Dr. Martin Leitl: Heli-Notarzt in den Alpen, Bergführer in der Antarktis

3 März, 2022 - 07:40
Gerti Keller
Dr. Martin Leitl in der Antarktis
Dr. Martin Leitl hat unter anderem in der Antarktis als Expeditionsarzt gearbeitet.

Er hat mit seinen 46 Jahren schon viel erlebt: Dr. Martin Leitl war in Afrika und Afghanistan, fliegt als Notarzt im Rettungshubschrauber, ist Bergführer und war schon sechsmal in der Antarktis. Porträt eines etwas anderen Mediziners.

Erst im Februar 2022 war sein Bild in den Schweizer TV-News zu sehen. Da hatte Dr. Martin Leitl gerade eine spektakuläre Rettungsaktion hinter sich: Eine riesige Lawine war abgegangen, ein Snowboarder verschüttet. Das Opfer führte weder einen Lawinenpiepser noch einen Airbag-Rucksack mit sich. In so einem Fall ist es wirklich schwierig, jemanden zu finden. Dr. Leitl schildert die Rettung: „Wir folgten mit dem Hubschrauber der Spur des Snowboarders, und dann lag das große weiße Feld unter uns. Plötzlich sahen wir aus einem kleinen Schneeloch eine Hand winken. Der Verschüttete hatte wirklich Glück, dass er zwar mit den Füßen nach unten feststeckte, sein Kopf sich aber nahe an der Oberfläche befand, so dass er Licht sah, Luft bekam und mit kreisenden Bewegungen ein wenig Schnee wegräumen konnte. Ich sprang raus und schaufelte ihn frei. Wenn wir ihn nicht entdeckt hätten, wäre das Ganze – bis aus dem Tal Spürhunde geholt worden wären – vermutlich nicht so glimpflich ausgegangen“. Das Erste, was Leitl daher zu ihm sagte, war „Happy Birthday“. Und dieses Erlebnis ist nur eins von vielen aus seinem Berufsleben.

Über die Viertausender

Nach einer ersten Assistenzarztzeit in den Fächern Chirurgie und Gynäkologie war Leitl auf zahlreichen Auslandseinsätzen unterwegs, zum Beispiel mit „Ärzte ohne Grenzen“ in Afrika, mit der Bundeswehr in Afghanistan. Doch irgendwann merkte er: „Immer nur von Krieg zu Krieg ziehen, ist für die Seele nicht gesund“. Inzwischen hatte ihn eine andere Assistenzarztstelle in die Schweiz nahe der Region Grindelwald geführt, wo er 2012 den Facharzt in Allgemeiner Innerer Medizin und den Fähigkeitsausweis Notarzt SGNOR erwarb. Und da die Berge immer schon sein Zufluchtsort waren, absolvierte er nun zusätzlich eine Ausbildung zum Bergführer. Seitdem begleitet er Bergbegeisterte bei hochalpinen Touren auf die Gipfel des lokalen Dreigestirns Eiger, Mönch, Jungfrau oder auf andere Schweizer Viertausender. Er bringt aber auch Anfängern bei Gletscherwanderungen im Sommer das Staunen über die Bergwelt bei. Mal mit einer Teilzeit-Arzt-Stelle im Rücken, mal als Vollzeitbergführer.

Auch wenn er „nur“ als Bergführer unterwegs ist, so ist seine Ausbildung zum Arzt für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen immer ein Benefit, zum Beispiel in punkto Höhenkrankheit. „Ab einer gewissen Marke ist das nicht nur im Himalaya gefährlich, sondern auch bei uns. Am Jungfraujoch gibt es eine Hütte auf 3.600 Metern, und da kippt schon mal einer um“, so Leitl. Und natürlich fühlt er sich dann als Arzt verantwortlich und schaut, ob er vor Ort helfen kann oder die Betroffenen runterfliegen lassen muss. Allerdings hängt er seine medizinische Ausbildung nicht an die große Glocke, denn „wenn die Gäste das wissen, höre ich schon am zweiten Tag ihre ganzen Krankheitsgeschichten“.

Tief am Bergetau

Seit 2013 fliegt Martin Leitl zudem als Freelancer zwei bis fünf Dienste im Monat für die Air Glaciers, einen Schweizer Luftrettungsbetreiber. Seine häufigsten Einsätze sind Skiunfälle. „Da gibt es Standardsituationen wie den Unterschenkelbruch. Hier landet man auf der Piste, gibt ein Schmerzmedikament, packt den Patienten ein und fliegt zum Krankenhaus. Das ist einfach. Wenn aber ein Abgestürzter gemeldet wird, kann das schon ganz anders aussehen“, betont er und führt aus: „Das passiert vor allem im Sommer, dann ist dort Hochsaison für Wander- und Gleitschirmunfälle.

Hier kann die Rettung technisch sehr anspruchsvoll sein. Insbesondere die Gleitschirmer können irgendwo sein. Dann muss auch der Pilot erst einmal herausfinden, wie ich überhaupt zu dem Verunglückten hinkommen kann“. In diesen Fällen hängt Leitl schon mal 90 Meter tief unter dem Heli am Tau oder am Windenseil. Doch das sei für ihn nicht die größte Herausforderung, erklärt er, sondern: „Manchmal ist man bei der Patientenversorgung allein. Bei Winden- oder Bergetaueinsätzen muss der Rettungssanitäter nämlich im Hubschrauber bleiben.“ In schwierigen Situationen, wie bei steilem, absturzgefährdetem Gelände, kommt zusätzlich ein Bergrettungsspezialist mit, meist ein speziell ausgebildeter Bergführer. „Der ist auch für unsere Sicherheit zuständig und hat zudem eine basismedizinische Ausbildung. Das heißt, er kann mir eine Infusion herrichten oder ein Medikament aufziehen“, erläutert Leitl, der dabei auch manch bitteren Notfall erlebte: „Wir haben auch Basejump-Unfälle. Wenn die Springer zu spät den Fallschirm auslösen, rammen sie ungebremst in den Boden. Das ist einfach kein schöner Anblick.“

Eine besondere Herausforderung bei Heli-Einsätzen ist zudem das Wetter im Hochgebirge, wo schnell Nebel und Schneefall aufziehen können. Martin Leitl berichtet von einer Situation: „Erst neulich hat es am Unfallort total zugemacht, wir sind nicht mehr weggekommen. Dann steht der Hubschrauber im Schneetreiben, bis ein Entkommen möglich erscheint, und nun hilft wirklich jeder dem Piloten. Der schaut nach vorne, der Rettungssanitäter nach links und der Arzt nach rechts, damit wir durch das Wolkentreiben raus können. Das ist wirklich Teamarbeit, welche ohnehin essenziell in der Heli-Rettung ist.“

Bei Rettungsflügen geht es auch zu entlegenen Bauernhöfen, wenn von dort beispielsweise ein Herzinfarkt gemeldet wird. Das Ganze funktioniert als Bereitschaftsdienst. Die Retter warten an der Basis des Gebirgsstützpunkts. Oft ertönen vier bis fünf Notrufe pro Schicht, in der Hochsaison im Winter bis zu sieben. Bei schlechtem Wetter oder wenn in der Nebensaison unter der Woche keine Touristinnen und Touristen da sind, bleibt der Alarm an manchen Tagen aber auch still. Arbeitslos sind die Retter dann jedoch nicht: Das Team ist für das Mittagessen der Heli-Basis verantwortlich und hilft schon auch mal den Mechanikern bei Revisionsarbeiten an der Hubschrauberflotte.

Expeditionsarzt in der Antarktis

Darüber hinaus war Martin Leitl schon sechsmal in der Antarktis, jeweils bis zu maximal drei Monaten, mindestens aber sechs Wochen. Leitl erzählt: „Per Zufall entdeckte ich 2015 in der Zeitschrift ‚Flugmedizin Tropenmedizin Reisemedizin‘ eine Ausschreibung des Alfred-Wegener-Instituts (AWI). Man suchte für die Kohnen-Station auf dem antarktischen Plateau einen Allgemeinmediziner.“ Im Jahr darauf fuhr Leitl dann 1.700 Kilometer mit Pistenraupen ins Innere der Antarktis, wo ein Forschungscamp aufgebaut wurde. „Mein Vorteil bei der Bewerbung war wohl, dass ich mich als Bergführer auch mit Navigation auskenne, Kälte gewöhnt bin und auch schon Erfahrungen auf Grönland und Spitzbergen gesammelt hatte. Dafür haben die mir das Pistenraupenfahren beigebracht“ erklärt er lachend.

An sich habe ein Expeditionsarzt im ewigen Eis nicht gerade viel zu tun, wenn alles gut laufe, meint Leitl, und ergänzt: „Alle Expeditionsteilnehmer werden zuvor medizinisch gecheckt. Also behandelt man in der Antarktis meist nur kleine Erfrierungen, Schnupfen, Husten und muss vielleicht auch mal nähen. Aber man ist eben auch da für den Notfall, der hoffentlich nicht eintritt. Allerdings finden an den Polarstationen auch Bauarbeiten statt, und da kann zum Beispiel durchaus einmal jemand vom Gerüst fallen.“ Bevor der Doc aber „nur rumsitzt“, erwartet das Team, dass er zum Beispiel den Handwerkern hilft – was Leitl auch gerne macht: „Immer wenn ich dann wieder nach Hause komme, sagen die anderen über mich: ‚Jetzt ist er zurück aus seinem Antarktis-Urlaub‘. Aber wir arbeiten dort wirklich hart. Die Arbeitstage sind lang und nur sonntags gönnt man sich etwas Ruhe, wenn es vom Arbeitsaufkommen oder von der Expeditionsplanung her möglich ist.“

Das unendliche Open-Air-Kloster

Bei den letzten drei Antarktis-Einsätzen arbeitete Leitl an der belgischen Princess Elisabeth Station, übrigens die einzige Zero-Emissions-Station auf diesem Erdteil. Sie liegt am Rande einer Gebirgskette, weshalb die Kombination Arzt/Bergführer dort besonders interessant ist: „Ich begleitete Wissenschaftler, die aus ganz unterschiedlichen Nationen und Bereichen kamen. Einmal war ich mit einem Meteoriten-Such-Team unterwegs, ein anderes Mal mit Klimaforschern oder einer Filmcrew. Von diesen Teams lernte ich selbst natürlich enorm viel.“ Zwar erhalten alle Antarktis-Neulinge, bevor sie mit ihrer Projektarbeit starten, eine zweitägige Ausbildung, die auch Erste Hilfe, GPS und Spaltenbergung umfasst, aber: „Ab einem gewissen Radius braucht es einfach jemanden, der für die Sicherheit sorgt, auch im Falle eines Wetterumsturzes, damit niemand verloren geht“, erklärt Leitl, der von der Antarktis absolut fasziniert ist.

„Für mich ist sie schon seit meiner ersten Expedition wie ein unendliches Open-Air-Kloster: Da waren wir weit weg von allem, die nächste Station lag 1.000 Kilometer entfernt. Wir mussten zum Beispiel die leeren Blasentanks für das Forschungsflugzeug bereit für den Rücktransport machen. Und da kniest du auf dieser Eiskappe bei minus 30 Grad, die Sonne scheint, es geht kein Wind, es ist total still und du drehst dich um, und da ist einfach nichts, alles ist weiß…“ Sowohl die deutsche Neumayer III-Station als auch die belgische Princess Elisabeth Station liegen zudem in Reichweite des Südlichen Ozeans. Von der Schelfeiskante aus kann man mit etwas Glück Wale beobachten. „Für mich sind sie ein Sinnbild für Frieden, auch im Kontrast zu dem, was wir Menschen so alles kaputt machen. Es begegnen einem auch Pinguine. Die sind nicht mal scheu, weil wir für sie keine Feinde sind. Sie laufen neugierig auf dich zu“, berichtet Leitl, der erst kürzlich von dort zurückkam.

Corona war auch für die Expeditionsteilnehmer bei Leitls letztem Antarktis-Einsatz Ende 2021 trotz der Quarantänemaßnahmen in Südafrika ein Problem. Die Covid-19-Erkrankungen an der Princess Elisabeth gingen im Januar 2022 durch die internationale Presse. Leitl erläutert: „Wir hatten unsere eigene PCR-Testmaschine. Leider blieb es nicht nur bei einem einzigen positiven Fall. Es hat aber keinen der Teilnehmer schwer erwischt: nur Halsweh und Schlappheit“, beschreibt der abenteuerlustige Arzt, der sich selbst als „gar nicht so extrem“ empfindet. „Ich war noch nie in der Eiger-Nordwand und bin schon gar keiner, der dort allein im Eiltempo herumklettern würde und ich bin auch kein Top-Arzt. Ich habe einfach viele verschiedene Sachen gemacht. Zum Glück fand ich immer Chefs in kleineren Krankenhäusern, die offen für jemanden wie mich waren, wenn ich sagte: ‚Ich will hier fleißig mitarbeiten und lernen, aber ich bleibe wahrscheinlich nicht mehrere Jahre…‘.“

Kein eigenes Haus, aber jede Menge Lebenserfahrung

So ein Leben fernab der Karriereleiter hat natürlich seinen Preis. „Andere Kolleginnen und Kollegen sind vielleicht schon längst Chefärzte oder haben eine eigene Praxis und ein Haus. Aber das Leben kann auch anders spannend sein. Daher würde ich gerne den Kolleginnen und Kollegen, die sich in unserem sehr auf Spezialisierung ausgelegten medizinischen System nicht wiederfinden, Mut machen und sagen: ‚Hey Leute, wir brauchen an gewissen Ecken dieser Welt auch Ärztinnen und Ärzte, die nicht so karrierebewusst und spezialisiert sind, die improvisieren können und sich immer wieder auf andere Verhältnisse einstellen können.“ Eigentlich wollte Martin Leitl dieses Jahr seine Frau, die Anästhesistin und auch Hubschrauber-Notärztin ist, in die Antarktis mitnehmen. Doch dann kam Hannah dazwischen, die im Hintergrund beim Interview fröhlich kräht. Vor Kurzem ist Martin Leitl nämlich Vater geworden – und damit beginnt das vielleicht größte Abenteuer seines Lebens. 

Weitere Infos: www.fernsicht.org

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