Arbeiten in der forensischen Psychiatrie: Ein Job für mich?

17 Juli, 2024 - 07:03
Gerti Keller
Eingang zur Forensik der LVR Viersen
Eingang zur Forensik der LVR Viersen

Braucht man dafür starke Nerven? Wie steht es um die Sicherheit? Und kann man dabei auch als Gutachter tätig sein? Der erfahrene forensische Psychiater Dr. David Strahl erzählt aus seinem Berufsalltag als Chefarzt der Abteilung Forensik 2 der LVR-Klinik Viersen.

Herr Dr. Strahl, was sollten junge Ärztinnen und Ärzte mit Interesse für die forensische Psychiatrie mitbringen?

Dr. David Strahl: Entscheidend ist das Interesse am Menschen. Das hört sich zwar ein bisschen allgemein an, ist aber tatsächlich das Wichtigste. Wir betreuen unsere Patienten über einen langen Zeitraum in ihrer Gesamtheit – und begleiten alle Krisen, die derjenige durchlebt. Außerdem haben wir mit den Angehörigen zu tun, möglicherweise mit Kindern. Manchmal kommen auch Erschütterungen von außen dazu, beispielsweise wenn Verwandte sterben. Aber es gibt hier auch schöne Erlebnisse, wie Taufen und Firmungen, dann kommt sogar der Bischof. Wir sind wirklich mit allen Facetten des Menschseins beschäftigt.

Was sind die richtigen Schritte, um diese Richtung einzuschlagen?

Dr. David Strahl: Ich kann dem interessierten Nachwuchs nur empfehlen, schon einmal im Studium in einer solchen Klinik zu hospitieren oder zu famulieren. Einfach reinschnuppern, denn so etwas wie unser Tagewerk bekommt man an der Uni in der Regel nicht zu sehen und nicht beigebracht. Wer sich dafür entscheidet, braucht neben der Facharztausbildung für Psychiatrie den Zusatz forensische Psychiatrie. Das dauert drei Jahre. Ein Jahr kann man während der Facharztausbildung absolvieren, zwei im Anschluss. Dieser Schwerpunkt empfiehlt sich für alle, die das auch als Lebensaufgabe sehen sowie Gutachter in diesem Bereich werden wollen. Ansonsten ist es auch möglich, als Facharzt für Psychiatrie oder Psychotherapie in der Forensik zu arbeiten.

Welche Belastungen erwarten mich? Das ist schon harter Tobak, oder?

Dr. David Strahl: Natürlich gibt es Geschichten, die einen mitnehmen. Wir in der Forensik 2 in Viersen behandeln psychisch Kranke, von denen viele sexuelle Straftaten begangen haben. Damit habe ich jeden Tag zu tun. Wir schauen teilweise in seelische Abgründe, in ganz belastende und schwierige Situationen. Darüber kann und sollte man sich mit Kolleginnen und Kollegen austauschen. Auch professionelle Supervision ist hilfreich. Zudem kann man Patienten untereinander abgeben. Allerdings kommt die psychotherapeutische Therapie aufgrund der ganzen Zusatzaufgaben – wie der Kooperation mit Gerichten – relativ kurz.

Welcher Fall ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Dr. David Strahl: Da gibt es eine Menge, ich bin ja schon fast 20 Jahre dabei. Aber ein besonders tragischer Fall sticht hervor. Dieser Patient war in seiner Biografie sehr erfolgreich, hat es bis zum Handwerksmeister gebracht und dann eine bipolare Störung entwickelt. Hierbei wechseln die Betroffenen zwischen zwei Extremen, einerseits tiefer Depression mit großer Traurigkeit und Antriebslosigkeit, andererseits manischen Phasen, in denen sie völlig überdreht sind. Dann denken sie, sie könnten alles schaffen und greifen auch andere an, die sie begrenzen wollen. Im Verlauf verlor dieser Mann seinen Job, glitt ab in die Obdachlosigkeit und saß irgendwann depressiv in einem Abbruchhaus. Weil es kalt war, hat er dort ein Feuer gemacht, das auf das Haus übergriff.

Inwieweit konnten Sie ihm helfen?

Dr. David Strahl: Die Erkrankung war bei ihm so chronifiziert und schwer, dass er jahrelang überhaupt nicht mit uns gesprochen hat. Manche Krankheitsbilder sind so schwierig zu behandeln, dass solche Patienten viele Jahre bei uns bleiben. Wir begleiten sie in all diesen Phasen, auch in der Hoffnungslosigkeit und der Trauer, die sie haben, weil es ihnen so schlecht geht. Denn in guten Phasen leiden sie auch sehr darunter. Gleichzeitig müssen wir in diesen getriebenen Phasen in Konfrontation mit ihnen gehen. Sein Schicksal hat mich schon sehr mitgenommen. Das ist einfach eine Erkrankung, die nicht in der Biografie liegt, sondern letztlich jeden von uns treffen kann.

Können Sie manche heilen?  

Dr. David Strahl: Es handelt sich um chronische Erkrankungen. Gerade die schweren Störungen sind in der Regel nicht heilbar. Auch waren die Patienten häufig schon vorher in Behandlung. Wir können sie nur medikamentös und therapeutisch gut einstellen und unterstützen – und das dann auch nach draußen übertragen und erproben. Es geht nicht nur darum, dass sie hier im geschützten Raum zurechtkommen, sondern sie sollten irgendwann in der Gesellschaft gut leben und keine Straftaten mehr begehen. Das ist wie bei vielen anderen chronischen Krankheiten. Mit denen muss man lernen, umzugehen. Ihnen dies zu ermöglichen, ist unsere Aufgabe.

Wenn ein Arzt oder eine Ärztin bei Ihnen neu anfängt, wie viele Männer betreut sie/er bei Ihnen? Und wie steht es um Nachtdienste?

Dr. David Strahl: Wir behandeln rund 100 ausschließlich männliche Patienten und haben für eine Vollzeitkraft ungefähr einen Schlüssel von 1:9 oder 1:10. Die meisten Therapeutinnen und Therapeuten haben einen ganz normalen Acht-Stunden-Tag – im Gegensatz zum Pflege- und Erziehungsdienst. Diese Kolleginnen und Kollegen, mit denen wir eng zusammenarbeiten, stehen rund um die Uhr in Kontakt zu den Untergebrachten. Bei uns gibt’s zwei Ärzte im Dauerdienst, die jede Menge Nachtdienste übernehmen, so dass bei uns für neue Kolleginnen oder Kollegen etwa zwei bis drei Nachtdienste im Monat anfallen.

Wie ist das Geschlechterverhältnis?

Dr. David Strahl: Tatsächlich arbeiten um mich herum überwiegend Frauen sowohl unter den Ärzten und Psychologen als auch im Sozial-, Pflege und Erziehungsdienst – und ich bin wirklich froh darüber. Ich finde Frauen führen auf der Station zu einer ruhigeren Grundstimmung, als wenn es hier nur Männer gäbe.

Wie steht es um die Sicherheit in der Klinik?

Dr. David Strahl: Es gibt kein Sicherheitspersonal. Die Patienten dürfen sich auf den Stationen frei bewegen. Allerdings wird großer Wert auf die Außensicherung gelegt. Wir haben bei uns im Neubau um den hochgesicherten Bereich keinen Stacheldraht, sondern eine mehr als fünf Meter hohe Mauer. Mit zunehmender innerer Sicherheit der Patienten – also, wenn sie ihre Impulse besser steuern können – wird die äußere Sicherheit schrittweise zurückgefahren. Irgendwann gehen sie dann auf eine Station, die zwar noch einen Zaun besitzt und vielleicht auch noch Stacheldraht, aber keine ganz hohe Mauer mehr. Zudem ist es bei uns generell etwas wohnlicher als in einer JVA. Die Umgebung soll förderlich für die Genesung sein, wie in somatischen Krankenhäusern. Natürlich steht das immer unter der Prämisse der Sicherheit, gefährliche Gegenstände befinden sich in der Einrichtung nicht.

Kann das nicht trotzdem mal brenzlig werden?

Dr. David Strahl: Weil wir die Patienten rund um die Uhr und jahrelang begleiten, bekommen wir frühzeitig mit, wenn sich ihr Zustand verschlechtert. Insgesamt ist es ja auch eine andere Umgebung als draußen. Neu Eingelieferte haben gerade am Anfang wenig Belastungen, wir stellen geringe Anforderungen an sie. Das steigert sich erst mit der zunehmenden Behandlung. Nichtsdestotrotz ist es so, dass manche durchaus mal laut werden oder aggressiv reagieren. Unser Vorteil ist ein hoher Personalschlüssel, es befinden sich viele Mitarbeitende auf der Station. Es kommen sofort mehrere Kolleginnen und Kollegen, die alle deeskalierend auf ihn einwirken. Und wir reagieren einfach anders, als es draußen auf der Straße der Fall wäre. Wir versuchen auf ihn einzugehen, sodass die Aggression gar nicht hochkommt und er sich wieder beruhigt. Dafür gibt’s Schulungen. Ist jedoch akut zu erwarten, dass es zu Übergriffen kommt, stehen besonders gesicherte Räume bereit. Ansonsten verfügen wir über einen Notfallknopf, der aber sehr selten betätigt wird.

Sind Sie auch als Gutachter tätig?

Dr. David Strahl: Ja. Fürs Gericht untersuche ich Angeklagte, ob sie ihre Straftat begangen haben, weil sie psychisch krank sind und eine Therapie brauchen. Zudem werden alle Untergebrachten im Rhythmus von drei Jahren von einem externen Gutachter untersucht, der diese Menschen nicht kennt. Auch das übernehme ich für andere Kliniken. Ich beurteile den Verlauf, schätze die Gefährlichkeit ein und überlege, was man vielleicht noch machen könnte, damit die Behandlung besser voranschreitet. Das Gericht hört den Untergebrachten dann auch noch einmal an. Im Endeffekt entscheidet immer die Justiz, ob die Unterbringung fortdauert.

Wie viele Untergebrachte gibt es eigentlich – und wie hoch ist der Frauenanteil?

Dr. David Strahl: In Deutschland sind es insgesamt rund 13.000. Im Rheinland waren am 1. Juni 2024 mehr als 1.500 forensische Patientinnen und Patienten stationär in den LVR-Kliniken untergebracht, über 400 weitere lebten bereits selbständig außerhalb unserer Kliniken. Der Anteil der Frauen liegt bei unter zehn Prozent.

Gibt es Menschen, die für immer bei Ihnen bleiben?

Dr. David Strahl: Laut Gesetz muss die Zeit der Unterbringung im Verhältnis zur Straftat stehen – und die ist irgendwann abgegolten. Wenn jemand aber gefährlich bleibt, kann er nicht entlassen werden. Der Verbleib in einem psychiatrischen Krankenhaus ist daher unbefristet. Das kann lebenslang bedeuten, manche versterben hier.

Gibt es das Böse?

Dr. David Strahl: Dazu passt ein Zitat des Schriftstellers Alexander Solschenizyn: „Die Linie, die Gute und Böse trennt, verläuft nicht zwischen Klassen und Parteien, sondern quer durch jedes Menschenherz.“ Und er hat recht. Mir ist bewusst, dass letztlich fast alle zu Bösem fähig sind, die Frage ist nur wie weit das geht. Die meisten haben das Böse im Griff, können es gut kompensieren oder steuern. Doch bei manchen, da schlägt das Böse mehr durch – warum auch immer, ob wegen Veranlagung, Gesellschaft oder Krankheit. Es gab schon Schlüsselmomente in meiner Karriere, in denen ich bemerkte, dass Menschen mit ganz massiven Gewaltfantasien Luftlinie keine 200 Meter weit weg von mir wohnten, wo ich es niemals erwartet hätte.

Wie finden Sie Abstand?

Dr. David Strahl: Es ist wichtig, sich fachlich innerhalb der Klinik und im Kollegenkreis auszutauschen, um gedanklich aus besonders belastenden Situationen herauszukommen. Und natürlich muss man versuchen, außerhalb einen Ausgleich zu finden. Ich bin viel an der frischen Luft, habe einen ziemlich großen Garten, da gibt's eigentlich immer was zu tun. Damit kann ich mich gut beschäftigen und immer gut abschalten.

Der Experte

Dr. David Strahl

Dr. David Strahl ist Facharzt für Neurologie, Nervenheilkunde, Psychiatrie und Psychotherapie, Schwerpunktbezeichnung forensische Psychiatrie. Er ist Chefarzt in der Abteilung Forensik 2 der LVR-Klinik Viersen mit jugendforensischem Schwerpunkt.

Bild: © LVR-Klinik Viersen

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