
Dr. Yasemin Özmü erlebte am Anfang ihrer Laufbahn als Ärztin einen Spagat zwischen Pflichtgefühl und Überforderung. Ihre Idee: eine digitale Plattform, auf der Ärztinnen und Ärzte realitätsnahe Fälle durchspielen können. Mit dem Aufkommen generativer KI entstand daraus „DocCase".
Das Studium absolviert und die erste Anstellung in einem Krankenhaus – und nach nur kurzer Zeit durfte Dr. Yasemin Özmü eine komplette Station selbstständig leiten. Das ist eine Situation, die viele Ärztinnen Und Ärzte aufgrund der angespannten Personallage im Gesundheitswesen kennen: Sie werden schnell ins kalte Wasser geworfen. Özmü erinnert sich gut an diese Zeit. Zwei Wochen nach dem Examen übernahm sie in der Klinik Verantwortung, auf die man sie im Studium nicht vorbereitet hatte – ein Gefühl, das viele junge Ärztinnen und Ärzte am Anfang ihrer Laufbahn erleben. „Mir fehlte nicht das Wissen“, sagt sie. „Aber die Verknüpfung von Theorie und klinischer Praxis – das, was man nicht aus Büchern lernt, sondern im Alltag spürt, mit allen Unsicherheiten.“
An diesem Bruchpunkt entstand die Idee zu DocCase: einer digitalen Plattform, auf der sich realitätsnahe medizinische Fälle durchspielen lassen – als Ergänzung zum klinischen Alltag, als Übung, als Raum zum Scheitern ohne Risiko. Entwickelt wurde die Lösung nicht von Techspezialistinnen oder Techspezialisten, sondern aus der Lebensrealität einer Ärztin heraus, die etwas vermisste, das es so nicht gab. Die Idee wurde früh geboren – doch erst mit dem Aufkommen generativer KI war sie auch technisch umsetzbar.
Erfahrung trifft Gestaltungswille
Schon während des Studiums störte sich Özmü am fehlenden Praxisbezug. „Wir haben endlos auswendig gelernt – Medikamente, Leitsymptome, Scores. Aber die echte Arbeit am Patienten war lange ein blinder Fleck.“ Erst ein POL-Kurs (problemorientiertes Lernen) brachte die Veränderung: Zum ersten Mal durften die Studierenden sich an realitätsnahen Fällen versuchen, selbstständig denken, Hypothesen bilden, entscheiden. Der Effekt für Özmü war unmittelbar: „Plötzlich war da Begeisterung. Und vor allem: ein echtes Gefühl von Relevanz.“
Aus dieser persönlichen Erfahrung wurde später eine unternehmerische. Was als Wunsch begann, entwickelte sich über Jahre hinweg zu einer konkreten Vorstellung: Wie sähe eine digitale Umgebung aus, in der man medizinisches Denken gefahrlos trainieren kann? Wie ließe sich die Lücke zwischen Theorie und Praxis so überbrücken, dass daraus echte Handlungssicherheit entsteht – nicht durch stupides Wiederholen, sondern durch Verstehen im Kontext?
Eine Plattform, die vom Alltag erzählt
Die Plattform, die daraus entstanden ist, ist kein Lernspiel, sondern ein Instrument zur Reflexion und zum Kompetenzerwerb. Nutzende begegnen virtuellen Patientinnen und Patienten mit individuellen Geschichten, Beschwerden, Biografien. Anamnese, Untersuchung, Labor, Bildgebung – alle typischen Schritte einer klinischen Diagnostik sind abgebildet. Doch statt Multiple-Choice-Tests wartet ein dynamisches Dialogsystem, in dem Fragen formuliert, Symptome differenziert, Hypothesen überprüft werden müssen. Jeder Fall wird begleitet von einem differenzierten Feedback: diagnostisch und kommunikativ. Inzwischen gibt es auch eine virtuelle Oberärztin, die angesprochen werden kann und beratend zur Seite steht.
Gerade in der Kommunikation mit Patientinnen und Patienten zeigt sich, wie realitätsnah das System arbeitet. Fragen, die an der Lebenswirklichkeit vorbeigehen, führen zu Ausweichreaktionen. Wer zu vage bleibt, bekommt ungenaue Antworten. Wer sich bemüht, klare, empathische Gesprächsführung umzusetzen, wird belohnt – nicht nur im Feedback, sondern im Lernfortschritt. Das ist kein Frontalunterricht, sondern ein Übungsraum für echte klinische Kompetenz.
Weiterdenken im digitalen Raum
DocCase versteht sich nicht als Konkurrenz zu bestehenden Lehrformaten, sondern als Ergänzung. „Ich wollte nicht hinnehmen, dass man mit einem solchen Gefühl von Unsicherheit startet“, sagt Özmü. „Ich wollte wissen, ob es nicht doch anders geht.“ Anders bedeutet in diesem Fall: praxisnäher, flexibler, zugänglicher. Und vor allem unabhängig von der Tagesform der realen Umgebung.
Denn viele angehende Medizinerinnen und Mediziner erleben: Ob eine gute Weiterbildung stattfindet, hängt oft am Engagement einzelner Personen – nicht an der Struktur. In überlasteten Abteilungen bleibt wenig Zeit für Anleitung. In hierarchischen Systemen fehlen oft geschützte Räume, um Unsicherheit zu zeigen. Wer nachfragt, wirkt ahnungslos. Wer schweigt, bleibt im Zweifel ratlos.
DocCase schafft hier eine alternative Lernumgebung. Einen Raum, in dem Unsicherheit sein darf. In dem Fehler nicht gefährlich sind, sondern Teil des Lernens. „Ich hätte mir das damals gewünscht“, sagt Özmü. „Nicht, um meine Ausbildung zu ersetzen – sondern um selbstständig nachzudenken. Zu verstehen, warum eine Diagnose Sinn ergibt. Und was ich hätte anders machen können.“
Medizinisches Lernen neu kontextualisiert
Die Plattform richtet sich nicht nur an Medizinstudierende, sondern ausdrücklich auch an Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung. Denn die App liefert ein individualisierbares, kliniknahes Trainingsfeld. Wer in der Inneren Medizin arbeitet, kann sich mit seltenen infektiologischen Fällen konfrontieren; wer in der Pädiatrie tätig ist, bekommt durch die Fallauswahl Einblick in psychiatrische oder dermatologische Fragestellungen. Fachsilos werden bewusst unterwandert – zugunsten eines breiteren Verständnisses für komplexe Zusammenhänge.
Die technische Infrastruktur dahinter ist modular. Die Inhalte lassen sich ergänzen, neue Fälle können durch Hochschulen oder Kliniken eigenständig eingepflegt werden. Perspektivisch soll DocCase auch für interprofessionelle Trainings genutzt werden – Pflege, Medizin, Sozialdienst gemeinsam vor einem virtuellen Patientenfall. „Teamarbeit ist in der Klinik Alltag – aber trainiert wird sie kaum“, bemängelt Özmü. Auch kultursensible Aspekte sollen künftig stärker berücksichtigt werden – etwa durch simulierte Interaktionen mit Patientinnen und Patienten mit Sprachbarrieren oder unterschiedlichen Erwartungen an medizinische Autorität.
Ein Interface, das Gewohnheiten ernst nimmt
DocCase funktioniert webbasiert und mobil – nutzbar in der Bahn, in der Pause, abends auf dem Sofa. Dass das Interface an Netflix erinnert, ist kein Zufall. „Wir wollten eine Lernumgebung schaffen, die intuitiv funktioniert“, erklärt Özmü. „Nicht, weil Lernen banalisiert werden soll – sondern weil es sich an Lebensrealitäten orientieren muss.“
Dass Medizinerinnen und Mediziner Podcasts hören, sich YouTube-Videos ansehen oder Erklärformate abonnieren, ist längst Alltag. Wissen wird on demand konsumiert – nicht, weil man zu bequem ist, sondern weil die Zeit fehlt, ein Lehrbuch von vorn bis hinten zu lesen. Wer das kritisiert, verkennt die Realität des heutigen Klinikalltags.
Was DocCase auszeichnet, ist nicht nur die medizinische Qualität. Es ist auch die Perspektive, aus der es entwickelt wurde. Kein Exzellenzprojekt von außen, sondern eine Lösung von innen. Getragen von dem Bedürfnis, etwas zu verbessern, das man selbst als unzulänglich erlebt hat.
Und nicht zuletzt: eine Plattform, die aus Europa kommt. In einer Zeit, in der globale Plattformen aus den USA und China zunehmend auch medizinische Inhalte besetzen, ist das mehr als ein Detail. „Wir wollen, dass medizinische Bildung in europäischer Hand bleibt“, sagt das Team. „Und dass sie aus der Praxis heraus gestaltet wird – nicht aus dem Silicon Valley.“
Was als persönliche Initiative begann, wird nun Schritt für Schritt zu einem Angebot, das viele im System erreicht: Studierende, Weiterzubildende, Fachärztinnen und -ärzte. Nicht als Allheilmittel. Sondern als konkrete Hilfe, sich besser vorzubereiten – auf Situationen, in denen es auf jedes Wort, jede Entscheidung, jede Intuition ankommt.
Weiterbildung unter Druck: Warum digitale Formate dringend gebraucht werden
Die ärztliche Weiterbildung steht unter Druck: Während das medizinische Wissen exponentiell wächst, fehlt es in vielen Kliniken an strukturierten Lerngelegenheiten. Zeitmangel, hohe Arbeitsbelastung und fehlende didaktische Konzepte führen dazu, dass das „Training on the Job“ oft mehr Improvisation als Systematik ist – zum Leidwesen junger Medizinerinnen und Mediziner.
Gerade Assistenzärztinnen und -ärzte erleben den Einstieg in den Beruf als Überforderung. Sie übernehmen früh große Verantwortung, obwohl ihnen klinische Routine, kommunikative Sicherheit oder Erfahrung mit seltenen Krankheitsbildern fehlen. Gleichzeitig erwarten Patientinnen und Patienten zu Recht eine sichere, einfühlsame und fundierte Versorgung.
Digitale Lernformate könnten hier eine Lücke schließen: Sie schaffen Räume, in denen Fehler erlaubt sind, Unsicherheit thematisiert werden kann – und Lernen in eigenem Tempo möglich ist. Sie fördern vernetztes Denken, interdisziplinäres Handeln und adressieren auch jene Bereiche, die in klassischen Lehrformaten oft untergehen: Kommunikation, kulturelle Kompetenz, ärztliche Haltung.
Die Expertin:
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