
Seit der Machtübernahme der Taliban verschlechtert sich die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung in Afghanistan. Wie gestaltet sich aktuell der Hilfseinsatz für ausländische Ärztinnen und Ärzte dort? Unfallchirurg Dr. Gregor Schmeiser war für Ärzte ohne Grenzen schon zweimal im Land, zuletzt im Juni 2024 – und berichtet über seine Erfahrungen im Trauma-Zentrum in Kundus.
Wann waren Sie in Afghanistan? Und was haben Sie dort gemacht?
Dr. Gregor Schmeiser: Das erste Mal Ende 2022, ein zweites Mal von Mai bis Mitte Juni 2024. Während wir vor zwei Jahren im MSF-Trauma-Zentrum Kundus mit 35 bis 40 Prozent mehrheitlich Schuss- und Minenverletzungen versorgen mussten, hat sich die Situation heute deutlich verändert. Aktuell haben Verkehrs- und landwirtschaftliche Unfälle erheblich zugenommen. Sie stellen jetzt den Großteil der Verletzungen, während Schuss-Verletzungen nur noch fünf bis zehn Prozent ausmachen.
Warum diese Zunahme?
Dr. Gregor Schmeiser: Es ist mehr Handel möglich, die Leute sind viel mehr unterwegs. Die große Fernstraße für den gesamten Norden, die direkt von Kabul nach Kunduz und Masar-e Scharif führt, lässt sich jetzt einigermaßen befahren. Ein Verkehrsmittel ist die Moped-Rikscha. Insbesondere nachts, wenn ohne Licht gefahren wird, kommen diese Fahrzeuge leicht von der Straße ab und kippen um, was schwere Verletzungen zur Folge haben kann.
Was sind das für landwirtschaftliche Unfälle?
Dr. Gregor Schmeiser: Kundus hat ein großes Einzugsgebiet mit knapp drei Millionen Menschen. Gerade der Nordzipfel ist sehr hochgebirgig. Da wird auf den Steilhängen alles Mögliche angebaut, meist von Hand. Die Bauern benutzen dafür auch einfache Maschinen, wie Dreschmaschinen, in die das Getreide oben hineingeschüttet wird. Wird dann mit Arm oder Bein nachgeholfen, führt das nicht selten zu schlimmen Amputationsverletzungen. Ich war zuletzt zur Erntezeit dort und wir sahen eine Menge davon.
Was sind Ihre Aufgaben vor Ort?
Dr. Gregor Schmeiser: In den meisten Projekten, wie auch im Kundus Trauma-Center, operieren einheimische Fachärzte unter unserer Supervision. Ich betreute fünf afghanische Kollegen, alles ausgebildete Orthopäden. Zusätzlich gab es noch fünf Allgemeinchirurgen. In der Morgenbesprechung wurden die über Nacht eingetroffenen Fälle erörtert und das weitere Prozedere festgelegt. Meine Hauptaufgabe bestand in der Beratung zur Therapiewahl und der Kontrolle der Einhaltung der Richtlinien von Ärzte ohne Grenzen, insbesondere der richtigen Antibiotika-Prophylaxe und -Therapie. Auch Fortbildungen führte ich regelmäßig durch. Mit dem Personal wurden insgesamt vier Stationen betrieben, eine große Ambulanz mit 110 Besuchen pro Tag und drei OPs. Wenn jemand fehlte, kam es aber oft vor, dass ich ganz normal im OP eingeteilt wurde.
Konnten Sie sich frei bewegen?
Dr. Gregor Schmeiser: Die Sicherheitsprotokolle, die wir haben, bedeuten, dass die Mitarbeiter das Gelände nur für arbeitsbezogene Aktivitäten verlassen dürfen. Als Chirurg habe ich meine gesamte Arbeit in unserem Traumazentrum verrichtet, sodass ich das Klinikgelände nicht zu verlassen brauchte. Man fährt also vom Flughafen in das Projekt und nach rund zwei Monaten wieder zurück. Der Weg durch die Straßen war schon seltsam. Man sieht praktisch keine Frauen mehr, nur Kinder und Männer.
Dürfen Frauen im Trauma-Center arbeiten?
Dr. Gregor Schmeiser: Zum Glück, ja. Es gibt zwar Beschränkungen für die Arbeit von Frauen, aber eine Ausnahmeregelung für medizinische Bereiche und Bildungseinrichtungen. Daher können afghanische Kolleginnen weiterhin mit Ärzte ohne Grenzen zusammenarbeiten. Diese Regelung ist für unser Team entscheidend, weil wir so die medizinische Versorgung aufrechterhalten können. Da jedoch der Zugang zu höherer Bildung für Frauen und Mädchen eingeschränkt ist, sind wir sehr besorgt über die negativen Folgen, die dies auf die Verfügbarkeit von weiblichem Gesundheitspersonal in Zukunft haben könnte.
Ist die Behandlung nach Geschlechtern getrennt?
Dr. Gregor Schmeiser: Es gibt auch für die Pflege mehrere ausländische Supervisor-Positionen, ansonsten besitzen alle anderen die afghanische Staatsbürgerschaft. Außer im OP, der Notaufnahme und auf der Intensivstation wird eine Geschlechtertrennung in der Pflege sehr strikt eingehalten. Frauen und Kinder werden von weiblichen Pflegekräften betreut, Männer von männlichen. Ärzte ohne Grenzen behält sich aber das Recht vor zu arbeiten, wie es notwendig ist.
Können Sie das Gelände und Ihre Unterbringung schildern?
Dr. Gregor Schmeiser: Das Trauma-Zentrum in Kundus wurde im Jahr 2015 bei der Bombardierung durch die US-Streitkräfte zerstört. Nach diesem Ereignis brauchte Ärzte ohne Grenzen Jahre, um eine Struktur zu schaffen, mit der die Arbeit fortgesetzt werden konnte. Das Trauma-Zentrum besteht aus einem Operationssaal und der Intensivstation sowie vier großen, zeltartigen Metallkonstruktionen. Eine davon ist für die Notaufnahme und drei für die Krankenstationen, die jeweils Platz für fast zwanzig Patientinnen und Patienten bieten. Das Gästehaus für die internationalen Mitarbeitenden befindet sich auf dem Gelände, sodass wir das Krankenhaus bei medizinischen Notfällen oder Operationen zu jeder Tages- und Nachtzeit aufsuchen können.
Wie viel Ärztinnen und Ärzte arbeiten dort?
Dr. Gregor Schmeiser: Aktuell sind drei bis vier ausländische Ärzte und Ärztinnen vor Ort: Anästhesie, Allgemeinchirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie – das war meine Position – und ein Supervisor für die Intensivstation und Notaufnahme.
Können Sie Fallbeispiele schildern?
Dr. Gregor Schmeiser: Im Jahr 2022 gab es den dramatischen Fall eines 12-Jährigen, der eine Kalaschnikow auf dem Feld gefunden hatte. Er wollte sie stolz mit nach Hause nehmen, trat aber auf dem Heimweg aus Versehen in die Schlaufe. Es löste sich ein Schuss, der eine schwere Durchschuss-Wunde mit Austritt im hinteren Schulterbereich mit Zerstörung des Schulterblatts verursachte. Bei dem großen Weichteilschaden hatte ich anfangs die Befürchtung, dass ohne plastische Deckung keine Heilung möglich ist. Tatsächlich aber hatten wir ihn innerhalb von drei Wochen so weit wundkonditioniert, dass wir die Wunde verschließen konnten und er keinen Infekt davontrug. Das sind Erlebnisse, die schon nahegehen.
Noch ein Beispiel?
Dr. Gregor Schmeiser: Da war ein Fünfjähriger, der eine Handgranate gefunden hatte. Er hob sie hoch und wollte sie offensichtlich gerade seinen Spielkameraden zeigen, als sie explodierte und ihm die linke Hand abriss. Zudem gehen diese Waffen immer mit Splitterstreuung einher. Bei dem Jungen kamen daher beidseitig offene Beinbrüche, auf der anderen Armseite eine Daumen-Amputation und schwere Hals- und Gesichtsverletzungen mit Verlust eines Auges hinzu. Er erreichte uns mit einem HB von unter vier. Glücklicherweise war gerade Dienstübergabe am Nachmittag um fünf Uhr. Daher hatten wir drei Ärzte zur Verfügung sowie zwei OP-Teams und konnten ihn retten. Er wurde nach sechs Wochen entlassen, natürlich nicht besonders glücklich mit nur noch einer Hand und einem Auge, aber er hat überlebt.
Wie ist die Ausstattung? Ist alles da oder muss man auch improvisieren?
Dr. Gregor Schmeiser: Die Krankenhäuser von Ärzte ohne Grenzen sind relativ standardisiert ausgestattet. Im Grunde ist alles für die Chirurgie Notwendige vorhanden. Allerdings kommt es immer mal wieder zu Lieferschwierigkeiten und Engpässen. Das betrifft ganz profane Dinge wie Antibiotika, aber auch Nahtmaterial. Dann muss man improvisieren und hat halt nicht jeden Faden zur Verfügung, den man gerne nehmen würde.
Wie konnten Sie als Arzt für spinale Chirurgie da helfen?
Dr. Gregor Schmeiser: Ich bin dort ganz Unfallchirurg. Es geht um reine Akutversorgung. Jede Nacht wurden mindestens zwei, drei offene Brüche aufgenommen. Im Vordergrund stehen dann die Stabilisierung und Wundbehandlung. Das ist das Haupttagewerk.
Was lernt man dabei als deutscher Arzt?
Dr. Gregor Schmeiser: Mich beeindruckte, wie gut die Chirurgie in Gegenden mit derartigen Ressourcenbeschränkungen funktionieren kann. Es muss nicht immer Hightech-Medizin sein. Man kann mit simplen Mitteln Erstaunliches erreichen und den Menschen hervorragend helfen. Ich wurde dort wieder darauf zurückgeworfen, was es bedeutet, einen Menschen mit einfachen Mitteln, dafür aber essenziell zu behandeln und trotz begrenzter Mittel und schwerer Verletzungen die bestmögliche Versorgung zu gewährleisten. Das gilt vor allem, wenn man, wie ich, in einem elektiven Gebiet wie der spinalen Chirurgie zuhause ist. Zum Beispiel hatten wir einen 18-jährigen, der von einem Traktor überrollt worden war. Sieben Stunden später erreichte er mit der Rikscha im Volumenmangelschock unsere Klinik und verstarb auf der Intensivstation. Dem konnten wir hier nicht mehr helfen. Man lernt wieder zu akzeptieren, dass es irgendwann nicht mehr in unserer Macht steht, Leben zu retten.
Warum ausgerechnet Afghanistan? Und geht’s bald wieder los?
Dr. Gregor Schmeiser: Bei Ärzte ohne Grenzen wird Ihnen eine Einsatzoption angeboten, die die Fähigkeiten eines Menschen mit dem Bedarf in einem bestimmten Land in Einklang bringt. Nachdem man Informationen über das Projekt und die Sicherheitslage erhalten hat, kann man entscheiden, ob man den Vertrag annimmt oder nicht. Als Chirurg werden mir in der Regel allgemeine oder kriegschirurgische Projekte angeboten. Ärzte ohne Grenzen betreut weltweit nicht so viele Projekte auf unfallchirurgisch-orthopädischem Fachgebiet. Einige dieser Projekte sind in Afghanistan, Haiti, im Jemen und Sudan. Ich denke, ich bin nächstes Jahr wieder unterwegs, erfahre das aber frühestens vier Monate vorher.
Was macht Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan?
In Afghanistan arbeiten mehr als 3.500 Menschen für Ärzte ohne Grenzen, die meisten davon sind lokal angestellte Mitarbeitende. Mit verschiedenen Projekten versucht die Hilfsorganisation den hohen Bedarf an medizinischer Versorgung zu decken.
Detaillierte Informationen zur Arbeit in Afghanistan finden Sie auf der Website:
www.aerzte-ohne-grenzen.de/unsere-arbeit/einsatzlaender/afghanistan