Pendeln: Wie viele Kilometer sind noch okay?

9 Juli, 2020 - 08:13
Gerti Keller
Dr. Steffen Häfner
Psychotherapeut Dr. Steffen Häfner ist Chefarzt der MediClin Baar Klinik, einer Fachklinik für Psychosomatik und Verhaltensmedizin.

Traumjob gefunden, aber der neue Arbeitsplatz wäre weit weg? Wie viele Kilometer sollte man maximal pendeln? Und woran merkt man, wenn es zu viel wird? Der Psychosomatiker Dr. Steffen Häfner therapiert seit langem Berufspendler – und kennt die Tücken aus eigener Erfahrung.

Manch ein Arzt fragt sich bei der Suche nach einer Klinik-Stelle: Wie weit entfernt darf ich eigentlich wohnen?

Dr. Steffen Häfner: Das ist unterschiedlich. Manche Fachgebiete erfordern es, dass man zügig am Einsatzort ist. Dazu zählen beispielsweise Gynäkologie oder Kardiologie. Bei Bereitschaftsdienst übernachten viele dann in der Klinik oder in der Nähe. Das hängt aber auch vom Träger und den lokalen Erfordernissen ab: Was wird zum Beispiel operiert? Ist der OP nicht nur tagsüber für geplante Operationen in Betrieb? Das wird in diesen Fällen per Absprache geregelt. Früher gab es noch die sogenannte Residenzpflicht, nach der man in der Nähe wohnen sollte. Diese ist meines Wissens in den letzten Jahren in den Hintergrund getreten, was beim heutigen Ärztemangel auch nachvollziehbar ist. Bewerber, die weiter weg wohnen, sollten diesen Punkt aber auf jeden Fall ansprechen.

Welche Entfernung ist generell noch verträglich, auch für angestellte Ärzte in Gemeinschaftspraxen und MVZ?

Dr. Steffen Häfner: Früher sagte man, ein Hin- und Rückweg von 100 Kilometern sei noch okay. Heute geht man vom Zeitaufwand aus, denn die Distanzen werden immer relativer. So können Sie in einer Stadt für ein paar Kilometer ewig brauchen, auf der anderen Seite mit einem ICE flott in einer anderen Metropole ankommen. Als sinnvolle Zeitgrenze gelten inzwischen 90 Minuten für beide Wege. Was aber nicht unterschätzt werden darf, sind die Heimfahrten nach langen 24-Stunden-Schichtdiensten. Wenn Sie hierbei hochkonzentriert arbeiten mussten, kann die Verkehrstüchtigkeit eingeschränkt sein. Sie haben möglicherweise einen Schlafmangel, was sich in Unkonzentriertheit, Gereiztheit bis hin zu verschwommen Sehen auswirkt. Damit besteht ein höheres Unfall-Risiko.

Was können überhaupt die gesundheitlichen Folgen des Pendelns sein?

Dr. Steffen Häfner: Wer täglich längere Strecken pendelt, bekommt häufig mit seinem Schlafrhythmus Probleme. Aufgrund des langen Arbeitswegs muss man früher aufstehen als die Kollegen. Das kann insbesondere bei „Nachteulen“ zu Schlafmangel führen. Auf Dauer bauen Pendler oft ein regelrechtes Defizit auf. Die Bewegungsarmut im Auto begünstigt zudem Rückenschmerzen, bei manchen auch Kopfschmerzen. Durch die unkalkulierbaren Verkehrsverhältnisse müssen Tagespendler zudem oft damit rechnen, zu spät zu kommen. Ständig drohen Staus, insbesondere im Winter kann der ganze Verkehr bei Glatteis zusammenbrechen. Bei öffentlichen Verkehrsmitteln schwingt andererseits die Sorge mit, durch Verspätungen oder Zugausfälle den Anschluss zu verpassen. So geraten Berufspendler schnell und manchmal sogar ständig unter psychischen Druck. Ich rate auch Ärzten, hier wachsam zu bleiben und spätestens nach fünf Jahren zu überprüfen, ob sie damit noch gut zurechtkommen. Schauen Sie also genau hin: Wie schlafe ich, habe ich Symptome, die ich früher nicht hatte und machen Sie auch mal wieder einen Gesundheits-Check-Up. Überhaupt sollte man Pendeln nicht immer als gottgegeben hinnehmen und schauen, ob es nicht doch andere Möglichkeiten gibt.  

Welche langfristigen Risiken drohen?  

Dr. Steffen Häfner: In erster Linie ein schlechter gesundheitlicher Umgang mit sich selbst. Die Wegezeit geht nun mal von der Freizeit ab. In der erholen wir uns, treiben Sport, gehen aber auch mal als Arzt zum Arzt und kümmern uns um die eigene Gesundheitsfürsorge. Das alles kommt zu kurz. Viele Fernpendler sind regelrechte Arztmuffel, sodass sich Symptome nicht selten chronifizieren. Das betrifft auch mein Fachgebiet. Eine Psychotherapie ist relativ zeitaufwendig. Dafür muss man zu bestimmten Terminen Zeit haben, vielleicht sogar mehrmals die Woche, was Pendlern kaum möglich ist. Hinzu kommt ein weiteres Risiko: Übergewicht. Neben Bewegungsmangel neigen Pendler zum Fastfood. Gesundes Essen braucht ebenfalls Zeit, für den Einkauf und die Zubereitung. Auch an Bahnhöfen holt man sich schnell was auf die Hand, und das ist oft zu zucker- oder fetthaltig.

Worauf sollten Pendler in ihrer knappen Freizeit achten?

Dr. Steffen Häfner: Man sollte nicht versuchen, die verlorene Zeit krampfhaft nachzuholen und die Wochenenden zu überplanen. Denn dann hecheln Sie immer einer Wunschvorstellung hinterher, was für zusätzlichen Stress sorgt. Man muss sich wirklich im Klaren sein, dass nicht mehr alles geht. Das sollte bei einem neuen Job auch mit dem Partner besprochen werden, weil sonst falsche Erwartungen entstehen. Tatsächlich kommt es bei vielen Pendlern zu einem Paradox. Sie tun dies ja, weil sie bei ihrer Familie und am Heimatort sein wollen. Vielleicht sind sie dort in der Kirchengemeinde, im Sportverein oder politisch aktiv. Und dann kommen sie wegen der erhöhten Fahrzeit fast gar nicht mehr dazu. Weil wieder Stau war, sie ja auch noch was essen müssen und eigentlich sind sie schon zu müde und das, was man vorhatte, ist sowieso schon wieder halb rum… und dann können sie es auch ganz seinlassen. Und so verlieren sie am Ende doch die Beziehungen und Hobbies, die sie eigentlich aufrechterhalten wollten. Man muss tatsächlich sein Privatleben umstrukturieren und die vorhandene Zeit für Sinnvolles und Machbares nutzen.

Was kann der Arbeitgeber tun?

Dr. Steffen Häfner: Arbeitgeber sollten offen für flexible Arbeitszeiten sein, um Pendlern die Rushhour zu ersparen und ihnen Parkplätze zur Verfügung stellen. Im derzeitigen Wettstreit um die besten Kräfte können Bewerber gezielt danach fragen. Zudem müssen wir immer noch viel zu oft in der Klinik oder Praxis präsent sein. Stichwort Homeoffice. Auch Ärzte haben viel zu viele bürokratische Aufgaben, müssen Formulare ausfüllen, Briefe schreiben. Wenn man das mal in Arbeitszeit umrechnet, ist das ein erheblicher Anteil. Das könnte gebündelt werden.

Vertragen manche Menschen die Pendelei besser als andere?

Dr. Steffen Häfner: Weites, zeitaufwendige Pendeln ist immer eine Zusatzbelastung. Bei jungen Leuten zwischen 20 und 30 Jahren spielt das noch kaum eine Rolle. Los geht es bei der Altersgruppe ab 45. Ich meine auch, dass es Frauen generell schlechter als Männer vertragen, weil sie meist noch andere Aufgaben im Haushalt erledigen. Da sind die Kompensations-Mechanismen häufig schneller erschöpft. Dennoch: Ich kenne viele Pendler, die machen das zehn, 20 oder 30 Jahre. Manche sind sogar gern unterwegs. Wenn Sie keine weiteren Stressfaktoren haben und nur weit fahren müssen, ist das oft auch okay. Aber wenn es in Ihrem Leben noch ein paar andere „Haken“ gibt, sei es private oder berufliche Belastungsfaktoren, wie zu viel Arbeit, Ärger mit dem Chef oder in der Partnerschaft, sattelt sich das Pendeln oben drauf. Dann kann genau das eben mal das Fass zum Überlaufen bringen. Und schwupp, ist der Burnout da. 

Ihre Tipps, um entspannter zu pendeln?

Dr. Steffen Häfner: Lernen Sie eine Entspannungsmethode – aber richtig. Dazu muss man sie üben und intensiv praktizieren, um sie als „Notfallkoffer“ bereit zu haben. Denn wer einen vollen Arbeitstag hinter sich hat, sich dann noch auf den Verkehr konzentrieren muss, bei dem sind Ein- oder Durchschlafstörungen vorprogrammiert. Und das baut sich dann von Montag bis Freitag über die ganz Arbeitswoche schön auf. Und wenn Sie dann denken: Egal, schlafe ich halt am Wochenende aus, steht die Familie auf der Matte. Irgendwann kann man gar nicht mehr abschalten.

Und was ist mit den Wochenendpendlern?

Dr. Steffen Häfner: Jungen Kollegen, die ihre Traumstelle ein paar hundert Kilometer weit weg von Freund/Freundin haben oder die Single sind, empfehle ich: Machen Sie es. Um die Facharztweiterbildung durchzuziehen, ist das für eine Zeit gut zu schaffen. Aber wenn man sich an einem Ort fest einrichten und eine Familie gründen möchte, wird es schwierig. Auch ist das Arbeitsleben als Arzt nicht gerade ein Zuckerschlecken. Die jüngere Generation will sowieso nicht nur in der Klinik schuften, sondern legt deutlich mehr Wert auf die Work-Life-Balance. Und heute müssen Sie bei dem Ärztemangel ja auch nicht mehr so weit fahren, um irgendwelche Facharztbausteine zusammenzukriegen und haben auch bessere Chancen einen Job ganz in Ihrer Nähe zu bekommen.  

Sie selbst sind jahrelang gependelt…

Dr. Steffen Häfner: Acht Jahre von Stuttgart nach Sachsen, 400 Kilometer pro Strecke jedes Wochenende. Vor 1,5 Jahren war ich froh, nach Baden-Württemberg zurückkehren zu können. Dennoch war es interessant, in einem anderen Bundesland, einer anderen Klinik zu arbeiten. Aber auf Dauer ist es nix. Meist fahren Sie freitags schon im Stau los. Doch das Schlimmste ist, dass Sie sonntagnachmittags bereits wieder losmüssen. Und dann beneiden Sie die Kollegen, für die das erst montags früh ansteht.

Wofür nutzen Sie die zurückgewonnene Zeit?

Dr. Steffen Häfner: Wir haben Drillinge, drei 15-jährige Jungs und für die bin ich jetzt auch unter der Woche mal präsent. Zudem kann ich mit meiner Frau nun auch werktags was unternehmen, wir gehen schwimmen, ins Theater und besuchen Konzerte. Das ist eine ganz andere Qualität. Als Wochenendpendler arbeitet man manchmal abends noch weiter, damit das Wochenende frei ist. Letztlich fühlen Sie sich dabei immer einsam. 

Fazit:

Die maximale Entfernung zwischen Wohn- und Einsatzort richtet sich nach dem Arbeitgeber, dem Fachgebiet sowie lokalen Erfordernissen. Für eine Weile ist Pendeln insbesondere für junge Leute meist kein großes Problem. Auf Dauer sollten aber auch Mediziner prüfen, inwieweit es sie belastet. Denn wer täglich längere Strecken pendelt, dem droht ein Schlafdefizit. Durch Staus, Zugausfälle & Co. entsteht zudem psychischer Druck und durch kürzere Freizeit kommt vieles – auch die eigene Gesundheitsfürsorge – zu kurz.

Pendeln – die fünf wichtigsten Tipps:

  • Sprechen Sie die Entfernung bei Ihrem neuen Arbeitgeber an
  • Vermeiden Sie lange Strecken nach 24-Stunden-Diensten
  • Vernachlässigen Sie die eigene Gesundheitsfürsorge nicht
  • Überplanen Sie die wenigere Freizeit nicht
  • Überprüfen Sie nach einiger Zeit, ob es Ihnen noch guttut

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