bei Patientinnen und Patienten, die Psychopharmaka einnehmen mussten. Dann machten wir mit der Klinischen Pharmakologie zusammen eine Studie zur pharmakogenetischen Therapieoptimierung. Ziel war, einen individuellen Therapiezuschnitt zu erreichen, mit dem alle das für sie am besten geeignete Medikament erhalten und solche Nebenwirkungen vermieden werden können. Zunächst bin ich für diese Forschung in die Klinische Pharmakologie gegangen, aber letztlich nie mehr zurück in die Psychiatrie.

Was ist für Sie unabdingbar, damit Sie gut arbeiten können?

Prof. Dr. Julia Stingl: Ich brauche ein gesundes Gleichgewicht zwischen Funktionalität und Kreativität: Es muss funktionieren, und Regeln geben, wie man arbeitet. Andererseits braucht es auch Freiräume und Muße für neue Ideen und Kreativität, die über das Althergebrachte hinausgehen. Dieses Gleichgewicht erreiche ich leider nicht oft, da meine Arbeit geprägt ist von überbordenden Verwaltungsprozessen und viel Bürokratie. Da kommt die Kreativität oft zu kurz und ich muss mir aktiv Freiräume dafür schaffen.

Wie lautet der beste Rat, den Sie auf Ihrem Karriereweg bekommen haben?

Prof. Dr. Julia Stingl: Ganz zu Beginn, vor meiner ersten Publikation, hat der Herausgeber einer großen wissenschaftlichen Zeitschrift uns, einer Gruppe junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, gesagt: „Don’t publish to publish! Always tell a story, and publish because you want to tell something.“ Das habe ich noch oft nachhallen hören. Forschende müssen begeistert sein, von dem, was sie herausbekommen haben und es gerne erzählen wollen. Leider erlebe ich oft, dass junge Menschen den Druck spüren, jetzt soundso viele Publikationen schreiben zu müssen, zum Beispiel um ihre Habilitation zu bekommen. Dann geht die Begeisterung dafür verloren, eine spannende Geschichte zu erzählen, und das innerliche Brennen für eine Fragestellung erlischt.

Was schätzen Sie an anderen Menschen am meisten?

Prof. Dr. Julia Stingl: Ich schätze die Diversität und Vielfalt, die die Menschen besitzen. Gerade in der Forschung in meinem Fach hat man mit vielen unterschiedlichen Menschen zu tun und arbeitet interdisziplinär. Das heißt, dass jede und jeder etwas mitbringt. Oft erlebe ich, wie so eine unterschiedlich zusammengesetzte Gruppe dann auf ganz neue Ideen kommt und Probleme löst, die jede und jeder Einzelne für unlösbar gehalten hätte.

Was treibt Sie an?

Prof. Dr. Julia Stingl: Ich bin fasziniert von der Idee, dass für alle die für sie passendste Therapie gefunden werden kann. Dazu muss man die Patientinnen und Patienten ganz individuell einschätzen können und auch viele Ideen für unterschiedliche Therapieansätze haben. Hier bietet die Pharmakologie so viele Möglichkeiten, die von ihren Wirkweisen so divers und vielfältig sind, wie die Krankheiten, bei denen sie helfen sollen. Ich finde genau diese Kombi aus Kenntnissen über die Vielfalt pharmakologischer Therapien und über individuelle Wirkungen auf unterschiedliche Menschen ein faszinierendes Zusammenspiel zweier Welten, bei dem ich mein medizinisches Wissen und meine Erfahrung aus der klinisch psychiatrischen Tätigkeit gut verbinden kann.

Mit wem würden Sie gerne einmal einen Abend verbringen?

Prof. Dr. Julia Stingl: Ich bewundere Brigitte Fassbaender, eine Sängerin, die perfekte Interpretationen und höchste Kunst in ihren Rollen darstellte und dennoch früh ihre Karriere als Sängerin beendete und Opernintendantin wurde. Mit ihr würde ich gern mal über die Ähnlichkeit von Kunst und Medizin sprechen und über das hohe Maß an Professionalität und Ernsthaftigkeit, das wir brauchen, wenn wir für das arbeiten, was für Menschen so essenziell und wichtig ist.

Was raten Sie jungen Ärztinnen und Ärzten?

Prof. Dr. Julia Stingl: Versuchen Sie, bei sich zu bleiben und Ihre Rolle authentisch und von innen heraus zu spielen, nicht nach einer äußeren Vorstellung oder Vorgabe. Die Medizin ist eine wunderbare Welt, und die medizinische Wissenschaft ein wertstiftendes Gebiet, aber man kann leicht ins Strudeln kommen. Früher waren Kliniken oft monolithische Machtgebilde und man wurde auf die gewünschte Rolle zurechtgestutzt. Ich bin froh, dass das anders geworden ist und dass die jungen Ärztinnen und Ärzte viel mehr auf ihr Gleichgewicht zwischen Arbeit und Privatleben achten.

Wie gelingt Ihnen eine gesunde Work-Life-Balance?

Prof. Dr. Julia Stingl: Ich versuche, in einem stabilen Work-Life-Rhythmus zu leben. Geholfen hat mir, dass ich früh Kinder bekam und meine gesamte Karriere immer mit „Oh, ich muss meinen Sohn noch vom Kindergarten abholen!“ gemacht habe. Da meine Kinder erwachsen sind, fällt es mir jetzt etwas schwerer, die richtige Ausrede zu finden, um überlange Arbeitstage zu vermeiden.

Woran mangelt es dem deutschen Gesundheitssystem?

Prof. Dr. Julia Stingl: Aus meiner Sicht haben wir eines der besten Gesundheitssysteme in der Welt. Aber aufgrund von Preisspiralen und immer mehr Menschen, die älter werden und medizinische Versorgung brauchen, ist es etwas in Schieflage geraten. Ich denke, wir sollten das Vertrauen und den Mut haben, dass unser Gesundheitssystem gut ist und auch Resilienz besitzt. Wir neigen vielleicht oft dazu, in Panik zu verfallen und alles als schlecht zu empfinden. Stattdessen reichen oft nur kleine Anpassungen oder Veränderungen. Wir haben ein Gesundheitssystem, das uns im Prinzip alle auffängt.

Wann sind Sie glücklich?

Prof. Dr. Julia Stingl: Ich bin glücklich, wenn ich mit Menschen zusammen sein kann, mit denen mich ein langer Weg verbindet und ich gemeinsame Forschung unabhängig von Ort und Herkunft machen kann. Neulich war ein solcher Moment auf einem Forschungsmeeting in Cape Town, als ich einen Kollegen aus Afrika traf, der wie ich seit 25 Jahren auf dem Gebiet der Pharmakogenetik arbeitet.

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