
Wie werden junge Medizinstudierende die Ärztinnen und Ärzte, die sie gern sein wollen? Und was macht eine ärztliche Persönlichkeit überhaupt aus? Am Universitätsklinikum Jena gibt es zu diesem Thema ein Pilotprojekt, bei dem Studierende unter anderem über Themen wie Verantwortung und Autonomie im Arztberuf sprechen. Dr. Sven Schulz vom Institut für Allgemeinmedizin leitet das Projekt.
Herr Dr. Schulz, seit dem Wintersemester 2021/2022 gibt es bei Ihnen in Jena ein Pilotprojekt, das sich mit der Persönlichkeitsentwicklung von Ärztinnen und Ärzten befasst – das ‚Longitudinale Curriculum zur Ärztlichen Professionalitätsentwicklung‘. Warum haben Sie so ein Projekt ins Leben gerufen?
Dr. Sven Schulz: Die Initiative dazu ging von einzelnen Lehrenden aus – wir waren drei Kolleginnen und Kollegen aus dem ärztlichen Bereich. Wir hatten den Eindruck, dass es etwas gibt, was im Medizinstudium zu kurz kommt. Wir wollten die Studierenden stärker und kontinuierlicher in ihrer professionellen Entwicklung begleiten. Wir haben dann einen Antrag für ein entsprechendes Lehrprojekt gestellt, der dann auch so bewilligt wurde.
Was wollen Sie den Studierenden in diesem Projekt beibringen?
Dr. Sven Schulz: „Beibringen“ ist vielleicht das falsche Wort. Wir möchten gemeinsam mit den Studierenden etwas entwickeln – insofern gibt es einen großen Unterschied zu Seminaren und Vorlesungen, wie wir sie meist von der Uni kennen: Dort wird den Studierenden Wissen präsentiert, das sie sich aneignen sollen. Unser Ansatz ist anders: Bei uns geht es um die Entwicklungen von Haltungen, Werten und Einstellungen. Mit verschiedenen didaktischen Methoden wollen wir die Studierenden dazu anregen, sich selbst zu reflektieren und so ihre ärztliche Persönlichkeit zu entwickeln. Dabei beziehen wir immer auch verschiedene Situationen aus dem klinischen Alltag ein.
Wie ist das Projekt konkret aufgebaut?
Dr. Sven Schulz: Das Projekt ist auf zwei Jahre angelegt. Bestandteile sind ein Curriculum mit Veranstaltungen, in denen wir uns mit bestimmten Themen beschäftigen. Parallel gibt es ein Mentoring und die Studierenden haben ein Journal bekommen, in dem sie regelmäßig Einträge zu ihrer beruflichen Entwicklung machen können. Für das Curriculum hatten wir im November eine 3-tägige Auftaktveranstaltung. Wir haben uns zunächst damit beschäftigt, wo die Studierenden biographisch herkommen, welche Ideen und Vorstellungen sie zum Medizinstudium gebracht haben und welches Bild sie von einem „guten Arzt/einer guten Ärztin“ haben. Pro Semester finden aktuell zwei Veranstaltungen statt, in denen wir uns den verschiedenen Themen widmen.
Welche Themen behandeln Sie im Curriculum genau?
Dr. Sven Schulz: Wir haben nach der Auftaktveranstaltung mit dem Thema „Ärztliche Identität“ angefangen. Weitere Themen sind „Verantwortung“, „Autonomie“ und „Achtsamkeit und Resilienz“, außerdem „Vertrauen“. Damit meinen wir einerseits das Vertrauen in der konkreten Arzt-Patienten-Beziehung, andererseits das Vertrauen in die Medizin. Ein weiteres Thema ist „Tod und Sterben“. Außerdem wollen wir uns auch die Zeit nehmen, Themen-Anregungen der Studierenden aufzunehmen. Wir behandeln die verschiedenen Beziehungen, die im ärztlichen Alltag eine Rolle spielen: Ärztinnen und Ärzte sind ja in erster Linie in einer Beziehung zu sich selbst, dann natürlich auch zu den Patientinnen und Patienten, aber auch zu den anderen Team-Mitgliedern. Aber Ärztinnen und Ärzte sind auch Akteure im Gesundheitssystem an sich und in der Gesellschaft insgesamt. Über all diese Bezüge wollen wir im Curriculum nachdenken und reflektieren.
Wie erleben Sie die Studierenden in diesem Curriculum?
Dr. Sven Schulz: Die Studierenden sind sehr interessiert und bringen viele Fragen mit. Unter anderem haben sie Fragen zu verschiedenen generellen Themen, aber auch zum Verhalten in konkreten Situationen. In der Evaluation, die wir begleitend durchführen, wurde deutlich, dass die Inhalte für sie wertvoll sind und ihnen ein solches Angebot bisher im Studium gefehlt hat. Sicherlich sind die Teilnehmenden eine Auswahl an Menschen, die sich grundsätzlich für diese Themen interessieren. Wenn man so einen Kurs in einem größeren Rahmen anbieten würde, wäre natürlich die Frage, ob alle Studierenden dafür offen und interessiert wären.
Warum sind diese Themen wichtig für die Studierenden?
Dr. Sven Schulz: Wir nehmen bei den Studierenden Unsicherheiten war. Manche davon schon im Studium, andere erst mit Blick auf den Berufseinstieg. Dafür gibt es oft keinen Raum, in dem sie darüber sprechen können – zumindest nicht mit Lehrenden und erfahrenen Ärztinnen und Ärzten. Spätestens mit der Approbation wird das ein Thema, wenn die jungen Ärztinnen und Ärzte dann viel mehr Verantwortung übernehmen. Das ist eine große Schwelle. Berufsbezogene Professionalisierung heißt für uns, bestimmte Fähigkeiten, Haltungen und Werte zu verinnerlichen. Das ist ein laufender Prozess über das ganze Berufsleben – aber der fängt im Studium an. Bisher passiert das hauptsächlich implizit – vielleicht, weil man in Praktika bestimmte Erfahrungen macht oder sich bestimmte Ärztinnen und Ärzte zum Vorbild nimmt. Das ist alles sehr vom Zufall abhängig. Mit unserem Projekt wollen wir dieses Thema explizit angehen.
Was ist denn in den Augen der Studierenden ein guter Arzt oder eine gute Ärztin?
Dr. Sven Schulz: Wir haben den Studierenden zu Beginn des Projekts diese Frage gestellt. Bei den Antworten geht es stark um Themen wie Ehrlichkeit, Verantwortung, Gewissenhaftigkeit, auch fachliche Expertise gehört dazu. Am Anfang steht auch die Frage, warum sich jemand für das Medizinstudium entschieden hat. Wie man später in zehn Jahren konkret arbeiten möchte, wissen viele zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht. Die Professionalisierung fängt aber schon mit der Entscheidung für einen Studiengang an, weil man sich dann schon innerlich ganz stark mit diesem Beruf auseinandersetzt. Danach geht der Professionalisierungsprozess im Studium weiter und hält das ganze Berufsleben lang an. Wir erleben, dass die Studierenden mit ganz viel Enthusiasmus und dem Grundanspruch, Menschen helfen zu wollen, bei der Sache sind. Aber dieser Anspruch stößt im Klinikalltag dann doch an seine Grenzen und wird dadurch auch hinterfragt: Reicht es aus, Gutes tun zu wollen? Und wie muss ich persönlich aufgestellt sein, um dem gerecht werden zu können? Solche Fragen beschäftigen die Studierenden sehr. Auf die Frage, was ein guter Arzt oder eine gute Ärztin ist, gibt es keine pauschale Antwort. Diese Frage muss man sich selbst einfach immer wieder stellen und für den Moment passende Antworten finden.
Der Ansatz klingt ein bisschen philosophisch und ganz anders als alles, was man sonst aus dem Medizinstudium kennt…
Dr. Sven Schulz: Im Umgang mit Erkrankungen und Lebensgestaltung geht es nicht immer nur um Fakten und Vernunft. Das kenne ich aus der hausärztlichen Praxis – und auch bei der ärztlichen Professionalitätsentwicklung geht es um Lebensgestaltung. Sie haben recht – der Ansatz ist anders: Hier geht es nicht um konkrete Therapien und ihre Anwendungen, wie sonst im Medizinstudium. Aber in diesem Zusammenhang halten wir das für wichtig und richtig. So einen Ansatz gibt es in der Medizindidaktik inzwischen auch häufiger. Bisher kamen diese Themen beispielsweise in Ethikvorlesungen vor. Aber dass es so konkret wie bei uns auf die eigene Wahrnehmung und Entwicklung bezogen wird, das gibt es unseres Wissens bisher kaum.
Sind die Ansprüche an Ärztinnen und Ärzte anders als früher?
Dr. Sven Schulz: Ja, ich denke, es gibt eine höhere Arbeitsdichte und viel mehr Informationen, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Auch die Zusammenarbeit im Team hat sich verändert – das will auch gelernt sein. Auch die Gewichtung von Beruf und Privatleben hat sich verändert – Stichwort Work-Life-Balance. Dazu kommt an vielen Stellen die Herausforderung, einen guten Weg zwischen Medizin und Ökonomie zu finden. Auch das stellt manchmal Werte in Frage. Ich denke, das hat sich verändert.
Was wünschen Sie sich: Was sollen die Studierenden für ihr Berufsleben mitnehmen?
Dr. Sven Schulz: Ich hoffe, dass ihnen die Erfahrungen, die sie in den Seminaren machen, mit den zukünftigen Herausforderungen helfen. Dass es ihnen ein Stück Sicherheit gibt, für den Alltag im Arztberuf gewappnet zu sein. Und dass es sie in die Lage versetzt, ihr Handeln zu reflektieren. Sie müssen nicht immer eine Lösung haben. Aber ich würde mir wünschen, dass sie die Themen erkennen, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen.
Der Experte
Bild: © Universitätsklinikum Jena