
Achtsamkeit ermöglicht es, gewohnte Denk- und Verhaltensroutinen zu durchbrechen, herausfordernde Situationen und Konstellationen neu wahrzunehmen und neue, kreative Lösungen zu entwickeln. Im Zentrum entsprechender Trainingsprogramme steht die Entwicklung der Selbststeuerungsfähigkeit.
Vor ein, zwei Jahrzehnten war das Thema Achtsamkeit noch primär ein individuelles Coaching-Thema. Inzwischen ist vielen Organisationen bewusst: Achtsamkeit ist ein wichtiger Erfolgsfaktor beim Führen. So äußern Führungskräfte in Gesprächen immer öfter, dass sie spüren, in einer von schnellen Veränderungen und sinkender Planbarkeit geprägten Welt zu leben. Nicht selten sehen sie sich vor der Herausforderung, ihr Denken und Handeln zu reflektieren und neu justieren zu müssen. Für das Lösen der sich daraus ergebenden Aufgaben benötigen Führungskräfte eine hohe Sensibilität für Veränderungen. Diese können sich beziehen auf:
- Veränderungen im Umfeld des eigenen Verantwortungsbereichs, beispielsweise als Chefärztin einer Klinik in Zeiten der COVID-Pandemie,
- Veränderungen in der Zusammenarbeit mit dem eigenen Team, zum Beispiel aufgrund des Generationenwechsels in der Belegschaft oder des stärker spürbaren Fachkräftemangels,
- Veränderungen im eigenen Denken und Handeln, etwa aufgrund größer werdender Unsicherheit oder gestiegenen Handlungsdrucks.
Bewusstes Wahrnehmen von Veränderungen
Im angelsächsischen Raum hat sich für dieses bewusste Wahrnehmen der vielfältigen Veränderungen, um darauf als Führungskraft angemessen reagieren zu können, der Begriff „Mindful Leadership“ etabliert, auf Deutsch „Achtsame Führung“. Achtsamkeit bezeichnet dabei eine besondere Form der Konzentration, bei der Führungskräfte bewusst wahrnehmen, was im Moment geschieht – und zwar ohne das Wahrgenommene zunächst zu bewerten, um nicht automatisch in die gewohnten Reiz-Reaktions-Muster zu verfallen.
Ein Vordenker des achtsamen Führens war Professor Dr. Jon Kabat-Zinn. Vor knapp 50 Jahren entwickelte er an der University of Massachusetts Medical School in Worcester das Trainingsprogramm Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR). Das Programm hat zum Ziel, nachhaltig besser mit Stress und den Herausforderungen des Lebens umzugehen. Untersuchungen belegen die positiven Wirkungen solcher Trainingsprogramme auf der psychologischen und neuronalen Ebene. Im Programmverlauf verändern sich demnach auch die Gehirnstrukturen der Teilnehmenden positiv.
Entwicklung der Fähigkeit zur Selbststeuerung
Im Zentrum der Programme steht die Entwicklung der Selbststeuerungsfähigkeit der Teilnehmenden durch eine bewusstere Wahrnehmung der Prozesse, die sich in ihrem Umfeld und ihnen selbst vollziehen. Eine höhere Präsenz im Moment soll ermöglichen, sensibler wahrzunehmen, was im eigenen Bewusstsein geschieht, um so unbewusst wirkende Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster zu erkennen und diese bei Bedarf außer Kraft zu setzen. Durch ein solches Bewusstseinsmanagement soll Raum für etwas Neues entstehen, zum Beispiel ein der Situation angemesseneres Verhalten, da zwischen Reiz und Reaktion eine kleine Zeitspanne vergeht. In ihr haben nicht nur Führungskräfte die Möglichkeit, ihre Antwort oder Reaktion auf den Reiz bewusst zu wählen. In Sachen Teamführung kann dies zum Beispiel bedeuten: Einer Führungskraft wird bewusst, wenn sie bei ihren Mitarbeitenden Widerstände gegen Veränderungen spürt, dass diese verunsichert sind und es keinen Sinn macht, Druck auf sie auszuüben. Für die Selbstführung kann dies bedeuten: Einer Führungskraft wird bewusst, dass es in Stresssituationen oft wichtig ist, mal einen Gang runterzuschalten, um nicht in blinden Aktionismus zu verfallen. Eine erhöhte Achtsamkeit ermöglicht es also, Denk- und Verhaltensroutinen sowie Reiz-Reaktions-Muster zu durchbrechen und ein zielführenderes Verhalten zu zeigen.
Positive Wirkungen für den Klinikerfolg
Jede Organisation sollte diese Fähigkeit zur Selbstreflexion bei ihren Führungskräften fördern, denn dann nehmen diese ihre Führungsaufgaben wirkungsvoller wahr. Google erkannte das schon im Jahr 2007 und etablierte ein Programm namens „Search inside yourself“, eine Art Achtsamkeitsprogramm.
Inzwischen bieten auch viele andere Organisationen ihren Führungskräften solche Trainings- und Coaching-Programme an. Denn wenn das selbstreflexive Führungsverhalten zu gering ausgeprägt ist, kann das für Organisationen teuer werden. Studien belegen zum Beispiel seinen negativen Einfluss auf die Zufriedenheit und das Engagement der Mitarbeitenden, ihre Identifikation mit der Arbeit und Bindung ans Unternehmen, ihre Veränderungsbereitschaft sowie die Qualität der entwickelten Problemlösungen. Durch ein achtsamkeitsorientiertes Leadership-Programm kann also nicht nur das Stressniveau der Führungskräfte gesenkt werden. Es werden auch viele positive Wirkungen auf den Klinikerfolg erzielt.
Bewusste Selbstführung, bessere Führung
Eine bewusste Selbstführung ist die Basis für eine achtsame Führung. Achtsame Führungskräfte sind sich ihrer selbst und ihrer Werte sowie Einstellungen und Triebfedern bewusst. Dieses Selbst-Bewusstsein, das auch eine nachhaltige Verhaltensänderung bewirkt, fällt nicht vom Himmel. Sein Entstehen erfordert Zeit und ist das Resultat eines regelmäßigen Einübens. Der Schlüssel zum Erfolg ist eine eigene vertiefte Achtsamkeitspraxis. Das heißt: Führungskräfte sollten sich zum Beispiel täglich 20 Minuten Zeit dafür nehmen, ihre Wahrnehmung von sich selbst und ihrer Umwelt sowie ihre Sensibilität auch für schwache Veränderungssignale zu trainieren, beispielsweise mit einer gezielten Meditation. Ob dieses In-sich-Gehen und Sichbesinnen zu Hause oder beim Spazierengehen im Wald geschieht, ist nicht wichtig. Wichtig ist, es zu einer täglichen Routine zu machen. Wirksame Führung ist primär eine Frage der Qualität der dem Handeln zugrunde liegenden Bewusstseinsprozesse. Daher sollte ein Mindful-Leadership-Programm bei der Fähigkeit der Teilnehmenden ansetzen, eine bewusste Selbststeuerung und -führung zu entwickeln. Aus dem achtsamen Umgang mit sich selbst können ärztliche Führungskräfte Handlungsprinzipien für ihren Arbeitsalltag in der Klinik entwickeln.
Dtsch Arztebl 2023; 120(26): [2]
Die Autorin
Barbara Liebermeister
Leitung
Institut für Führungskultur im digitalen Zeitalter (IFIDZ)
65189 Wiesbaden