Tabuthema Sexualität? Lust kennt kein Alter

24 Juni, 2025 - 15:44
Lisa von Prondzinski
Zwei ältere Personen liegen eng nebeneinander in einem Bett, umgeben von weißen Decken.

Betrachtet man mediale Darstellungen, so scheint Sexualität vor allem jungen Menschen vorbehalten zu sein. Ältere Menschen werden dagegen häufig als gebrechlich und asexuell dargestellt. Dabei wünschen sich ältere Menschen genauso wie jüngere Intimität. Aber ein Liebesleben im Alter? In der öffentlichen Wahrnehmung passt das nicht zusammen. Die Stigmatisierung führt dazu, dass über Sexualität im Alter zu wenig gesprochen wird. Auch viele Ärztinnen und Ärzte scheuen das Thema.

Weder in der Gesellschaft noch in der Wissenschaft lassen sich Tabus von heute auf morgen aufbrechen. Zwar gibt es inzwischen mehr Forschungsarbeiten zum Thema „Sexualität im Alter“ als noch vor 20 Jahren, doch im Vergleich zur Sexualitätsforschung bei Jüngeren ist das Feld noch immer überschaubar. Dabei sind die heutigen 60- bis 80-Jährigen deutlich fitter als frühere Generationen und daher auch stärker an Sexualität interessiert. Zudem hat die Lebenserwartung deutlich zugenommen, sodass mehr Menschen von diesem Thema betroffen sind.

Für viele Ältere ist Sexualität ein wichtiger Bestandteil ihrer Lebensqualität. Ein Ergebnis der Berliner Altersstudie II aus dem Jahr 2019 ist beispielsweise, dass der Durchschnitt der älteren Erwachsenen zwar weniger sexuell aktiv ist als junge Menschen, doch das gilt nicht für alle. So gab fast ein Drittel der 60- bis 80-Jährigen an, häufiger sexuell aktiv zu sein und sexuelle Gedanken zu haben als der Durchschnitt der 20- bis 30-Jährigen.

Sexuelles Erleben

Sexualität ist ein menschliches Grundbedürfnis, das zum körperlichen und psychischen Wohlbefinden beiträgt. Mit den Jahren verändert sich das sexuelle Erleben natürlicherweise. „Im Alter geht es nicht mehr um ausgefallene Sexstellungen, sondern verstärkt um Streicheln und erotische Berührungen“, sagt Michael Vogt, Professor für Counseling und Klinische Sozialarbeit. An der Hochschule Coburg forscht er zu Partnerschaft und zu Sexualität im Alter. Zudem bringt er Erfahrung als Paartherapeut mit. „Ob und wie Sexualität gelebt werden kann oder möchte, hängt von vielen körperlichen und psychischen Faktoren ab."

So wirken sich körperliche Veränderungen bei jedem Menschen unterschiedlich aus. Bei Frauen kann der Rückgang des Östrogenspiegels in den Wechseljahren zu Veränderungen der Vaginalschleimhaut, Trockenheit und mitunter zu Schmerzen beim Geschlechtsverkehr führen. Männer erleben mit sinkendem Testosteronspiegel oftmals eine Abnahme von Erektionsfähigkeit und sexuellem Verlangen. Auch bestimmte Krankheiten sowie Nebenwirkungen von Medikamenten können die Libido negativ beeinflussen.

Ebenso können Stress, Angst oder Versagensängste die Lust und Leistungsfähigkeit senken. Oder es fehlt schlichtweg der Partner. Selbst in einer Partnerschaft kann die Sexualität aus den unterschiedlichsten Gründen einschlafen oder zu einer großen Belastung werden, beispielsweise wenn ein Partner an Demenz erkrankt.

Scham aus Sprachlosigkeit

Hinzu kommt, dass über Sexualität zu sprechen für viele ältere Menschen eine große Hürde darstellt. Sie haben es nicht gelernt. Wer in den 1950er- oder 1960er-Jahren aufgewachsen ist, wurde von einer strengen Sexualmoral geprägt, in der intime Themen tabu waren. „Moralische und religiöse Vorstellungen machten es besonders Frauen schwer bis unmöglich, über ihre sexuellen Wünsche und Erwartungen zu sprechen”, sagt Professor Vogt. „Diese Scham wirkt bis heute nach – auch gegenüber Ärzten, obwohl viele sich eigentlich Hilfe wünschen."

Rolle der Medizinerinnen und Mediziner

Auch Medizinerinnen und Mediziner stehen in der Verantwortung: Viele müssen sich die Kritik gefallen lassen, dass sie im Patientengespräch selten gezielt nach dem sexuellen Befinden fragen oder dies bei der Anamnese ausklammern. Oft denken sie nicht daran, dass ältere Menschen noch sexuell aktiv sein könnten – ein Vorurteil, das nicht nur Ärztinnen und Ärzte in der Geriatrie, sondern ebenso in der Allgemeinmedizin, der Inneren Medizin oder in der Chirurgie betrifft. Dabei können beispielsweise nahezu alle chronischen Erkrankungen das Sexleben beeinträchtigen. Im Alter sind das unter anderem besonders häufig Diabetes, Hypertonie, Rheuma, kardiovaskuläre Erkrankungen und Erkrankungen des Urogenitaltrakts.

Eine weitere Rolle spielen Zeitmangel und Unsicherheit: Viele Ärzte wissen nicht, wie sie das Thema Sexualität am besten ansprechen sollen. Dabei könnten schon einfache Sätze wie „Diese Krankheit oder dieses Medikament kann zu sexuellen Störungen führen. Falls Sie Fragen dazu haben, bin ich für Sie da“ den Einstieg erleichtern. Eine weitere Möglichkeit ist, dass der Arzt oder die Ärztin Offenheit signalisiert, indem beispielsweise entsprechende Broschüren oder Zeitschriften im Wartezimmer ausgelegt werden. So erfahren die Patientinnen und Patienten indirekt, dass sie über ihre sexuellen Probleme sprechen können und dass ihnen geholfen werden kann.

Bedürfnisse respektieren

Nicht zuletzt sollten auch in Pflegeheimen die sexuellen Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner erfragt und respektiert werden. „Die ohnehin eingeschränkte Privatsphäre der Bewohner sollte so gut wie möglich gewahrt werden”, betont Professor Vogt. Denn auch bei Menschen mit Demenz bleiben sexuelle Bedürfnisse erhalten, flammen wieder auf oder steigern sich sogar. Zum Beispiel tritt eine sexuelle Enthemmung bei Menschen mit frontotemporaler Demenz häufig auf.

Da Pflegekräfte mit den unterschiedlichen Facetten von Sexualität konfrontiert werden, sollte das Thema auch in ihrem Interesse geklärt werden. Denn unangemessenes sexuelles Verhalten gegenüber Pflegekräften kann für diese schwierig werden. Das gilt auch für das Erleben von Situationen, die möglicherweise nicht ihrem Idealbild eines sexuell attraktiven Menschen entsprechen. Hier sind entsprechende Fortbildungen für Pflegekräfte wichtig.

Langsames Umdenken

Es ist längst überfällig, Sexualität im Alter aus der gesellschaftlichen Grauzone zu holen. Ein langsames Umdenken ist bereits erkennbar: Die Babyboomer-Generation, die nun ins höhere Alter kommt, ist offener für Gespräche über Sexualität als frühere Generationen. In Fachkreisen, auf Tagungen und in der Pflege wird das Thema zunehmend angesprochen. Damit wächst die Chance, dass ältere Menschen ihre Sexualität selbstbestimmt und ohne Scham leben können.

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