Ärztinnen und Ärzte in Führung: (Sich) Besser durch Second Victim Symptome führen

15 Mai, 2024 - 07:22
Prof. Dr. med. Sonja Güthoff, MBA
Ärztinnen und Ärzte in Führung: Prof. Dr. Sonja Güthoff

Fehler und Fehlentscheidungen passieren in der Medizin. Neben den Patientinnen und Patienten nehmen dabei jedoch auch die Behandelnden und Pflegenden Schaden. Lesen Sie in diesem Artikel, was das „Second Victim“ Phänomen ist, warum viele Angehörige der Gesundheitsberufe dessen Symptome zeigen und wie Sie im Team damit besser umgehen können.

Was ist das „Second Victim“ Phänomen?

Der amerikanische Arzt und Professor Albert W. Wu prägte den Begriff “Second Victim” (Medical error: the second victim - The doctor who makes the mistake needs help too. BMJ 2000; 320(7237): 726–727). Der Begriff offenbart, dass nach den Patientinnen und Patienten, die Opfer von medizinischen Fehlern oder Fehlentscheidungen werden können, auch die Ärztinnen und Ärzte selbst durch diese Situation „verwundet“ sein können. Somit werden Ärztinnen und Ärzte zum sogenannten zweiten Opfer (engl. „Second Victim“). Prof. Wu hat damals schon ehrlich die damit verbundenen Gefühle beschrieben wie Blöße, Angst, dass jemand den Fehler bemerkt haben könnte, und Sorge vor den (rechtlichen) Konsequenzen, sowie daraus erwachsend die Unsicherheit, ob und was man jemandem sagen sollte.

Die fehlenden institutionellen Mechanismen zur Unterstützung des Trauerprozesses und die Herangehensweise in der Aufklärung der medizinischen Fehler mit Fokus auf den Fakten und weniger auf den Gefühlen der Patientin bzw. des Patienten und der Ärztin bzw. des Arztes würden die „Heilung“ der Ärztinnen und Ärzte erschweren. Das Resultat seien dysfunktionale Wege des Selbstschutzes wie Wut und Schuldzuweisungen, Verteidigung und Gefühllosigkeit, Beschimpfen der Patientin bzw. des Patienten oder anderer Mitglieder des Behandlungsteams. Später wiederhole sich das Ereignis immer wieder im Kopf und die eigene Kompetenz wird angezweifelt. Langfristig kann es zu tiefen inneren Verletzungen, dem Gefühl von Ausgebranntsein sowie Alkohol- und Drogenabusus kommen (Wu A. W. BMJ 2000, siehe oben).

Ärztinnen und Ärzte, jedoch auch Pflegefachkräfte können betroffen sein

In der Literatur werden die Begriffe „Second Victim“ Syndrom und „Second Victim“ Phänomen verwendet – zweiteres vor allem, weil Betroffene an unterschiedlichen Symptomen, die eher anhaltende und belastende Gefühle darstellen, leiden. Die zwei amerikanischen Ärztinnen und Professorinnen Carolyn J. Sachs und Natasha Wheaton nutzen in ihrer Übersichtsarbeit den Begriff „Second Victim“ Symptome, um Symptome zu bezeichnen, die in ihrer extremen Form ein echtes „Second Victim“ Syndrom darstellen können, die aber in einem milderen Bereich von fast allen Angehörigen der Gesundheitsberufe im Laufe ihrer Karriere erlebt werden (Second Victim Syndrome. in: StatPearls [Internet]. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing 2024).

Die Autorinnen Sachs und Wheaton arbeiten zudem heraus, dass auch das Beobachten eines schwerwiegenden unerwünschten Ereignisses bei einer Patientin oder einem Patienten (oder sogar eines Beinahe-Ereignisses) emotionale Auswirkungen hat. Besonders belastend sei die Tätigkeit dahingehend z. B. in der Notfallmedizin, der Chirurgie und der Intensivpflege. Die Professorinnen tragen aus Studien zusammen, dass etwa 27 Prozent der Pflegefachkräfte in der Notfallmedizin, 25 Prozent der Notärztinnen und -ärzte, 22 Prozent der Pflegefachkräfte auf der Intensivstation, 22 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung in der Chirurgie, 17 Prozent der Anästhesistinnen und Anästhesisten sowie 15 Prozent der Unfallchirurginnen und -chirurgen von extremer und durchdringender Belastung berichten würden. Diese schweren „Second Victim“ Symptome könnten zu einem echten „Second Victim“ Syndrom führen, das wiederum bei Nichtintervention in eine posttraumatischen Belastungsstörung münden könne (Sachs C. J. und Wheaton N. StatPearls Publishing 2024, siehe oben).

Merke:

Symptome des „Second Victim“ Phänomens können als Folge von eigenen medizinischen Fehlern entstehen, sich jedoch auch nach Beobachten solcher entwickeln. Auch Beinahe-Fehler können zur psychischen Belastung führen. Sowohl Ärztinnen und Ärzte als auch Pflegekräfte können betroffen sein. Bei einer starken Ausprägung kann auch von einem „Second Victim“ Syndrom gesprochen werden, das unkontrolliert in einer posttraumatischen Belastungsstörungen münden kann.

Symptome und Häufigkeit des „Second Victim“ Phänomens

Eine Metaanalyse von final 18 Studien basierend auf 11.649 Angehörigen der Gesundheitsberufe, die in unerwünschte Ereignisse bei Patientinnen und Patienten involviert waren (Busch I. M. et al. Psychological and Psychosomatic Symptoms of Second Victims of Adverse Events: a Systematic Review and Meta-Analysis. J Patient Saf 2020; 16(1):e61-e74), zeigte im Zusammenhang mit dem Second Victim Phänomen folgende Symptome:

  • Belastende Erinnerungen (Troubling memories): 81 Prozent (95 Prozent Konfidenzintervall (CI) 46–95 Prozent),
  • Angst / Besorgnis (Anxiety / concern): 76 Prozent (CI 33–95 Prozent),
  • Wut auf sich selbst (Anger toward oneself): 75 Prozent (CI 59–86 Prozent)
  • Bedauern / Reue (Regret/remorse): 72 Prozent (CI 62–81 Prozent)
  • Negativer Stress (Distress): 70 Prozent (CI 60–79 Prozent)
  • Angst vor zukünftigen Fehlern (Fear of future errors): 56 Prozent (CI 34–75 Prozent)
  • Peinlichkeit (Embarrassment): 52 Prozent (CI 31–72 Prozent),
  • Schuldgefühle (Guilt): 51 Prozent (CI 41–62 Prozent),
  • Frustration: 49 Prozent (CI 43–55 Prozent),
  • Wut (Anger): 44 Prozent (CI 6–91 Prozent),
  • Angst (Fear): 43 Prozent (CI 32–54 Prozent),
  • Gefühle der Unzulänglichkeit (Feelings of inadequacy): 42 Prozent (CI 27–59 Prozent),
  • Verminderte Arbeitszufriedenheit (Reduced job satisfaction): 41 Prozent (CI 36–47 Prozent),
  • Besorgnis über die Reaktion der Kolleginnen und Kollegen (Concern regarding colleagues’ reactions): 39 Prozent (CI 14–71 Prozent),
  • Symptome einer Depression (Symptoms of depression): 36 Prozent (CI 20–56 Prozent),
  • Angst vor Folgen / offizielle Konsequenzen (Fears of repercussions/official consequences): 36 Prozent (CI 21–54 Prozent),
  • Schlafschwierigkeiten (Sleeping difficulties): 35 Prozent (CI 22–51 Prozent),
  • Wut auf andere (Anger toward others): 33 Prozent (CI 18–52 Prozent),
  • Verlust des Selbstvertrauens (Loss of confidence): 27 Prozent (CI 18–38 Prozent),
  • Besorgnis über die Reaktionen der Patientinnen und Patienten (Concern regarding patients’ reactions): 8 Prozent (CI 0–70 Prozent),
  • Selbstzweifel (Self-doubts): 6 Prozent (CI 2–14 Prozent).

Unterstützung bei „Second Victim“ Symptomen

Vielleicht kennen Sie den Impuls, dass wir als erste Reaktion auf uns anvertraute Probleme die Person beruhigen wollen, indem wir die Situation verharmlosen. Gut gemeinte Sätze wie „Das kann doch jedem passieren.“ oder „Das wird schon wieder.“ oder vielleicht bei einem gravierenden Beinahe-Fehler „Ach, es ist doch gar nichts passiert.“ helfen in dieser Situation jedoch nicht. Zum einen könnte sich die Person in ihrem Schmerz nicht verstanden oder ernst genommen fühlen. Zum anderen verhindern solche Aussagen, dass die Person weiter mit Ihnen darüber spricht und die Situation aufarbeiten und verarbeiten kann.

Tipp:

Vermeiden Sie bitte Äußerungen der Verharmlosung, wenn Ihnen eine betroffene Person mit „Second Victim“ Symptomen ihre Gedanken und Gefühle anvertraut. Auch wenn dies gut gemeint ist und die Person beruhigen soll, so verhindert es zum einen den Verarbeitungsprozess und kann auch zum anderen als Unverständnis wahrgenommen werden. Zweiteres gilt übrigens auch bei jeglichen Problemen, die Ihnen anvertraut werden. Bei verharmlosenden Reaktionen könnte die betroffene Person sich in ihrer Problematik nicht ernst genommen fühlen.

Um eine gute Auf- und Verarbeitung der Situation zu schaffen, braucht es am Besten eine institutionell verankerte Unterstützung. Der Erstbeschreiber des “Second Victim” Prof. Wu hat beispielhaft am Johns Hopkins Hospital in Baltimore (USA) das RISE (Resilience In Stressful Events) Programm etabliert (Edrees H. et al. Implementing the RISE second victim support programme at the Johns Hopkins Hospital: a case study. BMJ Open 2016; 6: e011708). Etwa zweieinhalb Jahre lief der Prozess, das Programm zu entwickeln, Peer-Group Ersthelfer zu trainieren, das Programm erst in einem Pilotprojekt in der pädiatrischen Abteilung und dann klinikweit auszurollen. Im ersten Jahr gab es 119 Anfragen, in die ungefähr 500 Personen involviert waren. Davon waren nur etwa 4 Prozent mit medizinischen Fehlern verbunden, und die meisten Anfragen kamen von Pflegefachkräften (Edrees H. et al. BMJ Open 2016, siehe oben).

Die Autorinnen Prof. Sachs und Prof. Wheaton fassten die Erkenntnisse des John Hopkins Hospital Programms (Edrees H. et al. BMJ Open 2016, siehe oben) und einer qualitativen Studie mit semistrukturierten Interviews von 61 Ärztinnen und Ärzten, die einen schweren medizinischen Fehler gemacht hatten (Plews-Ogan M. et al. Wisdom in Medicine – What Helps Physicians After a Medical Error? Academic Medicine 2016; 91(2):p 233-241) als dreistufiges Unterstützungs-System zusammen:

  1. Stufe: Emotionale erste Hilfe durch eine vertraute Kollegin bzw. einen vertrauten Kollegen oder Mentorin bzw. Mentor,
  2. Stufe: Unterstützung durch trainierte Peer-Group Helfer,
  3. Stufe: Unterstützung durch Expertinnen und Experten für psychische Gesundheit (Sachs C. J. und Wheaton N. StatPearls Publishing 2024, siehe oben).

Ergänzend kann das Toolkit für Chirurginnen und Chirurgen der „Society for Clinical Vascular Surgery“ herangezogen werden (Eidt J. F. und Mannoia K. A toolkit for individualizing interventions to mitigate second-victim syndrome in a diverse surgery community. J Vasc Surg Venous Lymphat Disord 2024; 12(2):101680), das sich als Akronym PEARLS merken lässt:

  • P    „Patient First“ (weitere Behandlung und Betreuung der Patientin bzw. des Patienten sicherstellen, ggf. an Kollegin oder Kollege abgeben, verlegen etc.),
  • E    „Emotional Support“ (selbst emotionale Unterstützung suchen und erhalten, Unterstützung durch aktives Zuhören, Akzeptanz, Vertrauen und Vertraulichkeit, nach Abwägung: kritisieren der OP-Technik kann zur Verbesserung führen, kritisieren der Chirurgin bzw. des Chirurgen kann das „Second Victim“ Erleben verstärken),
  • A    „Apology / Disclosure“ (der Patient bzw. die Patientin verdient eine Entschuldigung bzw. Erklärungen über die Situation und die entsprechenden Folgen, gutes Abwägen von Inhalten der Entschuldigung, dem richtigen Timing und Setting, wer sollte als Unterstützung bzw. Zeugin oder Zeuge dabei sein, Dokumentation bedenken),
  • R    „Review“ (Aufarbeitung in Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen („M & M“), weniger Fokus auf den individuellen Fehler, vielmehr auf die Verbesserung und die Implementierung von Strategien zur künftigen Fehlervermeidung aller),
  • L    „Legal“ (Personen des Risikomanagements benachrichtigen und möglicherweise einen Rechtsbeistand hinzuziehen, wenn das Risiko eines Rechtsstreits gegeben ist),
  • S    „Safety“ (Warnzeichen des „Second Victim“ erkennen wie Drogenmissbrauch, Depressionen und Selbstmordgedanken, bei Verdacht auf Selbstverletzungsgefahr Überweisung an geeignete professionelle Stellen erwägen).

Toolbox Führung:

Anregungen zum Umgang mit dem „Second Victim“ Phänomen in der eigenen Klinik, Praxis oder MVZ

  1. Als Basis für einen guten Umgang mit dem „Second Victim“ Phänomen ist es wichtig, dieses erstmal zu thematisieren. Hierdurch soll die Awareness aller geschärft werden. Zum einen können Symptome besser erkannt und Hilfe angeboten werden. Zum anderen muss die Hemmschwelle des Hilfesuchens herabgesetzt werden. Gibt es an Ihrer Klinik, Ihrem MVZ oder in Ihrer Praxis bereits ein entsprechendes Programm? Ansonsten könnten Sie es über Informationsveranstaltungen initiieren, im Team-Meeting darüber berichten oder in individuellen Personalgesprächen das Thema ansprechen.
     
  2. Wenn Sie den Verdacht auf „Second Victim“ Symptome bei jemanden erkennen, leisten Sie bitte erste emotionale Hilfe. Wählen Sie nach Möglichkeit einen geschützten Rahmen hierfür. Sprechen Sie es aus der Ich-Perspektive an, dass Sie etwas wahrgenommen haben. Stellen Sie offene Fragen wie „Möchtest Du darüber reden?“ oder „Wie geht es Dir damit?“. Hören Sie aktiv zu ohne den Anspruch, sofort eine Lösung zu bieten. Akzeptieren Sie die Gefühle und daraus erwachsenen Probleme. Spenden Sie Vertrauen und versichern Sie Vertraulichkeit des Gesprächs. Fragen Sie, was die betroffene Person benötigt – manchmal ist es besser, Abstand zu gewinnen. Stellen Sie jedoch auch sicher, dass keine Selbstverletzungsgefahr besteht, ansonsten ziehen Sie sofort professionelle psychische Hilfe in Betracht. Fragen Sie am Ende, ob Sie später nochmal nach der Person sehen dürfen.
     
  3. Unterstützen Sie bei der Aufarbeitung der Situation. Wie gehen Sie in Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen („M & M“) oder „Lessons Learned“ vor (siehe auch Ärztinnen und Ärzte in Führung: Fehlerkultur leichter verbessern)? Rollen Sie nur die Zahlen, Daten, Fakten auf, oder thematisieren Sie auch die Gefühle und die daraus erwachsenen Probleme bei Patientinnen und Patienten und vor allem den involvierten ärztlichen und pflegerischen Kolleginnen und Kollegen?
     
  4. Wie sieht die Unterstützung anschließend auf kollegialer und professioneller Seite aus? Gibt es für Angehörige der Gesundheitsberufe bei Ihnen in der Klinik professionelle Ansprechpersonen für psychische Belastungen? In der Praxis oder dem MVZ kann dies auch eine arbeitsmedizinische oder kooperierende Einrichtung sein.
     
  5. Im Falle von versterbenden Patientinnen und Patienten, haben Sie ein Abschiedsritual für die Behandelnden und Pflegenden? Fragen Sie Ihr Team, wie ein solches Ritual aussehen könnte. Manchmal wird eine elektronische Kerze angezündet. Es könnten positive Erinnerungen an die verstorbene Person zusammengetragen werden und bei Vertraulichkeit in der Gruppe ansonsten auch alleine Dinge ausgesprochen werden, die man bereut.

Die Autorin:

Prof. Dr. med. Sonja Güthoff, MBA ist Ärztin, Führungskräfte-Trainerin, Professorin für Health Care an der AKAD Hochschule Stuttgart sowie Stress- und Burnout-Coach. Auf ärztestellen.de gibt sie regelmäßig Tipps zu Führungs-Themen. Als Leiterin des Instituts für ein gesundes Arbeitsleben im Gesundheitswesen (INSTGAG) begleitet sie Ärztinnen und Ärzte, Pflegefachkräfte und andere Zusammenarbeitende im Gesundheitswesen dabei, sich und andere besser zu führen. Kontaktieren Sie Sonja Güthoff gerne unter info@sonjaguethoff.de.

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