
Moderne Zeiten: Die Chirurginnen e.V. machen es vor. Sie kommunizieren schnell, unkompliziert und „per du“ über alle Hierarchieebenen hinweg, und zwar fast komplett via Chat! Gemeinsam stehen sie so Berufsanfängerinnen in den ersten Nachtdiensten zur Seite, aber auch Ärztinnen 50plus – mit jeder Menge Tipps für Medizin und Karriere.
Stell dir vor, es ist 2.31 Uhr, du bist Ärztin auf deinem ersten Nachtdienst, hast ein Problem, willst aber dafür nicht gleich den diensthabenden Oberarzt rausklingeln. Bei den Chirurginnen e.V. gibt es genau für diesen Zweck einen praktischen Nachtdienst-Chat. „Dort darf man ‚einfach mal‘ alle Fragen reinstellen, die einem so in der Notaufnahme oder auf Station begegnen können“, erklärt Dr. Kathrin Gumpp von „Die Chirurginnen e.V.“. Dieses Angebot wurde speziell für junge Assistenzärztinnen eingerichtet und bringt sie mit erfahrenen Kolleginnen zusammen. „Wir haben im Verein viele Chirurginnen, die zur gleichen Zeit auch im Nachtdienst arbeiten oder Mütter kleiner Kinder, die zuhause auch immer mal wieder nachts wach sind und dann gern ihr Wissen einbringen“, so die Oberärztin.
Der Nachtdienst-Chat: ein Back-up für junge Ärztinnen
Sie schildert ein jüngstes Beispiel: „Am vergangenen Wochenende schrieb eine Assistenzärztin, sie hätte einen Patienten mit Bauchschmerzen da, vielleicht ein Darmverschluss. Von den Kolleginnen gab es schnell Rat zur Differentialdiagnose. Doch plötzlich verließ der Mann die Notaufnahme vor Behandlungsende ohne Rücksprache.“ Die junge Kollegin wusste nicht, was sie nun tun sollte, zumal eventuell rechtliche Konsequenzen drohen. Auch für diese Situation bekam sie Tipps, zum Beispiel, dass – neben der entsprechenden Dokumentation – die Polizei informiert werden sollte, wenn der Patient noch einen i.v. Zugang hat. „So eine ad-hoc-Hilfestellung ist total wertvoll. Solche speziellen Informationen hat man ja nicht immer auf die Schnelle parat“, betont die Gefäßchirurgin.
Typisch ist, dass Röntgenbilder geteilt werden, da nachts meist die Radiologie nicht besetzt ist. „Wenn da irgendwo so ein kleines Splitterchen ist, wissen viele Einsteigerinnen nicht, ist das behandlungsbedürftig? Im Gegensatz zu jemand, der so etwas schon jahrelang begutachtet“, schildert Gumpp. Interessant seien insbesondere handchirurgische Fälle. Diese kommen gerade in der Notaufnahme oft vor, doch auch erfahrenere Kolleginnen kennen sich damit nicht immer gut aus. „Wir haben auch dafür etliche, sehr aktive Spezialistinnen im Verein. Die konnten in diesen Fällen bereits mehrfach sehr fundierte Hilfe leisten, ob man dringend etwas machen muss, es bis zum nächsten Tag warten kann oder wie man die Hand ruhigstellt,“ erläutert sie. Zwar gäbe es keine Garantie auf eine Antwort, aber das gar keine kommt, sei selten. Oft geht es sogar recht schnell, innerhalb von fünf Minuten.
Vom Wissen aller profitieren
Dieses Forum ist aber nur einer von mehr als 50 Chats der rührigen Chirurginnen. Inzwischen gibt es 15 fachspezifische Gruppen für nahezu alle chirurgischen Fächer, von Orthopädie/Unfall-, Viszeral- und Gefäßchirurgie über rehabilitative und gynäkologische Chirurgie, bis zu MKG, HNO und Notfallmedizin. Außerdem existieren regionale Gruppen. Wer auf der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle ist, kann sich hier zum Beispiel erkundigen, wie das Arbeitsklima in einem bestimmten Krankenhaus ist und ob eine jemanden kennt, der da beschäftigt ist. Manchmal sind es aber auch ganz persönliche Anliegen nach dem Motto „meine Oma hat dies und das, wo kann ich die mal hinschicken?“.
Nicht selten werden zudem persönliche Treffen ausgemacht – in der Region, aber auch auf Kongressen, bei denen Frauen immer noch deutlich in der Unterzahl sind. „Wenn man da niemanden kennt, steht man schnell ein bisschen verloren herum. Gerade auf die jungen Kolleginnen kann das sehr einschüchternd wirken“, sagt Gumpp.
Weil, je nach Karrierelevel und Lebenssituation, Verschiedenes unter den Nägeln brennt, gibt es darüber hinaus Chats für Oberärztinnen, leitende Ärztinnen, Wiedereinsteigerinnen, Ärztinnen 50plus sowie Foren zur großen Thematik Arbeiten mit – aber auch ohne Kinder. Dabei sind die Inhalte agil. Viele dieser Schwerpunkt-Themen tauchen auch in den anderen Chats auf – je nachdem, was gerade ansteht.
Natürlich dreht sich ganz viel um Fachliches: So werden unter anderem interessante Artikel weitergeleitet. Oft steht aber die berufliche Situation im Fokus: Wie bist du dahin gekommen, wo du jetzt bist? Wie hast du es mit den Kindern organisiert? Wie hast du dich durchgesetzt? Das sind weiche Themen, über die man sonst nicht so viel erfährt. Auch der Umgang mit Kollegen, die sich im Ton vergreifen, stand schon zur Debatte. „Wir geben uns zu allen Berufs- und Lebenslagen Anregungen, wie man sich optimal positioniert, wehrt oder gegebenenfalls auch eine Situation entschärfen kann“, so die Neumarkter Chirurgin und fügt an: „Unsere Probleme sind oft die gleichen, seien es fachliche, private oder mit dem Team. Dafür muss doch nicht jede Frau das Rad neu erfinden.“ Und vor Prüfungen oder in schwierigen Situationen stärkt man sich gegenseitig den Rücken.
Niedrigschwellig und direkt
Die Nachrichten in den Chats löschen sich automatisch nach 30 Tagen. Es stehen aber Kacheln mit Kommentarfunktion zur Verfügung, in die alle Texte, Bilder & Co. hinterlegen können, die nicht verloren gehen sollen. Zum Beispiel die „Interessanten Fälle“, die auch für aktuelle Fallbesprechungen genutzt werden. „Man kann dort Befunde einfügen und diskutieren, was die Kolleginnen für Ideen dazu haben. In der Klinik hat man meist nur Kontakt mit der eigenen Fachabteilung. Hier aber besteht die Chance, dass beispielsweise bei einem Patienten mit Gehbeschwerden eine Wirbelsäulen-Chirurgin, eine Gefäßchirurgin und eine Orthopädin mit draufschauen. Und alle steuern ihren Blickwinkel bei“, beschreibt Gumpp.
Auch für den Nachwuchs steht ein eigener Chat bereit. In diesem findet einmal die Woche zudem eine Fragerunde statt, zu Themen wie Hospitation oder Stellensuche. Selbst eine Webakademie fehlt nicht. „Die Atmosphäre bei unseren Online-Fortbildungen ist ebenfalls familiär. Und man darf dort, wie überall bei uns, alles fragen. Überhaupt läuft unsere ganze Kommunikation direkt, schnell und niedrigschwellig. Das macht vielleicht auch den Unterschied zu den großen Fachgesellschaften aus“, differenziert sie. Denn bei den Chirurginnen sind alle, von der Professorin bis zur Studierenden per du und sprechen sich mit Vornamen an – ganz anders, als wenn man sich auf dem Flur einer Klinik begegnen würde.
Frauen kommunizieren anders
Genau diese Art der Kommunikation kommt Frauen entgegen. „Wir sind im Privaten außerordentlich gut darin, uns zu vernetzen. Die Kindergarten-Gruppe funktioniert prima, im Gegensatz zum Beruf. Frauen kommunizieren einfach anders. Sie müssen sich wohlfühlen, brauchen eine persönliche, freundschaftliche Atmosphäre“, skizziert die 46-jährige. Damit bietet dieses immer größer werdende Netzwerk Chirurginnen eine echte Chance, ihre Disziplin in punkto Gleichberechtigung voran zu bringen. „Schon ab der Fachärztinnen-Ebene gibt es in chirurgischen Fächern kaum weibliche Vorbilder. Ich bin seit fast zehn Jahren Oberärztin und in dieser Position immer noch die Ausnahme. Die wenigen, die es noch gibt, fühlen sich oft allein auf weiter Flur. Das verändert sich jetzt, mit dem Wissen, es stehen wahnsinnig viele Frauen hinter dir.“
Und das Netzwerk füllt sich: Der Verein "Die Chirurginnen e.V." wurde erst 2021 gegründet und zählt aktuell schon mehr als 1.800 Mitglieder. „Ich habe inzwischen eine Art Raster im Kopf von Spezialistinnen, die über ganz Deutschland verteilt sind. Ich weiß, dort arbeitet eine super Tumororthopädin, da eine tolle gynäkologische Chefärztin und hier eine Spezialistin für Schilddrüsenchirurgie“, freut sich die zweifache Mutter – und schildert noch ein echtes Highlight aus dem Nachtdienst-Chat: Eine Kollegin aus einem kleineren Haus in Nordrhein-Westfalen versuchte während der Pandemie, als die Bettensituation stark angespannt war, einen Patienten mit einer Aortendissektion auf eine Intensivstation zu verlegen. Eine sofortige herzchirurgische OP war notwendig. „Sie hatte schon viele Krankenhäuser im Umfeld abtelefoniert, nirgends war ein Bett zu finden. Dann stellte sie das in den Chat und brachte den Mann innerhalb einer halben Stunde in einer Uniklinik im weiteren Umkreis unter. Das ist doch toll.“
Weitere Infos:
Die Kommunikation via Chat trifft den Nerv der Zeit: Entstanden aus einem losen Netzwerk auf Facebook und Xing, nahmen am ersten Zoom-Meeting im Dezember 2020 gerade mal zwölf Frauen teil. Bereits einen Monat später kamen täglich hunderte Nachrichten, und die erste Whatsapp-Gruppe mit 256 Mitgliedern knackte das Limit. Um in größeren Gruppen von bis zu 400 chatten zu können, wurden die Chats zu Siilo, dem datenschutzkonformem, medizinischen Messenger-Dienst transferiert. Hier werden 500.000-700.000 Nachrichten pro Woche im Netzwerk ausgetauscht.
Mehr erfahren? www.chirurginnen.com