Anonyme Bewerbung – ein Zukunftsmodell für Kliniken?

16 September, 2020 - 08:38
Silja Elfers
Grafische Darstellung: Bewerber aller Art stehen in der Reihe, darunter Mann mit Turban und Rollstuhlfahrer
Ziel der anonymen Bewerbung ist es, den Fokus auf die Qualifikation und beruflichen Fähigkeiten des Bewerbers zu lenken.

Diskriminierung findet statt, ohne dass es uns bewusst ist. Bei der Durchsicht von Bewerbungen fällt ein Kandidat „durch“, obwohl er fachlich für die Stelle qualifiziert wäre. Kliniken, die für Chancengleichheit und Diversity Management stehen, können mit der anonymen Bewerbung bei potenziellen Arbeitnehmern punkten.

Eine anonyme Bewerbung verzichtet auf Foto, Adresse, Geburtsdatum, Alter, Geschlecht, Familienstand, Religion und Herkunft. Eigentlich alles, was die Identität einer Person ausmacht. Aber gerade das ist bei der Personalauswahl gewünscht, denn das Ziel der anonymen Bewerbung ist es, den Fokus auf die Qualifikation und beruflichen Fähigkeiten des Bewerbers zu lenken. „Deshalb wird auf bestimmte Angaben verzichtet, auf deren Grundlage aber ohnehin keine Auswahlentscheidung basieren darf. Dies verbietet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Andere wichtige Informationen – etwa zur Berufserfahrung, Ausbildung oder Motivation – können aber natürlich in den Bewerbungsunterlagen enthalten sein“, sagt Dr. Ulf Rinne, Head of Scientific Management am  IZA – Institute of Labor Economics in Bonn. Er ist seit vielen Jahren in der empirischen Arbeitsmarktforschung  tätig und beschäftigt sich unter anderem mit  Maßnahmen zum Abbau von Diskriminierung.
 


Was kann die anonyme Bewerbung leisten?

Pro

  • Gleiche Chancen für Einladung zum Bewerbungsgespräch
  • unbewusste Diskriminierung wird vermieden
  • Qualifikationen und Fähigkeiten zählen
  • bessere Vergleichbarkeit der Bewerber
  • Steigerung der Arbeitgeberattraktivität
  • Diversity Management
  • Qualität der Bewerbungen kann durch aufwendigeren Auswahlprozess steigen.

Kontra

  • Diskriminierung ab 2. Stufe (Vorstellungsgespräch) weiter möglich
  • für Jobs mit großem Fachkräftemangel bedingt sinnvoll
  • nicht für jede Stelle geeignet (bspw. Jobs mit Kreativität, schwieriger für Jobeinsteiger)
  • Bei Angabe von Hobbys, Sprachen etc. sind indirekte Rückschlüsse auf den Bewerber möglich.
  • mehr administrativer Aufwand für Personaler und Bewerber
  • Quantität der Bewerbungen kann durch aufwendigeren Auswahlprozess sinken.
     

Bei der anonymen Bewerbung werden die eingehenden Bewerbungen zentral gesammelt, etwa im Sekretariat, und ohne die Informationen zur Person, also auch ohne die E-Mail-Adresse des Bewerbers, an die Personalverantwortlichen weitergeleitet. Erst, wenn die Entscheidung getroffen ist, wer eine Einladung zum Vorstellungsgespräch erhält, wird die Identität des Bewerbers gelüftet. Die Anonymisierung betrifft also nur die erste Stufe des Bewerbungsverfahrens. „Gerade  in dieser ersten Stufe ist die Diskriminierung am stärksten ausgeprägt. Vorbehalte und Vorurteile wirken sich in und nach einem persönlichen Gespräch weniger stark auf Entscheidungen aus, als auf Grundlage von schriftlichen Unterlagen“, sagt der Experte. Dabei ist wichtig zu wissen: Die wenigsten wollen bewusst einzelne Personen diskriminieren, es handelt sich vielmehr um einen unbewusst ablaufenden Prozess.

Attraktiverer Arbeitgeber durch anonyme Bewerbungen

Im Gesundheitssystem gibt es im Pflegesektor und bei den Ärzten aktuell viele unbesetzte Stellen. Besteht hier das Problem der Diskriminierung nicht oder nicht so stark, allein aufgrund des Fachkräftemangels? „In der Tat entschärft der Fachkräftemangel das Problem der Diskriminierung in Bewerbungsverfahren“, sagt Dr. Ulf Rinne. Allerdings könne die Attraktivität des Klinikums als Arbeitgeber steigen, wenn glaubhaft im Vorfeld kommuniziert wird, dass das Unternehmen für Chancengleichheit steht. Mitunter könnten Kliniken dadurch auch mehr Jobanwärter auf sich aufmerksam machen.

Seiner Erfahrung nach wird die anonymisierte Bewerbung heute vor allem von Unternehmen eingesetzt, die großen Wert auf Diversity Management legen. Wissenschaftliche Studien belegen: Nach der Einführung von anonymen Bewerbungen gab es dort keine systematischen Unterschiede in der Einladungswahrscheinlichkeit zwischen vergleichbaren Bewerbenden verschiedener Bevölkerungsgruppen. „Diskriminierung wird also vermieden – was allerdings voraussetzt, dass zuvor diskriminiert wurde.“

Anonyme Bewerbung testen

Wer überlegt, seinen Bewerbungsprozess künftig zu anonymisieren, muss die „normalen“ Bewerbungen nicht abrupt abschaffen. Vielleicht bietet es sich an, das Modell zunächst selektiv für einzelne Stellenausschreibungen einzusetzen.  „In unseren Untersuchungen hat sich der Einsatz von standardisierten Bewerbungsformularen als praktikable und empfehlenswerte Methode der Anonymisierung erwiesen“, so Dr. Ulf Rinne. Damit bestehe zwar das Risiko, dass durch den für den Bewerber etwas aufwendigeren Prozess einzelne Kandidaten abspringen, insgesamt steige aber die Qualität der eingehenden Bewerbungen.

Das Auswahlverfahren kann natürlich nicht verhindern, dass Jobsuchende in einem späteren Bewerbungsschritt diskriminiert werden, wenn ihre Identität bekannt ist. „In unserer Forschung hat sich außerdem gezeigt, dass es jenseits anonymer Bewerbungen grundsätzlich wünschenswert ist, Auswahlverfahren transparenter und objektiver zu gestalten“, so der Arbeitsmarktforscher. Ein erster kleiner Schritt könnte zum Beispiel sein, klare und nachvollziehbare Bewertungskriterien bereits im Vorfeld eines Bewerbungsverfahrens festzulegen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Health Relations, dem Online-Magazin des Deutschen Ärzteverlags für die Healthcare-Branche (03.09.2020).
 


Der Experte:

Dr. Ulf Rinne ist Head of Scientific Management am  IZA – Institute of Labor Economics in Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der empirischen Arbeitsmarktforschung und der angewandten Mikroökonometrie. Insbesondere befasst er sich mit Fragen der Wirksamkeit von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, mit Maßnahmen zum Abbau von Diskriminierung (etwa mit anonymen Bewerbungen) sowie mit den Folgen des technologischen Wandels und der Digitalisierung auf unsere Arbeitswelt.

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