Recht: Wann aus Rufbereitschaft Bereitschaftsdienst wird

5 August, 2022 - 07:14
Dr. iur. Torsten Nölling
Bereitschaftsdienst als Arzt

Allein der Umfang der vom Arbeitgeber angeordneten Aufenthaltsbeschränkungen entscheidet darüber, ob es vergütungsrechtlich um Rufbereitschaft oder Bereitschaftsdienst geht. Das Ausmaß der anfallenden Arbeitsleistung spielt bei dieser Unterscheidung keine Rolle.

Ein Dauerbrenner im Krankenhaus: Der Krankenhausträger ordnet einen Hintergrunddienst als Rufbereitschaft an. Doch dieser stellt sich aufgrund des Arbeitsanfalls tatsächlich als Bereitschaftsdienst dar. Neben der Arbeitsbelastung stellt sich aus Sicht der Ärztinnen und Ärzte in diesen Fällen auch die Frage nach der Vergütung. Die Rechtslage dazu ist komplex. Im Hinblick auf die Bewertung als Arbeitszeit gilt die europäische Arbeitszeitrichtlinie. Zuständig dafür ist der Europäische Gerichtshof (EuGH). Wird die Rufbereitschaft korrekt angeordnet, gilt nur die Aktivierungszeit als Arbeitszeit, während bei angeordnetem Bereitschaftsdienst die gesamte Dauer als Arbeitszeit gilt, unabhängig von der tatsächlich anfallenden Arbeit (EuGH-Urteil vom 9. März 2021, C-589/19).

BAG ist zuständig für Vergütungsfragen

Welche Vergütung zu zahlen ist, regelt die Richtlinie jedoch nicht. Diese Frage ist nach nationalem, also deutschem Recht zu beurteilen. Besondere Bedeutung haben dabei die tarifvertraglichen Regelungen. Letztinstanzlich zuständig für die Frage, ob ein Bereitschaftsdienst oder eine Rufbereitschaft vergütet wird, ist das Bundesarbeitsgericht (BAG). Dieses hatte nun einen Fall auf Basis des Tarifvertrags des Marburger Bundes (TV-Ärzte/TdL) zu entscheiden (BAG-Urteil vom 25. März 2021, AZR 264/20).

Der konkrete Fall: Ein Oberarzt wurde außerhalb seiner regelmäßigen Arbeitszeit für Hintergrunddienste herangezogen. Während dieser Zeit musste er telefonisch erreichbar sein. Keine Vorgaben gab es zu seinem Aufenthaltsort oder der Zeitspanne, innerhalb derer er die Arbeit im Klinikum aufnehmen sollte. Tatsächlich hatte der Oberarzt während des Hintergrunddiensts sowohl Einsätze in der Klinik als auch rein telefonische Inanspruchnahmen. Zudem musste er Organtransplantationsangebote der Stiftung Eurotransplant bearbeiten und gegenüber Eurotransplant innerhalb von 30 Minuten Entscheidungen treffen. Das Klinikum vergütete die Hintergrunddienste als Rufbereitschaft, der Oberarzt verlangte eine Vergütung als Bereitschaftsdienst.

Entscheidend sind Aufenthaltsbeschränkungen

Während das Landesarbeitsgericht dem Oberarzt eine Vergütungsdifferenz zuerkannte, entschied das BAG, es habe sich bei dem Hintergrunddienst vergütungsrechtlich um Rufbereitschaft gehandelt. Den Richtern zufolge ist die Frage, ob ein vom Arbeitgeber angeordneter Hintergrunddienst im vergütungsrechtlichen Sinn Bereitschaftsdienst oder Rufbereitschaft ist, ausschließlich nach nationalem Recht und nicht nach der europarechtlichen Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG zu beantworten.

Nach den tarifvertraglichen Regelungen muss sich der Oberarzt bei einer Rufbereitschaft nicht wie beim Bereitschaftsdienst an einem bestimmten Ort aufhalten, sondern kann diesen frei wählen. Dabei ist er allerdings in der Wahl seines Aufenthaltsorts nicht völlig frei, sondern darf sich entsprechend dem Zweck der Rufbereitschaft nur so weit vom Arbeitsort entfernen, dass er die Arbeit dort alsbald aufnehmen könnte. Hingegen liegt vergütungsrechtlich eine Anordnung von Bereitschaftsdienst vor, wenn die Zeitvorgabe so knapp bemessen ist, dass der Oberarzt räumlich eingeschränkt ist wie bei einem Bereitschaftsdienst. Die konkrete Grenze im Einzelfall bis zur Arbeitsaufnahme am Patienten beträgt nach der Rechtsprechung 20 bis 30 Minuten. Dazu gehört auch die Zeit für das Anlegen von Arbeitskleidung.

Entscheidend für die Frage, ob es vergütungsrechtlich um Bereitschaftsdienst oder Rufbereitschaft im Sinne des Tarifvertrages geht, ist danach nicht das Ausmaß der anfallenden Arbeitsleistung, sondern allein der Umfang der vom Arbeitgeber auch durch Zeitvorgaben angeordneten Aufenthaltsbeschränkungen.

BAG: Anordnen von Rufbereitschaft unzulässig

Im konkreten Fall, begründet das BAG, sei mit der Verpflichtung, einen dienstlichen Telefonanruf anzunehmen und damit die Arbeit unverzüglich aufzunehmen, keine räumliche Aufenthaltsbeschränkung im tariflichen Sinne verbunden gewesen. Auch habe es keine zeitlichen Vorgaben für die Aufnahme der Arbeit gegeben. Damit sei tatsächlich Rufbereitschaft im tariflichen Sinne angeordnet worden. Dennoch war das Anordnen von Rufbereitschaft nach Auffassung des BAG unzulässig. So untersage der Tarifvertrag dem Arbeitgeber die Anordnung von Rufbereitschaft, wenn erfahrungsgemäß nicht lediglich in Ausnahmefällen Arbeit anfalle (§ 7 Abs. 6 Satz 2 TV-Ärzte/TdL). Da der Oberarzt in etwa der Hälfte der Hintergrunddienste zur Arbeit herangezogen wurde und zu vier Prozent aller Rufbereitschaftsstunden tatsächlich Arbeit leistete, hätte das Klinikum keine Hintergrunddienste anordnen dürfen. Irrelevant sei dabei, ob es zu Arbeitseinsätzen in der Klinik kommt, was im konkreten Fall bei mehr als einem Viertel der Rufbereitschaften vorgekommen war.

Dennoch erhielt der Oberarzt keine höhere Vergütung. Denn nach den Regelungen des Tarifvertrags ist es für die Unterscheidung von Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft unerheblich, ob es einen bestimmten Arbeitsleistungsanteil gibt. Der Tarifvertrag differenziert vielmehr nach dem Aufenthaltsbestimmungsrecht. Dies zeige, so das BAG, dass die Tarifvertragsparteien für den Fall einer tarifwidrigen Anordnung von Rufbereitschaft keinen höheren Vergütungsanspruch vorgesehen haben.

Gerichte dürfen Tariflücke nicht schließen

Eine tarifwidrig angeordnete Rufbereitschaft wandelt sich also nicht automatisch in Bereitschaftsdienst um. Die BAG-Entscheidung beachtet konsequent den Willen der Tarifvertragsparteien. Diese haben für den Fall einer tarifwidrigen Anordnung von Rufbereitschaft keine höhere Vergütung vorgesehen, um keinen vergütungsrechtlichen Anreiz zu schaffen, unzulässig angeordnete Rufbereitschaft abzuleisten. Somit gibt es zwar eine Tariflücke hinsichtlich der Vergütung von tarifwidrig angeordneten Rufbereitschaften. Doch sind die Arbeitsgerichte nicht befugt, diese zu schließen. Sie würden damit unzulässig in die verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie eingreifen.

Dennoch sind betroffene Ärztinnen und Ärzte nicht schutzlos. Sie können die Ableistung tarifwidrig angeordneter Rufbereitschaften verweigern. Auch ist es Aufgabe der Betriebsräte, im Rahmen ihrer Mitbestimmungsrechte auf das Einhalten der anzuwendenden Tarifverträge zu achten.
 

Dtsch Arztebl 2022; 119(31-32): [2]

Der Autor

Dr. iur. Torsten Nölling
Fachanwalt für Medizinrecht
04229 Leipzig

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