
Es ist möglich, scheinbar verloren gegangene Zeit zurückzugewinnen: Nach dem Erkennen der Komplexität und dem Schaffen von Klarheit geht es darum, getroffene Entscheidungen zum „Nein“ offen zu kommunizieren. Jedes „Nein“ zu Dringlichkeiten schafft Freiräume für ein erfreuliches „Ja“ beim Wichtigen.
Wie kommt es, dass es mehr denn je Tipps und Tricks gibt, Tools und Technologien verfügbar sind sowie Kalender und Checklisten, und viele Menschen dennoch immer weniger Zeit für das Wesentliche zu haben scheinen? Ursache dafür sind oft scheinbar dringliche Anfragen, attraktive Angebote oder einzigartige Aufträge.
Zu viele Rollen, zu viele Interaktionen
Daher ist es zunächst wichtig, Komplexität zu erkennen. Oberärztin, Mutter, Ehefrau, Tochter, Schwester, Freundin, Mitglied im Tennisverein und stellvertretende Vorsitzende des Schulbeirats. Diese bewusst stereotyp gewählte Rollenkonstellation beschreibt acht Dimensionen, die durch 28 Interaktionen miteinander verknüpft sind. Vier Rollen bedingen zwar nur sechs, 16 Rollen bringen es jedoch auf 120 Interaktionen. Eine linear steigende Anzahl sozialer Rollen führt also zu einem exponentiellen Wachstum der Rolleninteraktionen. So erhöht jedes kritiklose Hinzunehmen einer neuen Rolle die Lebenskomplexität, weil sie in exponentiellem Maße die Anzahl potenzieller Interessenkonflikte erhöht.
Die folgenreichste Konsequenz dieser Gemengelage ist Disstress. Neun von zehn Medizinstudierenden leiden unter Disstress, 27 Prozent haben Burn-out- und Depressionssymptome und elf Prozent der Medizinstudierenden denken gar über Selbstmord nach. Die Anzahl sozialer Rollen skaliert die Komplexität und die daraus resultierende Kompliziertheit des eigenen Lebens. Die optimale Anzahl sozialer Rollen lässt sich mit sieben bis neun konkret beziffern.
Was ist wichtig, was ist dringlich?
Wichtig ist auch, Klarheit zu schaffen. Die wohl bekannteste Entscheidungshilfe, Aufgaben zu priorisieren wird dem ehemaligen US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower zugeschrieben. Die sogenannte Eisenhower-Matrix unterteilt verfügbare Aufgaben in eine nach Dringlichkeit und Wichtigkeit kategorisierte Vierfeldertafel. Für klare Priorität (Singular!) sorgt jedoch nicht seine Matrix, sondern nur die ihm zugeschriebene Dichotomie in zwei Kategorien: „Wichtiges ist selten dringlich und Dringliches ist selten wichtig.“ Dieses konkrete Ausschlussverfahren und nicht die oft bemühte Vierfeldertafel schafft Klarheit, beispielsweise darüber, dass Dringliches oft Dritte herantragen. Diese scheinbaren Dringlichkeiten führen meist nicht dazu, dass man selbst seinen persönlichen Vorhaben nachgeht. Wer hingegen Wichtiges bearbeitet, bringt sich den eigenen Zielen näher.
Leider drängen sich wichtige Aufgaben nicht auf, daher schiebt man sie gern auf. Häufig fällt das Wichtige dem Dringlichen zum Opfer: Wie wichtig sind Unterbrechungen und Störungen bei der Arbeit und das Bearbeiten von E-Mails? Wie dringlich sind ein nachhaltig geführtes Familienleben und eine gesunde Lebensführung? Der wichtigste, für Klarheit sorgende Paradigmenwechsel ist folglich, dem Wichtigen vor dem Dringlichen Priorität einzuräumen – nicht umgekehrt! Die Formulierung ist bewusst gewählt, denn in der Medizin bedarf es Raum für beides: für Dringlichkeiten und für das Wichtige. In der Kategorie „wichtig“ finden sich die Ziele der Lebensbereiche Karriere, Beziehung, Gesundheit und Reflexion. Zäumt man Dringlichkeiten nicht in eng abgesteckte zeitliche Korridore ein, verdrängt Dringliches stets Kapazitäten für das Wichtige. Mit Kapazitäten sind alle wichtigen Ressourcen gemeint. Denn es geht nicht nur um das Management der verfügbaren Zeit. Es gilt auch, achtsam mit dem eigenen Motivationslevel und Energiestatus umzugehen.
Je mehr Einzug das Dringliche in unseren Alltag erhält, desto mehr verschiebt man Wichtiges und desto fremdbestimmter und gestresster fühlt man sich irgendwann. Die sich im Alltag ausbreitenden Dringlichkeiten und das Vernachlässigen der eigenen wichtigen Lebensbereiche bezeichnet man auch als „Dringlichkeitsfalle“. Ein wesentlicher Mechanismus tiefer in die Dringlichkeitsfalle hinein ist die sogenannte Gefälligkeitsfalle. Jedes zu frühe, unbewusste „Ja“ für Dringliches, führt später unweigerlich zu einem ungewollten „Nein“ für Wichtiges.
Feste Zeiten für Besprechungen und E-Mails
Nach dem Erkennen der Komplexität und dem Schaffen von Klarheit geht es darum, die getroffenen Entscheidungen zum „Nein“ auch offen zu kommunizieren. So sind anderen und auch sich selbst Absagen zu erteilen:
- Ungewollte Unterbrechungen im Arbeitsprozess, zum Beispiel durch spontane Ansprachen von Kolleginnen und Kollegen, sind vermeidbar, wenn man Besprechungstermine oder Besprechungszeiten vereinbart, beispielsweise vor und nach Visiten, oder indem man eine „stille Stunde“ einrichtet.
- Mit festen Zeiten für Social Media, Messaging und das Schreiben von E-Mails kann man für sich selbst unbeabsichtigte Unterbrechungen vermeiden. Am wirksamsten ist es meist, das Schreiben von E-Mails am Morgen zu vermeiden und diese Arbeit en bloc am späten Nachmittag zu erledigen.
Kurzfristig hilft das Vermeiden des „Sägezahneffekts“, Arbeitszeit zu defragmentieren. Fokussiertes Arbeiten am Stück vermeidet das zeitfressende und ermüdende Wiederhineinfinden in den Arbeitsprozess. Langfristig hilft nur eine proaktive Priorisierung der eigenen Ziele. Diese sind oft nicht dringlich und benötigen daher eine feste Positionierung im Kalender.
Das Schöne am Neinsagen
Zuletzt ist wichtig, Absagen konkret zu praktizieren. Für häufige Mail-Anfragen sind Textbausteine hilfreich. Für ein „Nein“ im persönlichen Gespräch hilft es, sich zunächst höflich zu bedanken und sich Bedenkzeit für die Entscheidung auszubitten. Bei der Absage könnte man Gegenangebote machen oder Teil-Zusagen aussprechen. Eine weitere krasse, aber wirksame Haltung ist ein „Nein“ als Standardantwort zu verwenden. Um das Schöne an Absagen zu visualisieren und dieses Verhalten positiv zu verstärken, könnte man beispielsweise abgesagte Termine mit Bleistift in den eigenen Kalender eintragen. Diese Einträge verdeutlichen, wo man hätte sein müssen, wenn man aus Gefälligkeit, finanziellen oder anderen Gründen nicht „Nein“ gesagt hätte.
Dtsch Arztebl 2023; 120(29-30): [2]
Der Autor:
Prof. Dr. med. Alexander Ghanem
Chefarzt Innere Medizin II
Kardiologie & internistische Intensivmedizin
Asklepios Klinik Nord
22417 Hamburg