Ahrtal: Ein Arzt berichtet von der Flutnacht und den folgenden Wochen

8 November, 2021 - 06:34
Gerti Keller
Arztpraxis nach der Flutkatastrophe an der Ahr
Nach der Flutkatastrophe an der Ahr sind die Behandlungsräume in der Praxis von Dr. Marcus Friedl in Bad Neuenahr nicht mehr benutzbar.

Von der Flutkatastrophe im Ahrtal sind auch viele Ärztinnen und Ärzte betroffen. Dr. Marcus Friedl ist einer von ihnen. Seit das Wasser in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 das Ahrtal verwüstet hat, war er nahezu ununterbrochen im Einsatz. Was hat er in den vergangenen Monaten erlebt und wie geht es ihm jetzt? Das schildert er im Beitrag.

Etwa 200 Meter von der Ahr entfernt befindet sich die ehemalige Hausarztpraxis von Marcus und Anke Friedl, die sie vor drei Jahren in einer kleinen Stadtvilla in Bad Neuenahr eröffnet hatten. Noch in der Flutnacht erfuhr das Paar, das im 14 Kilometer entfernten Remagen lebt, von dem Desaster. „Die Mieter, die über unserer Praxis wohnten, schrieben, es komme eine riesige Welle auf uns zu. Das Telefon funktionierte zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr, aber wir konnten sie noch per SMS kontaktieren und bitten: ‚Könnt ihr versuchen, den Server in die erste Etage zu retten?‘ Aber sie antworteten, die Räume stehen schon in den Fluten“, erzählt Dr. Marcus Friedl.

Am nächsten Morgen wollte der Internist selbst nachschauen. „Ich habe das zunächst mit dem Fahrrad versucht. Das erschien mir etwas sicherer als zu Fuß – wegen der offenen Kanaldeckel in den Straßen, die man nicht sah.“ Teilweise stand das Wasser noch hüfthoch. Doch er kam nicht durch. Das gelang ihm und seiner Frau erst am übernächsten Tag. Und bereits auf dem Weg kamen ihnen viele Patienten entgegen, die ihren Hausarzt aufsuchten wollten. Vergeblich: „Obwohl unsere Praxis im Hochparterre mit einem Treppenaufgang von fast 1,5 Metern Höhe lag, stand die matschige Brühe bei uns einen halben Meter hoch. Durch die Kanalisation hatte sich nichts hochgedrückt, kein Fenster war zu Bruch gegangen. Das Wasser hat sich allein durch die Ritzen der Türen gepresst.“

Nun war anpacken angesagt. Mit Freunden und auch Patienten wurde rausgeholt, was nicht ganz zerstört war. „Wäre der Server nur zehn Zentimeter höher im Gerätereck eingebaut gewesen, hätte er das vielleicht überstanden. Aber so war er komplett hinüber“, beschreibt Friedl den Anblick. Die Festplatten ließen sich allerdings noch auslesen, was wegen der RDX-Server-Sicherung zu Hause aber nicht so wichtig war. Erhalten geblieben waren die Praxis-Computer oben auf den Tischen. „Selbst das Ausräumen war nicht einfach. Man konnte eben nicht, wie bei einem ‚normalen‘ Umzug alles in Ruhe in einen Karton packen. Was auf der Erde stand, wurde sofort dreckig und konnte nur mühsam oder gar nicht mehr vom Schlamm befreit werden“, schildert er. Die ganze Nachbarschaft half beim Abspülen von Stühlen und Patienten-Liegen.

Mit einem geliehenen PKW-Anhänger fuhr Friedl das Übriggebliebene nach Hause. „Wegen der zerstörten Brücken musste man große Umwege fahren, dass allein kostete Stunden. Auch unser Zuhause glich einer Rumpelkammer, voller Tüten und Kisten. Und viele Geräte, die stundenlang gereinigt wurden, waren am Ende doch unbrauchbar.“ Dazu zählte auch das relativ neue Sonografie-Gerät, das nach Tagen in der Feuchtigkeit bereits korrodiert war.

Die Notfallpraxis im Altenheim

„Ganz am Anfang funktionierte nichts. Auch zahlreiche der anderen Praxen waren total kaputt, ebenso die meisten Apotheken“, fasst er zusammen. Schnell war klar, Notfallpraxen müssen eingerichtet werden – und zwar erreichbare, da niemand in dem Gebiet weit laufen, geschweige denn fahren konnte. „Die Straßen waren mit rutschigem Schlamm bedeckt, viele Bewohner hatten keine Autos mehr und auf den Bürgersteigen stapelte sich der Müll meterhoch.“ Über eine Rund-Mail des Krisenstabs boten sich die Friedls als Notfall-Ärzte an. Kurz darauf richteten sie mit den Johannitern eine Notfallpraxis im Seniorenzentrum St. Anna ein. Sie veröffentlichten das auf ihrer Homepage und ihre Kinder, zehn und 13 Jahre, liefen durch die Straßen, befestigten Zettel an den Masten mit „Notfallambulanz in St. Anna“– und dann ging es auch schon los.

„Die meisten waren meine Patienten, aber wir versorgten auch zahlreiche Unbekannte mit. Viele brauchten zunächst ganz schnell ihre Medikamente, wie Insulin, Schmerzmittel oder Hypertonika, weil alles weggespült war“, erzählt Friedl. Auch bekamen sie in den ersten Tagen zahlreiche Anrufe von chronisch Kranken, die bis ins rund 70 Kilometer entfernte Nassau in Sicherheit gebracht worden waren. Die Niedergelassenen der Region wollten diese Patienten zunächst nicht mit den teuren Medikamenten versorgen. „Erst nachdem wir das der KV mitgeteilt hatten, wurde schnell verfügt: Kennwort Fluthilfe reicht aus, dass jeder alles verordnen kann ohne Regress zu befürchten“, so der Mediziner.

Wundgelaufen in Gummistiefeln

Zudem versorgten sie jede Menge Prellungen, Zerrungen, Lungenentzündungen und Hautinfektionen. Friedl: „Nach der Flut hat jeder versucht zu retten, was noch zu retten war. Die Menschen arbeiteten bis zur Erschöpfung und dass vom frühen Tagesanbruch an. Es gab zur Abenddämmerung ja kein Licht mehr, auch die Straßenlaternen waren aus.“ Viele hatten offene, wundgelaufene Beine. Denn sie trugen den ganzen Tag über Gummistiefel, allerdings meist ohne Strümpfe, weil sie die auch nicht mehr besaßen. Die Friedls behandelten außerdem reichlich Platzwunden, weil sich die Leute im Dunkeln den Kopf stießen. Durch die Soforthilfe von der Landesregierung erhielten sie Antibiotika, die sie den Patientinnen und Patienten bei der gebotenen Eile in die Hand geben konnten, bis sie am nächsten Tag das Rezept erhielten. Denn zu allem Übel funktionierte die Praxis-IT nicht. Dank der Johanniter war die Behelfspraxis zwar innerhalb eines halben Tages aufgebaut, aber eine sichere, fest installierte EDV ist in einem Provisorium eben nicht machbar. Daher mussten alle Patientendaten handschriftlich von der Karte aufs Rezept übertragen werden.

Impfungen, Waschwasser und Beruhigungstabletten

Dazu kamen bald jede Menge Tetanus-Impfungen. „Die Leute verletzten sich in diesem Ahrschlamm, der auch mit Benzin und Chemikalien versetzt war. Es hat schon übel gerochen, wenn man ins Ahrtal runterkam, da wurde einem speiübel. Das verflüchtigte sich erst nach einigen Wochen“, erläutert Friedl. Bald wurde der getrocknete Matsch zum Problem. „Der lässt sich nicht einfach wegspülen, den müssen Sie wegschrubben und da stecken Fäkalien drin. Da traten natürlich erst recht viele Wundinfekte auf. Gottseidank bekamen wir schnell ausreichend Td-pur und drei- und vierfach-Impfungen gespendet“, erzählt Friedl. Corona-Impfungen kamen auch noch dazu. „Dann traten einige Durchfallerkrankungen auf, und ich dachte ‚oje, nicht dass jetzt auch noch die Enteritis ausbricht‘“, betont er.

Doch Schlimmeres konnte durch die vielen weiteren Hilfslieferungen verhindert werden. So erhielten sie palettenweise Desinfektionsmittel, die sie großzügig an die Patienten weitergeben konnten. Darüber hinaus wurden große Kanister mit Waschwasser an jede Straßenecke gestellt, von dem sich alle bedienen durften. „Und natürlich mussten wir nicht wenige Beruhigungstabletten verschreiben und ganz viel zuhören“, sagt er. Jeder brachte seine eigene Geschichte mit, viele fragten sich und auch Dr. Friedl, wie es überhaupt weitergehen kann.

Praxis auf – auch ohne Strom

„Nebenbei“ musste noch alles Mögliche organisiert werden, zig kleinteilige Dinge, die mit anderen Helfern koordiniert wurden. Dazu zählt die Unterstützung der anderen Kollegen, wie das Notstromaggregat, das über mehrere Schritte zu einem Zahnarzt gelangte. Auch versuchten sie täglich zu veröffentlichen, welche Praxis wieder ans Netz gegangen war, wobei die Kommunikation zum Teil über Newsgroups lief. Alle Hausärzte arbeiteten schnell irgendwie weiter, auch ohne Strom. Nach rund zwei Wochen war die hausärztliche Grundversorgung wieder hergestellt.

„Es war überwältigend, wie viel Privatinitiative es gab“, sagt er. Doch manchmal waren selbst die Hilfsangebote zu viel. „Zwischendurch haben uns die ständigen Anrufe auch überfordert. Wir konnten uns nicht auch noch um die Helfer kümmern und sie anlernen. Das hat bestimmt viele enttäuscht“, bedauert Friedl. Auch Spenden an Möbeln und Geräten konnten nicht angenommen werden, da schlichtweg kein Lagerplatz da war. Medizinische Unterstützung, die sich selbst organisierte, war stets willkommen, zum Beispiel durch einen jungen Arzt, der aus Würzburg anreiste: „Er war zwar noch nicht so weit in der Ausbildung, hat die Leute aber von morgens bis abends aufgeklärt und geimpft. Andere befreundete Ärzte sprangen bei uns einfach mal für zwei Stunden am Nachmittag ein. Sie sagten, damit ihr mal nach Hause fahren, euch was kochen könnt oder ein Ohr für eure Kinder habt. Denn die sind auch viel zu kurz gekommen. Sie hatten ja plötzlich keine Schule mehr. Wir nahmen sie manchmal mit in die Ambulanz, wo sie auch das Leid sahen. Wir ließen sie aber oft auch den ganzen Tag zu Hause oder brachten sie bei Nachbarn unter.“

Am 1. September eröffnete die neue Praxis

Vier Wochen verbrachten sie in St. Anna. Für die Friedls auch eine Zeit mit großen Zukunftsängsten. Denn die Investitionskosten der verlorenen Praxis hatten sich noch lange nicht amortisiert. Trotzdem: Am 1. September eröffneten Dres. Anke und Marcus Friedl neu – ein Glücksfall: „Wir fanden zwar schnell im Internet eine vormals orthopädische Praxis, aber die Makler waren ja auch überschwemmt, da meldete sich zunächst keiner.“ Über Privatkontakte konnten sie den Vermieter direkt erreichen und bekamen als erste Bewerber den Zuschlag. Wenig später standen andere Kollegen Schlange für neue Räume.

Es dauerte aber noch fast einen Monat, bis die komplexe Technik wieder einigermaßen lief. „Es war eine unglaubliche Kraftanstrengung alles neu zu konfigurieren“, erläutert Friedl. Wochenlang mussten sie zudem stundenlang jeden Abend alle gesammelten Daten ins neue System eintippen, um am 1. Oktober die Abrechnung abgeben zu können. Sonst hätten sie auf 30 Prozent der Einnahmen verzichten müssen. „Gottseidank hatten wir vorher alles auf Karteikarten, Zetteln und Listen dokumentiert. Wir dachten uns schon, dass wir nicht einfach fiktiv eingestuft werden, wie es am Anfang hieß“, erklärt Friedl und ärgert sich immer noch: „Jeder redet von der Digitalisierung im Gesundheitswesen. In diesen Fällen ist eine solche hochgezüchtete Telematikinfrastruktur aber ein großer Hemmschuh. Man braucht dafür auch unabhängige Not-Lösungen. Denn auch das mobile ORGA-Kartenlesegerät kann nur rund 180 Einträge verwalten. Und wohin einlesen ohne Server?“

Der Schaden ist groß

„Wichtig war erstmal, dass wir ohne viel Ausfallzeit die Praxis-Tätigkeit fortsetzen konnten, denn all´ die Kosten laufen ja weiter“, informiert Friedl. Immerhin: Die Miete der alten Praxis konnten sie durch eine außerordentliche Kündigung loswerden. Wie hoch der finanzielle Schaden aber insgesamt liegen wird, hängt von dem Abschreibungs-Restwert der Investitionen der jungen Praxis ab und kann nur ungefähr geschätzt werden. Es dürften wohl um die 40.000 Euro sein. Hinzu kommt: „Durch die handschriftlich dokumentierten Versicherungsnummern gab es in dem Durcheinander sicherlich auch Fehleingaben. Wir werden sicherheitshalber Rücklagen bilden, wenn uns diese Fälle irgendwann doch gestrichen werden“, erläutert Friedl.

Bislang haben sie 5.000 Euro Flutsoforthilfe bekommen, die bereits von der Maklergebühr verschlungen wurden, sowie 10.000 Euro Spenden von Kollegen aus Rheinland-Pfalz. „Das Geld war sofort da, dafür sind wir sehr dankbar. So konnten wir uns auch schon ein neues Sono-Gerät anschaffen“, erzählt der Facharzt für Innere Medizin, wobei seine Stimme sehr leise wird, als er ergänzt: „Trotz allem hatten wir so viel Glück. Viele Kollegen sind wesentlich schlimmer dran und um ein Haar hätte es uns auch persönlich getroffen. Meine Frau kam am Flutabend noch vom Spätdienst von der Bereitschaftszentrale zurück und hat es gerade so über die Brücke geschafft. Etwas später und sie wäre auch von der Flutwelle erwischt worden.“

Überhaupt sei er froh, dass nicht noch mehr Leute gestorben seien. Natürlich, resümiert er, hätten die Opfer in dem Behindertenheim und die Bettlägerigen und Gehbehinderten, die in ihren Wohnungen ertrunken sind, rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden müssen, aber: „Meine verstorbenen Patienten sind alles Todesfälle, die in letzter Viertelstunde noch schnell mal in den Keller oder die Tiefgarage runter gegangen sind. Hätte es einige Stunden früher geheißen, wir müssen evakuieren wegen einer Flutwelle, hätte das niemand geglaubt. Aber viele hätten gedacht, da fahr ich noch schnell mit dem Anhänger los und hole dies und das. Auch ich wäre darunter gewesen… Und überhaupt: Bei den Aufräumarbeiten wurde uns klar, dass man das enge Ahrtal bei verstopften Straßen kaum rechtzeitig hätte verlassen können.“

Und was wäre passiert, wenn die Flutwelle mittags gekommen wäre, als die Schulen noch auf waren? „In Walporzheim, wenige Kilometer flussaufwärts, staute sich nach Aussage meiner Patienten das Wasser in den engen Gassen in Windeseile bis vier Meter hoch“, sagt er und regt an: „In Deutschland gibt so viele Dörfer in Tälern an vermeintlich harmlosen Flüssen. Da muss man jetzt wirklich die Lehre ziehen und der Natur ihren Raum geben – und vielleicht ein ökologisches Modellprojekt im Ahrtal etablieren, dass mit seinem Herbstlaub der Weinblätter eigentlich gerade so schön ist“, sagt er und verabschiedet sich nach elf Stunden Arbeit um 20 Uhr endlich in seinen Feierabend.

Hilfe tut immer noch not

Auf der Homepage von Dr. Klaus Korte aus Ahrbrück findet sich ein Spendenaufruf für seinen Assistenzarzt, der in den Fluten seine Frau, seine vierjährige Tochter und sein Haus verlor. Mit nichts als den nassen Kleidern am Leib konnten er und sein vierjähriger Sohn nach vielen Stunden gerettet werden. 

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