
Sexuelle Funktionsstörungen können belastend sein, überzogene Erwartungen oder Sprachlosigkeit in der Partnerschaft intime Begegnungen behindern. Dann sind Ärztinnen und Ärzte mit sexualmedizinischer Kompetenz gefragt. Die Sexualmedizin vereint verschiedene medizinische Fachrichtungen. Den klassischen Sexualmediziner gibt es deshalb nicht, sagt Franz Karl Hausmann. Er ist Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Sexualmediziner. Es gebe jedoch immer noch zu viele Ärzte, vor allem Hausärzte, die das Thema Sexualität in der Sprechstunde tabuisierten. Hausmann hilft seinen Patientinnen und Patienten, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu benennen und sich sexuell weiterzuentwickeln. Er weiß: Offene Kommunikation ist der Schlüssel zu einem erfüllten Liebesleben.
Herr Hausmann, was hat Sie dazu bewogen, die Zusatzausbildung zum Sexualmediziner zu machen?
Franz Karl Hausmann: Ehrlich gesagt war es Zufall. Anfang der 90er Jahre waren meine damalige Frau und ich mitten in der „Reproduktionsphase“ und lasen, wie es damals üblich war, die Zeitschrift „Eltern“. In einem Artikel wurde kritisiert, dass sich viel zu wenige Ärzte mit dem Thema Sexualität auseinandersetzen und gleichzeitig wurde eine Ausbildung dazu vorgestellt. Meine Frau fragte mich: „Wäre das nicht etwas für dich?“. Mir war sofort klar, dass dieses Thema mehr Aufmerksamkeit braucht, und so habe ich mich weitergebildet.
Wer sucht bei Ihnen Rat?
Franz Karl Hausmann: Ganz unterschiedliche Menschen. Meist sind es hetero- oder homosexuelle Paare, aber auch Einzelpersonen, die zum Beispiel unter Unsicherheiten und Versagensängsten leiden oder einfach nur mehr Informationen über Sexualität brauchen. In der Regel kommen Patientinnen und Patienten ohne sexuelle Funktionsstörungen. Diese wurden meist bereits gynäkologisch oder urologisch abgeklärt. Libidoverlust, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr oder Erektionsstörungen können auch auf psychische Belastungen zurückzuführen sein. Dass körperliche Ursachen manchmal nur scheinbar ein Problem auslösen, haben wir auch nach der Markteinführung des Potenzmittels Viagra gesehen. Manche Männer haben ein paar Mal Viagra eingenommen, hatten ihre Erektion und konnten dann wieder entspannter Sex haben – ganz ohne Viagra. Das hat wieder einmal gezeigt, dass das wichtigste Organ für die Sexualität unser Kopf, unser Gehirn ist.
Was empfinden Sie als besondere Herausforderung in der Beratung?
Franz Karl Hausmann: Grundsätzlich braucht es in der Beratung Fingerspitzengefühl, Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft, auch schambesetzte Themen anzusprechen. Genauso wichtig ist jedoch auch Humor. Denn über Situationen gemeinsam mit den Betroffenen zu lachen, bringt einander näher und schafft zusätzliches Vertrauen. Ich habe mich gegenüber meinen Patientinnen und Patienten immer an das sogenannte AOK-Prinzip gehalten: achtsam, offen und kompetent. Über alles kann und soll gesprochen werden. Eine Herausforderung ist es, eine gemeinsame Sprachform zu finden. Denn es gibt verschiedene Arten, über Sex zu sprechen: die medizinische Sprache, die juristische Sprache, die Umgangssprache oder auch die Vulgärsprache. Um es drastisch zu formulieren: Für den einen ist das F-Wort alltäglich, der andere springt entsetzt vom Stuhl, wenn es benutzt wird. Was bei uns leider so gut wie nicht mehr vorkommt, ist die erotische Hochsprache, die sprachliche Beschreibung einer Erregung, ohne dass dies direkt zu intimen Handlungen führen muss. Wir finden sie zum Beispiel im Kamasutra. Die Bücher dieser indischen Liebeslehre sind eigentlich Lesebücher und keine Bilderbücher.
Mit welchen Themen kommen beispielsweise Paare zu Ihnen?
Franz Karl Hausmann: Oft geht es um unterschiedliche Vorstellungen, wie der gemeinsame Sex aussehen soll. Der Mann will Oralsex und die Frau sagt „Du kannst mich mal“. Der eine will Sexspielzeug benutzen, der andere nicht. Oder morgens oder abends? Die meisten Männer mögen Sex vor dem Einschlafen, dann schlafen sie ein und alles ist gut. Aber die Frau ist danach vielleicht hellwach. So können beide nicht gleichzeitig Intimität genießen, und wenn sie nicht konstruktiv darüber sprechen können, kann die gemeinsame Sexualität als unangenehm erlebt werden. Das kann dazu führen, dass der Mann oder die Frau sich lieber selbst befriedigt, weil man selbst am besten weiß, wie man zum Höhepunkt kommt.
Frauen und Männer sind verschieden. Wie können Sie auf einen Nenner kommen?
Franz Karl Hausmann: Ein Schritt ist, mehr über das andere Geschlecht zu erfahren. Männer können zum Beispiel lange Zeit immer das Gleiche gut finden. Frauen dagegen brauchen mehr Abwechslung. Ich habe schon häufiger den Satz gehört: „Für mich ist das Schlimmste, wenn er mich anfasst und ich genau weiß, wie es jetzt weitergeht.“ Frauen brauchen manchmal eine andere Situation, eine andere Musik, eine andere Tageszeit, einen anderen Mann. Zur Erregung lässt sich auch festhalten: Physiologisch gesehen ist die Erregungskurve bei Männern und Frauen unterschiedlich. Die männliche verläuft von Anfang an relativ konstant ansteigend bis zum Höhepunkt und fällt dann wieder auf die Ausgangslinie ab. Die weibliche Erregungskurve steigt an und bildet dann ein sogenanntes Plateau, von dem aus der Höhepunkt erreicht wird. Danach fällt die Erregungskurve nicht wie beim Mann auf die Ausgangslinie, sondern auf die Plateauphase zurück, so dass aus dieser Plateauphase heraus mehrere Höhepunkte möglich sind. Die sexuelle Potenz der Frau übertrifft die des Mannes um ein Vielfaches.
Ganz allgemein gefragt: Was müssen Männer lernen, was Frauen?
Franz Karl Hausmann: Männer sollten den Vibrator nicht als Gegner betrachten. Das Gerät kann in das Liebesspiel integriert werden. Ein Vibrator hat einfach Möglichkeiten, die kein Penis hat. Frauen wiederum haben beim Thema „Initiative“ ein Lernfeld. Wir haben zwar inzwischen in Beziehungen eine relative Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen erreicht, dennoch sind es meist die Männer, die sagen, wann und wie der Sex sein soll. Frauen haben gelernt, zuzulassen oder abzulehnen, aber seltener zu sagen: „Das will ich und zwar genau so“.
Wie bringen Sie Paare dazu, dass sie wieder ohne Vorbehalte intim werden können?
Franz Karl Hausmann: In der Arbeit mit Paaren gibt es für mich eigentlich ein relativ klares Modell. Die Paare sollen sich einen Abend in der Woche für die Beziehungspflege freihalten und diese Zeit nutzen, um eine ganz neue Art der Kommunikation zu üben – sowohl außerhalb der Sexualität als auch innerhalb der Sexualität. Das heißt, zunächst wird als Warm-up eine Kleinigkeit gemeinsam gegessen, um den Tag ausklingen zu lassen und sich auf den gemeinsamen Abend einzustimmen. Dann machen beide gemeinsam Körperübungen, bei denen es darum geht, den ganzen Körper und alle Sinne in die Sexualität einzubeziehen und sich nicht nur auf Brust, Beine und Po zu konzentrieren. Diese Übungen sind an ein Übungsprogramm angelehnt, das sich „Sensate Focus“ oder auch Sinnlichkeitstraining nennt. Wenn das Paar diesen wöchentlichen Termin über einen längeren Zeitraum einhält, kann es seine Sexualität ganz anders erleben: Die beiden lernen miteinander zu kommunizieren, aufeinander zu achten, Rücksicht zu nehmen, ihre Reaktionen zu erleben, sich verbal und nonverbal auszutauschen.
Kurz gefragt, was ist guter Sex?
Franz Karl Hausmann: Alles was, beide Partner wollen und womit sie zufrieden sind. Allerdings nehmen sich die wenigsten Menschen dafür Zeit. Dabei fängt guter Sex bei zwei, drei Stunden an. Denn es ist mehr als Penetration. Wir müssen weg von der Fixierung auf den Penis. Jeder Sex ohne Penetration kann nur ein Gewinn sein. Auch hier spielt die Kommunikation eine entscheidende Rolle. Zum Beispiel müssen sich Paare darüber verständigen, was sie wollen – oral, anal, vaginal, manuell oder Gruppensex. Vieles ist möglich, aber ob es konkret gewünscht wird, ist eine andere Frage.
Für Sie ist es selbstverständlich, mit Patientinnen und Patienten über Sexualität zu sprechen. Wie steht es mit der sexualmedizinischen oder therapeutischen Kompetenz Ihrer Kolleginnen und Kollegen anderer Fachrichtungen?
Franz Karl Hausmann: Körperliche Beschwerden oder Erkrankungen können das sexuelle Erleben erheblich negativ beeinflussen oder zu einer Lustlosigkeit führen. Gynäkologen und Urologen klären in der Regel körperliche Beschwerden oder Infektionen ab, verschreiben Medikamente oder leiten einen operativen Eingriff ein. In der Allgemeinmedizin, bei den Hausärztinnen und Hausärzten, stellen wir dagegen fest, dass das Thema Sexualität weitgehend ausgeklammert wird. Dabei sind gerade sie oft die erste Anlaufstelle. Sie sollten offener mit dem Thema umgehen. Denn Untersuchungen zeigen, dass die meisten Patientinnen und Patienten erwarten, dass der Arzt sie fragt.
Warum sind Hausärzte so zurückhaltend?
Franz Karl Hausmann: Viele Hausärztinnen und -ärzte fühlen sich für solche Gespräche nicht ausreichend ausgebildet, nicht kompetent genug und haben auch Scham, ihre Patientinnen und Patienten auf deren Sexualität anzusprechen. Die MeToo-Debatte hat dies noch verstärkt. Viele männliche Hausärzte halten sich noch mehr zurück, weil sie nicht in den Verdacht geraten wollen, etwas vermeintlich „Falsches“ zu sagen. Dabei könnten im Rahmen der Anamnese, der Vorsorgeuntersuchung oder der Nachsorge Fragen gestellt werden, die in keiner Weise grenzverletzend sind. Dazu gehören Fragen wie „Ist Sexualität und sexuelles Erleben für Sie eher wichtig oder eher unwichtig?“ oder „Sind Sie damit eher zufrieden oder eher unzufrieden?“ Danach kann der Hausarzt oder die -ärztin relativ gut einschätzen, ob jemand über Sexualität sprechen möchte oder nicht. Es könnte zum Beispiel sein, dass ein Medikament die Libido hemmt und dann könnte man nach einer Lösung suchen.
Was gefällt Ihnen bei Ihrer beratenden und therapeutischen Arbeit besonders gut?
Franz Karl Hausmann: Als Ärzte und Psychotherapeuten sind wir sozusagen auf Helfen gepolt. In der Psychotherapie dauert es aber oft sehr lange, bis sich etwas im Verhalten der Patientinnen und Patienten ändert. In der Sexualmedizin hingegen können wir relativ schnell Erfolge erzielen. Das ist das Spannende daran. Deshalb habe ich meinen Kolleginnen und Kollegen immer gesagt, macht diese Zusatzausbildung, denn nach zehn bis 15 Sitzungen geht es in der Regel vorwärts. Wenn nicht, dann liegt vielleicht tatsächlich eine tiefer liegende Störung vor, die psychotherapeutisch behandelt werden muss. Dann muss die Sexualität vielleicht erst einmal warten.
Welche Entwicklungen erwarten Sie künftig im Bereich der Sexualmedizin?
Franz Karl Hausmann: Da gibt es leider ein ganz aktuelles Thema. Es gibt aus verschiedenen Landesärztekammern Bestrebungen, bei der anstehenden Neustrukturierung der Weiterbildungsordnung die Zusatzweiterbildung „Sexualmedizin“ zu beschneiden. Faktisch sollen die Weiterbildungsinhalte auf rein theoretische Inhalte beschränkt werden. Die gesamte Handlungskompetenz soll wegfallen – also Behandlungsfälle, Supervision und Selbsterfahrung. Im Endeffekt hätte man als Sexualmediziner weniger Kompetenz bei der Diagnostik, Prävention, Beratung und Behandlung. Das wäre so, als würde man den Kfz-Führerschein nur mit der Theorie also ohne die Fahrstunden erwerben können. Der nächste Deutsche Ärztetag im Mai wird darüber entscheiden. Bis dahin werden wir versuchen, eine Mehrheit der Entscheidungsträger davon zu überzeugen, dass die Zusatzweiterbildung mit den Inhalten, wie sie jetzt vermittelt werden, erhalten bleiben muss, um die Qualität der Versorgung zu erhalten.