Lospoltern oder innehalten? Tipps, um sich im stressigen Klinik- und Praxisalltag weniger zu ärgern

9 November, 2022 - 06:19
Gerti Keller
Verärgerter Arzt

Der eine flippt aus, der andere schluckt alles runter: Ärger-Potenzial gibt es im hektischen Ärztealltag genug. Anti-Ärger-Coach Philipp Karch verrät, wie man damit am besten umgehen kann.

Worüber ärgern sich Menschen am meisten? Sind wir uns alle darin ähnlich?

Philipp Karch: Die Ärger-Quellen sind zwar individuell, aber es gibt echte Klassiker, die immer wieder Unmut auslösen. Insbesondere ärgern wir uns, wenn eines unserer Grundbedürfnisse nicht erfüllt wird. Dazu zählen unter anderem Wertschätzung, Sicherheit, Effektivität, Freiheit oder Gerechtigkeit. Ein Beispiel: Rollt ein Kollege mit den Augen, wenn ich den Besprechungsraum betrete oder seufzt immer, wenn ich etwas sage, fühle ich mich bedroht. Denn dann wird mein Bedürfnis nach Sicherheit am Arbeitsplatz nicht erfüllt.

Was sind typische Ärgernisse von Ärztinnen und Ärzten im Krankenhaus?

Philipp Karch: Vorne steht der Wettbewerb, wodurch Ärger auf allen Hierarchieebenen vorprogrammiert ist. Ich kenne etliche Oberärzte, die befürchten, dass sie von den Assistenzärzten überholt werden. Auch die Zusammenarbeit mit der Pflege führt häufig zu Reibereien, vor allem wenn Zuständigkeiten nicht klar geregelt sind oder Ärzte durch Personalmangel deren Aufgaben übernehmen müssen. Ich habe aber auch schon mit Pflegekräften gearbeitet, die sagten, die Ärzte würden sie als reine Dienstleister behandeln nach dem Motto „tu das jetzt für mich“. Und dieser Ärger kommt dann eben zurück.

Was hören Sie noch aus dem Alltag?

Philipp Karch: Alltägliche Ärgernisse sind auch, dass nicht sorgfältig dokumentiert wird, bestimmte Kollegen immer andere Abteilungen warten lassen oder die Verwaltung sich von den Orthopäden drei Prothesen pro Tag wünscht… Ganz wichtig ist zudem das Thema Loyalität. Beispiel Visite, wenn der Chefarzt einen der anwesenden Ärzte kritisiert und ihn vor den anderen bloßstellt. Ich habe schon öfter gehört, dass Ärzte deswegen auf ihre Kollegen sauer sind, weil die dann eifrig genickt haben oder sich sehr bedeckt verhielten – und zwar ohne jede Not.

Wie wichtig ist Sprache?

Philipp Karch: Menschen üben mit Sprache enorme Gewalt aus. Ich leide jeden Tag von morgens bis abends, wenn ich höre, wie wir miteinander umgehen. Es gibt so viele Formulierungen, die ungeheuer weh tun, wie „kannst du mal“ – mit Betonung auf das „mal“… Das gilt auch bei berechtigter Kritik. Ist die Atmosphäre erst einmal aufgeheizt, können selbst bei Kleinigkeiten Reiz-Formulierungen wie „das hättest du doch machen müssen“ zum Zündstoff werden. Schnell wird dann die ganze Komplexität des Klinik-Alltags auf ein einziges Versäumnis reduziert, der Schuldige sofort verhaftet und das Ärgernis ist in voller Blüte. Besser ist, Kritik zielorientiert und wertschätzend zu formulieren, gerade in Stresssituationen. Man kann auch fragen „darf ich dich auf etwas ansprechen?“, warten bis der andere reagiert und dann auf Augenhöhe kommunizieren. Das Motto: Hart in der Sache, aber weich im Ton.

Wie kann ich reagieren, wenn ich „das Opfer“ bin?

Philipp Karch: Echte Größe beweist, wer sich in seiner Verletzlichkeit zeigt und entgegnet: „wir können gerne darüber reden, aber erstmal möchte ich dir Feedback geben zu deiner Formulierung. Wenn du sagst, ich hätte das machen müssen, komme ich mir vor wie ein Kind in der Grundschule …“ Man kann auch antworten „ja, stimmt, das ist mir passiert. Beim nächsten Mal achte ich drauf“ und Ende der Debatte. Leider versuchen die meisten Leute stets sich zu rechtfertigen. Dann fühlt die andere Seite sich nicht wahrgenommen und legt nach. Und nun hast du zwei Egos, die tun, als würden sie reden, aber eigentlich schießen sie nur noch Giftpfeile ab.  

Welche Anti-Ärger-Strategie empfehlen Sie?

Philipp Karch: Oft ist die Reaktion vieler Menschen: lospoltern. Doch das trägt meist nicht zur Bereinigung bei. Besser ist genau hinzugucken. Ich empfehle mehrere Stufen. Erstens deeskalieren. Das bedeutet: Nicht sofort Paroli bieten, da man im Affekt ohnehin oft das Falsche sagt, sondern zwei Sekunden schweigen, bewusst tief atmen, Blickkontakt halten, ganz leicht nicken und lächeln – nicht als Zustimmung, sondern nur als Zeichen der Wahrnehmung. Je nach Situation kann man auch irgendetwas tun, wie das Fenster öffnen, um die körperliche Anspannung zu lösen. Dann beginnt Phase zwei: Mach eine Problemanalyse. Um was geht’s? Prallen verschiedene Ziel- oder Methodenvorstellungen aufeinander, ist es ein Rollenkonflikt im Sinne von wer macht was oder geht’s um begrenzte Ressourcen. Die dritte Phase heißt minimieren. Versuch zu verstehen, was der Ärger mit dir zu tun hat, und mach ihn innerlich kleiner durch eine Neubewertung. Was ist dein Anteil? Vielleicht ist der andere „in Not“? Und bist du nicht manchmal genauso…? Diese drei Stufen muss man einige Male geübt haben, dann lässt sich das relativ schnell abrufen.

Reicht das?

Philipp Karch: Mit Glück ist der Ärger nun bereits verraucht. Wenn nicht, kommt Phase vier und erst jetzt beginnt die Aktion nach außen. Gib deinem Gegenüber Feedback, zum Beispiel „ich habe gerade gesehen, Sie haben die Stirn gerunzelt und mit der Hand abfällig in meine Richtung gewedelt. Das behindert eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Deshalb meine Bitte: Sagen Sie mir beim nächsten Mal besser, was los ist.“ Erfolgt immer noch keine Verhaltensänderung, gibt’s noch Phase fünf. Die heißt positionieren, eine Entscheidung treffen und loslassen, was sich nicht ändern lässt. Im Klartext: das Verhalten entweder tolerieren oder sich einen anderen Arbeitsplatz suchen.
Letztlich ist es eine Entscheidung, ob man das mit seinem Gegenüber lösungsorientiert austragen möchte oder den vermeintlich kurzen Weg gehen will: rein in den Ärger und den anderen ablehnen.

Gibt es eine Sofort-Hilfe-Maßnahme?

Philipp Karch: Verschiedene, zum Beispiel folgender Ankersatz. Wer von einem nervenden Kollegen unangenehm angegangen wird, kann die Situation mit den Worten vorerst beenden: „Mich beschäftigt gerade etwas. Ich weiß noch nicht genau was, aber sobald ich es klarer habe, komme ich gern wieder auf dich zu“. Diese drei Sätze sind ein Ventil, damit ist der Druck raus. Zugleich merkt das Gegenüber, dass er etwas gemacht hat, was nicht gefallen hat und wird vorbereitet, dass noch etwas kommen wird. Man hat also einen Fuß in der Tür, geht aber erst wieder auf den anderen zu, wenn man sich stabilisiert hat.  

Wieviel Ärger tut noch gut?

Philipp Karch: Ärger hat zunächst eine positive Qualität. Anfangs ist es wie ein Fingerzeig, der mir sagt „Hey pass auf. Hier passiert gerade was“. Bleibt das punktuell, ist es kein großes Problem, weil Ärger immer noch aus einer gewissen Stärke heraus passiert. Schließlich erhebe ich mich damit über mein Gegenüber. Ungut wird es, wenn es sich wiederholt, ich die Emotionen nicht ernst nehme, sondern wegschiebe – mit Arbeit, Schokolade, Drogen, Netflix, Sport oder lästern. Das sind typischen Reaktionen, weil verdrängen immer einfacher ist als hinschauen. Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich in einen Abwärtsstrudel gerate. Das kann übergehen in Frustration, Resignation, Zynismus oder Verachtung, all das sind Spielarten und Folgen von unterdrücktem Ärger. Am Ende drohen Hassgefühle und Depression.

Welche Alarmzeichen gibt es? Was ist mit dem Groll, der einen nachts in der „Wolfsstunde" wachwerden lässt?

Philipp Karch: Ich würde das viel niedrigschwelliger ansetzen. Für mich ist alles eine Warnglocke, was mich daran erinnert, dass ich mit meinem Umfeld nicht wohlwollend umgehe. Das können Gedanken sein, wie „die hat das immer noch nicht erledigt“, „wann macht sie das endlich“ oder „der tut das doch glatt schon wieder“. Wenn ich so etwas in meinem Kopf höre, ist das ein Alarmzeichen. Auch den Körper sollte man wahrnehmen, wenn sich die Muskeln verspannen, die Atmung stockt oder einem heiß wird. All das sind Merkmale, die mir sagen, meine Welt ist gerade nicht in Ordnung.

Was liegt unter dem Ärger?

Philipp Karch: Ärger und auch Wut sind sogenannte Verdrängungsemotionen, damit ich die anderen Gefühle, die darunter liegen, nicht spüren muss. Denn die tun mehr weh. Es sind zum Beispiel Ohnmacht, Scham, Schuld, Angst und Trauer. Wenn ich jemandem „Guten Tag“ wünsche und der grüßt nicht zurück, bin ich in Wahrheit traurig darüber. Der noch tiefere Grund dafür ist aber fehlende Selbstliebe. Daher instrumentalisieren wir ständig unser Umfeld, weil wir es zur Bestätigung brauchen. Und ärgern uns, wenn das nicht klappt.

Wie kann ich mich dauerhaft weniger ärgern?

Philipp Karch: Das Allerwichtigste ist ein realistisches, stabiles und positives Selbstbild zu entwickeln, zu wissen, was sind meine Stärken und meine Schwächen. Wenn ich mich mit diesem Bild versöhnt habe, kann ich aufbauend auf dieser Identität in die Integrität kommen. Also drei Säulen: Selbsterkenntnis, Selbstakzeptanz und schließlich Selbstfürsorge.

Kann man dieses Idealziel wirklich erreichen?

Philipp Karch: Nicht einfach so. Man muss schon ein Coaching, eine Therapie oder eine Selbsterfahrung machen. Oder mehrere davon. Das ist etwas anstrengend, aber wirklich eine Befreiung. Man lässt sich dann viel weniger fremdbestimmen, ist nicht mehr so abhängig von anderen und auch nicht mehr so empfindlich. Was von außen kommt, kann einen dann ja nicht mehr überraschen. Man kann nun auf eine Kritik antworten „ja, das stimmt“ oder „nein, das war ich nicht“.

Ich kenne einen Arzt, der hat ein schickes Haus, eine wunderbare Familie und einen super Job. Trotzdem ärgert er sich schwarz über das Finanzamt und zwar so stark, dass dies alles andere überlagert. Wie kann es sein, dass sich Ärger derart verselbstständigt?

Philipp Karch: Vielleicht sind wir einfach zu verwöhnt. Wer sich über das Finanzamt ärgert, hat wahrscheinlich einfach gut verdient. Ich bin manchmal schon empört über das Ausmaß von Ärgernissen in diesem Land. Nimm den Straßenverkehr. Wie viele fluchen hinter ihrem Steuer, anstatt einfach zu sagen „hey, ich sitze hier im Warmen und fahre selbstbestimmt irgendwo hin“. Auch manche Klienten von mir haben sich in ihren Ärger regelrecht verrannt und wollen da eigentlich auch gar nicht rausgeholt werden. Die fordern auch von mir zunächst eine Bestätigung. Da sind sie aber beim Falschen, denn ich jammere nicht mit. Ich begleite sie höflich, mache das Ärgernis immer kleiner und schaue, dass sie die Lust verlieren, mit mir über irgendwas schimpfen zu wollen. Und dann versuche ich sie daran zu erinnern, was sie alles haben, damit sie das mal wieder im Vergleich sehen. Spätestens jetzt verfliegt der Groll eigentlich immer.

Wie sind Sie zu Ihrem Thema gekommen? Haben Sie sich auch zu viel geärgert?

Philipp Karch: Und wie! Ich habe mich in meinem vorherigen Berufsleben wahnsinnig über das Kommunikationsverhalten in Meetings geärgert, dann festgestellt, dass ich nicht der einzige bin und mich anschließend sehr mit der Materie beschäftigt. Jetzt bin ich 49 und ärgere mich viel weniger. Je mehr Erwartungen Menschen haben, desto häufiger sind sie enttäuscht oder im Ärger. Meine goldene Regel lautet daher: Trenn dich von all deinen Erwartungen, die du nicht unbedingt brauchst. Ich habe nur noch drei: Man soll mich nicht töten, einfach so anfassen oder mit negativen Adjektiven versehen. Letzteres passiert leider dauernd…  Doch immer, wenn jemand zu mir sagt, ich sei ungeduldig, arrogant oder übergriffig, antworte ich höflich und neugierig und ohne Schaum vorm Mund: „Was meinst du damit genau? Lass uns drüber reden“.

Tipps und Hinweise

Weitere Infos: www.philipp-karch.de

 

Der Experte

Philipp Karch ist Coach, Kommunikationstrainer und Speaker für Ärger-Minimierung. Er studierte Landschaftsökologie in Münster und Environmental Studies in Los Angeles. Als Verlagsredakteur, Politikberater eines Wirtschaftsverbandes und Projektleiter in Agenturen war er immer wieder konfrontiert mit der Komplexität von Ärger- und Konfliktdynamiken. Seit 2010 leitet er Führungskräftetrainings und Seminare, hält Infotainment-Vorträge und bietet Konfliktklärungsgespräche sowie Einzelcoachings an.

Bild: © Corwin von Kuhweide

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