
Der ärztliche Alltag ist geprägt von hohen Arbeitsbelastungen, Zeitdruck und der Verantwortung für das Patientenwohl. Die Schulung der eigenen Achtsamkeit hilft, Stress zu reduzieren, die eigene Resilienz zu stärken und das Wohlbefinden im klinischen Alltag zu verbessern.
Um zu verstehen, was Achtsamkeit ist, hilft es zu reflektieren, wie unser Geist und unser Bewusstsein funktionieren. Häufig sind Menschen im Zustand des sogenannten Autopiloten. Der Geist ist dann in einem Zustand, in dem Menschen handeln, ohne wirklich bewusst präsent zu sein oder sich der Handlungen, Gedanken oder Gefühle, die sie gerade erleben, vollständig bewusst zu sein. In diesem Zustand folgen sie oft automatisch ihren Gewohnheiten, Routinen oder Reaktionen, die sie im Laufe der Zeit entwickelt haben, ohne bewusst darüber nachzudenken, sie zu reflektieren oder zu hinterfragen.
Erkennen und Verändern des Autopiloten
Der Autopilot tritt in vielen Lebensbereichen auf, einschließlich zwischenmenschlicher Beziehungen, Arbeitsgewohnheiten und allgemeinem Verhalten. Man spricht auch vom „Tun-Modus“ oder „Funktionieren-Modus“. Gerade im ärztlichen Kontext ist der Autopilot oft hilfreich. Wenn Ärzte schnell dringende und lebenswichtige Entscheidungen für Patienten treffen müssen, ist es vorteilhaft, auf gelernte Verhaltensmuster zurückgreifen zu können. Eine negative Folge entsteht, wenn dieser Zustand langfristig anhält und man verlernt, auf eigene Bedürfnisse und Grenzen zu achten. Das macht unzufrieden und langfristig auch möglicherweise krank.
Ein zentraler Aspekt des Achtsamkeits- und Gewahrseinstrainings ist, den Autopiloten zu erkennen und zu verändern. Es geht darum, immer wieder aus dem „Funktionieren-Modus“ in den „Sein-Modus“ zu kommen. Wenn man sich bewusst macht, wann man im Autopiloten-Modus ist, schafft man die Möglichkeit, sich bewusst für seine Handlungen und Reaktionen zu entscheiden.
Aspekte einer achtsamen Grundhaltung
Durch achtsames Gewahrsein gelingt es zu erkennen, wenn man in alte Muster verfällt, die möglicherweise nicht mehr hilfreich sind, und alternative Wege zu finden, um besser mit Herausforderungen umzugehen. Das Durchbrechen des Autopiloten ermöglicht es auch, präsent zu sein und das Leben bewusster und erfüllender zu gestalten.
Aspekte offenen Gewahrseins sind, immer wieder bewusst und ohne Urteil im gegenwärtigen Moment präsent zu sein, bewusstes Wahrnehmen der eigenen Gedanken, Gefühle und körperlichen Empfindungen sowie der Umgebung. Dabei zeichnen folgende Aspekte eine achtsame Grundhaltung aus:
- Gegenwärtigkeit: im gegenwärtigen Moment präsent sein und Erfahrungen bewusst wahrnehmen, ohne in Gedanken an Vergangenheit oder Zukunft zu verfallen, den Moment annehmen, wie er ist, ohne ihn zu bewerten.
- Aufmerksamkeit: eine offene, nicht urteilende Aufmerksamkeit für die Aspekte des Lebens, Erfahrungen, Gedanken und Gefühle ohne Wertung annehmen, ohne sich von ihnen mitreißen zu lassen oder sich dagegen zu wehren.
- Akzeptanz: sich selbst, andere Menschen und die Umstände des Lebens annehmen, ohne zu versuchen, sie zu ändern.
- Mitgefühl: ein tieferes Verständnis für das Leiden und die Bedürfnisse anderer Menschen entwickeln, mitfühlend zu sein und sich in die Lage anderer zu versetzen, ohne das eigene Wohlbefinden zu vernachlässigen.
- Nicht-Greifen und Nicht-Festhalten: nicht an Vergangenem festhalten oder in der Zukunft verharren, sondern den gegenwärtigen Moment schätzen.
- Bewusste Entscheidungsfindung: innehalten und sich bewusst fragen, was die beste Handlung oder Reaktion in einer bestimmten Situation ist.
- Selbstfürsorge: sich Zeit für Ruhe und Regeneration nehmen und die eigenen Grenzen respektieren.
Integration der Achtsamkeit in den Alltag
Die Entwicklung der eigenen Achtsamkeit lebt davon, dass man sie regelmäßig und als langfristige Investition kultiviert. Dabei ist die Zeit, die man investieren muss, um den Autopiloten zu durchbrechen, nicht so lang, wie man häufig denkt. Es kommt vor allem auf die Kontinuität an, mit der man übt. Folgende Anregungen helfen, Achtsamkeit in den Alltag zu integrieren:
- Morgenmeditation: Ärzte können den Tag mit einer kurzen Meditation oder Atemübung beginnen, um sich auf den Moment zu konzentrieren und einen klaren und ruhigen Geist für den Arbeitstag zu schaffen. Dies hilft, Stress und Ablenkungen zu reduzieren und sich auf bevorstehende Aufgaben zu fokussieren.
- Visite: Während der Visite können Ärzte sich bewusst Zeit nehmen, um präsent und mitfühlend auf Bedürfnisse und Sorgen ihrer Patienten einzugehen. Indem sie Patienten ihre Aufmerksamkeit schenken, entsteht eine stärkere Verbindung zu Patienten und ein besseres Verständnis für deren Situation. Dabei lässt sich zum Beispiel das Desinfizieren der Hände beim Betreten des Patientenzimmers als Ritual für innere Präsenz nutzen.
- Zuhören: In Gesprächen mit Kollegen oder Patienten ist achtsames Zuhören entscheidend. Wichtig ist, sich darauf konzentrieren, präsent zu sein, ohne voreilige Schlüsse zu ziehen oder Gedanken an andere Dinge zu verlieren. Das fördert die Kommunikation und Zusammenarbeit im Team.
- Atemübungen: In Momenten hoher Belastung helfen Atemübungen, sich zu beruhigen und Stress zu reduzieren. Durch bewusstes Atmen kann man Emotionen besser regulieren und klarer denken, um angemessen auf Situationen zu reagieren.
- Pausen: Ärzte sollten sich bewusst Zeit für Pausen nehmen, um sich zu erholen und Energie zu tanken. Das können kurze Momente der Stille, Spaziergänge in der Natur oder eine Tasse Tee sein. Auch regelmäßige fünfminütige kurze Pausen, auch während Operationen, helfen, bewusster zu arbeiten.
- Reflexion: Am Ende des Arbeitstags hilft eine Reflexionsübung, sich über Erfahrungen und Emotionen bewusst zu werden. Das ermöglicht, Belastungen oder Stressoren zu identifizieren und Strategien zu entwickeln, besser mit ihnen umzugehen.
Gelingt es, diese Aspekte regelmäßig zu leben, steigert sich nicht nur die eigene Zufriedenheit, sondern auch die Gesundheit. Zahlreiche Studien beobachteten zudem eine Veränderung des Gehirns, insbesondere in Bereichen, die für chronische Stresszustände verantwortlich sind.
Dtsch Arztebl 2023; 120(40): [2]
Der Autor
Dr. med. Matthias Weniger
Ärztlicher Leiter
Institut für Stressmedizin Rhein Ruhr
45525 Hattingen