Arbeiten in der Rechtsmedizin: Prof. Marcel Verhoff berichtet

14 Dezember, 2022 - 07:17
Gerti Keller
Experte im Gespräch: Prof. Marcel Verhoff
Prof. Marcel Verhoff, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Frankfurt am Main

Obduktionen, Gutachten, Mordprozesse: Was machen Rechtsmediziner und -medizinerinnen eigentlich den ganzen Tag? Was ist Routine, was echt spannend? Und: Haben sie auch Zeitdruck? Prof. Marcel Verhoff, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Frankfurt am Main, berichtet aus der Praxis.

Herr Prof. Verhoff, wie sieht Ihr Alltag aus? Was zeigt das Fernsehen nicht?

Prof. Marcel Verhoff: Das Fernsehen zeigt natürlich nur teilweise die Realität. In Krimis werden allein die spannenden Momente inszeniert. Auch den Kommissar sieht man dort nie bei der Aktenarbeit – und die nimmt schon einen gewissen Anteil im Polizei- sowie im rechtsmedizinischen Alltag ein. Wir lesen ebenfalls Polizeiberichte, bekommen ganze Ermittlungs- und Prozessakten und müssen die aus unserer medizinischen Sicht auswerten. Das mag auf den ersten Blick langweilig erscheinen, doch darin geht es um hochrelevante Inhalte. Ebenso nimmt das Verfassen von Gutachten einen recht großen Anteil unserer Aufgaben ein, und zwar mit Bezug zu den Untersuchungen, die wir vorgenommen haben, aber auch ohne. Wir werden manchmal rein aufgrund der Aktenlage zu Verletzungsmöglichkeiten befragt – und können sogar als Sachverständige an Mordprozessen beteiligt sein, obwohl nie eine Leiche gefunden wurde.

Wann „landet“ ein Toter bei Ihnen?

Prof. Marcel Verhoff: Wir führen pro Jahr um die 900 Obduktionen durch, meistens gerichtliche Leichenöffnungen. Damit es dazu kommt, muss jedoch einiges vorher passieren: Heißt, die Polizei ist involviert und es besteht ein Anfangsverdacht. Das wird üblicherweise in Gang gesetzt, wenn ein Arzt, eine Ärztin bei der normalen Leichenschau ungeklärte oder nicht natürliche Todesart ankreuzt. Daraufhin beginnt das Todesermittlungsverfahren. Weitere Auslöser sind: Es stinkt aus der Nachbarwohnung, dann handelt es sich um sogenannte Wohnungsleichen, oder es wurde ein Toter im Freien gefunden. Dann ruft man ja nicht den Hausarzt, sondern direkt die Polizei.

Was geschieht dann?

Prof. Marcel Verhoff: Zunächst ist der Leichnam beschlagnahmt. Die Staatsanwaltschaft überwacht als Herrin des Verfahrens den Vorgang und muss nach Abschluss der ersten Ergebnisse bestimmen, ob die Ermittlungen eingestellt werden oder nicht. Da geht es nicht um die Todesursache, sondern nur darum, ob ein Fremdverschulden möglich ist. Wenn ja, wird beim Amtsgericht ein Beschluss für eine gerichtliche Leichenöffnung beantragt. Deren Mindestumfang ist nach der Strafprozessordnung festgelegt: die drei Körperhöhlen – Kopf-, Brust- und Bauchhöhle – sind zu öffnen. Zudem müssen immer zwei Ärzte dabei sein. Das Ganze geht im Eilverfahren allerdings schneller. So kann es sein, dass wir bei einer klar erkennbaren Tötung noch in der Nacht an den Leichenfundort gerufen werden und zwei Stunden später mit der Obduktion beginnen. 

Haben Sie auch andere Auftraggeber?

Prof. Marcel Verhoff: Ja, es gibt einige weitere Sektionsanlässe und -arten, wofür allerdings nur ein Arzt nötig ist. Die häufigste ist die klinische Sektion, die eigentlich in der Pathologie durchgeführt werden sollte. Doch das wird in den letzten Jahren kaum noch gemacht. Manche Krankenhäuser haben gar keine eigene Pathologie mehr oder die Pathologen sezieren nicht. Deswegen führen wir das vereinzelt durch, wenn Kliniken die Todesursache wissen wollen. Darüber hinaus ist die Privatsektion möglich. Direkte Angehörige können, unabhängig davon ob der Tote im Krankenhaus verstorben ist oder zu Hause, auf eigene Kosten eine Obduktion in Auftrag geben. Dazu kommt es manchmal nach einem Todesermittlungsverfahren, wenn die Staatsanwaltschaft keinen Hinweis auf Fremdverschulden gesehen hat. Daneben gibt es noch versicherungsmedizinischen Sektionen. Diese können Lebensversicherer oder Berufsgenossenschaften auf eigene Kosten veranlassen, wenn bestimmte Todesursachen eventuell einen Leistungsausschluss ergeben. Angehörige dürfen die Zustimmung verweigern, was aber schlimmstenfalls zum Verlust des Leistungsanspruchs führt. Ein weiterer Anlass wäre noch die Sektion nach dem Infektionsschutzgesetz, die der Amtsarzt anordnet, wogegen sich die Angehörigen nicht wehren können. Das hat aber in den letzten Jahren so gut wie nie stattgefunden, selbst in der Coronapandemie erstaunlicherweise nicht. All dies ist im Vergleich zu den gerichtlichen Leichenöffnungen aber relativ selten.

Sie verbringen aber nicht nur mit Toten Zeit, sondern auch mit lebenden Opfern…

Prof. Marcel Verhoff: Natürlich! Wir haben pro Jahr um die 300 bis 400 klinische Untersuchungen von Erwachsenen und Kindern. Denn auch lebende Verletzte gehören seit jeher ins Aufgabengebiet der Rechtsmedizin. Körperverletzungen ohne Todesfolge sind schließlich ebenfalls eine Straftat. Unsere Aufgabe ist es, die Verletzungen so detailliert und neutral wie möglich aufzunehmen, um daraus Schlussfolgerungen auf den Tathergang zu ziehen. Was ich aber nicht besonders mag, sind Begriffe wie Opferschutz-Ambulanz. Damit wird bereits von vornherein eine Rolle festgelegt. Ich spreche lieber von Verletzten. Denn es kann sich herausstellen, dass der vermeintliche Täter das Opfer ist. Deswegen ist es auch so wichtig, möglichst alle Beteiligten einer körperlichen Auseinandersetzung zu untersuchen. So kommt es manchmal bei einer Tötung vor, dass wir die Obduktion durchführen und den Tatverdächtigen unter die Lupe nehmen.

Werden Sie ins Krankenhaus oder auf die Polizeistation gerufen? Kommen die Verletzten auch zu Ihnen?

Prof. Marcel Verhoff: Das ist alles möglich. Wir gehen in Krankenhäuser, in Gewahrsamszellen ins Gefängnis oder untersuchen Verletzte bei uns im Haus. Bei Vergewaltigungen kommt noch einiges an Aufwand dazu, wie Probenentnahmen. Hier gehört es zu unseren Aufgaben, diese Abstriche weiter zu untersuchen, ob Spermien sichtbar sind, aber auch DNA-Analysen durchzuführen. Letztere ist generell oft wichtig, auch bei Schlägereien. Denn wenn jemand Blut am Körper hat, könnte es eben die DNA einer anderen Person sein. Wichtig ist zudem die Blutentnahme, gegebenenfalls ebenso von Urin, um eine Fremdstoffbeeinträchtigung des Opfers oder des Täters festzustellen. Beim Opfer geht es dabei um die Frage, ob es möglicherweise wehrlos war, was einen Einfluss auf das Strafmaß hat. Denn wer sich an einem wehrlosen Menschen vergeht, wird härter bestraft. Erst recht, wenn man das Opfer in eine wehrlose Situation gebracht hat, zum Beispiel durch K.-o.-Mittel. Für den Täter wiederum ist entscheidend, ob dieser vielleicht nicht schuldfähig war. Wobei man nicht glauben darf, dass man ungeschoren davonkommt, weil man sich betrunken oder mit Drogen zugedröhnt hat. Dann wird man eben für eine sogenannte Rausch-Tat bestraft, also dafür, dass man sich in diesen Zustand gebracht hat. Und dieses Strafmaß entspricht dem der eigentlichen Tat. Aber es gibt Fälle, in denen jemand unverschuldet in einen Rauschzustand geraten ist und dann nicht bestraft werden kann. Das alles herauszufinden, sind Themen der Rechtsmedizin.

Wie oft sind Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen im Gericht?

Prof. Marcel Verhoff: Wir sind täglich in verschiedenen Verfahren als Sachverständige dabei – typischerweise bei den Fällen, die man selbst bearbeitet hat; zum Beispiel, wenn ich einen Verletzten untersucht habe, und anschließend gibt es ein Verfahren wegen Körperverletzung. Wir sind auch oft im Gerichtssaal, wenn es um Alkohol oder Drogen geht und folglich um Fahrtüchtigkeit und Schuldfähigkeit. Seltener sind Tötungs- und Mordprozesse.

Wie funktioniert das Zusammenspiel von medizinischen Untersuchungen und Ermittlungen. Sprechen Sie auch mit den Beteiligten?

Prof. Marcel Verhoff: Ja und nein. Das ist oft ein Puzzle. Wir bekommen unsere Aufträge in verschiedenen Phasen. Nach der Obduktion verfassen wir teilweise weitere Gutachten zu bestimmten Fragen: Ist ein Suizid möglich? Ist ein bestimmter Ablauf vorstellbar? Das können Verkehrsunfälle sein, die rekonstruiert werden oder wo dann noch das technische Sachverständigengutachten mit einbezogen werden muss und so weiter. Häufig erstellen wir zudem zum Schluss eine Art zusammenfassendes Gutachten. Im Prozess wiederum kommt als Besonderheit dazu, dass wir als Sachverständige die Zeugen und Beteiligten selbst befragen dürfen. Das finde ich super spannend. Denn dadurch hat man noch die Chance, Informationen zu bekommen, die man unbedingt braucht, nach denen aber zuvor nie jemand gefragt hat.

Was gehört noch zu Ihren Aufgaben?

Prof. Marcel Verhoff: Wir führen pro Tag etwas mehr als 100 zweite Leichenschauen in verschiedenen Krematorien durch, was sich mehrere Kolleginnen und Kollegen teilen. Diese muss in Deutschland vor jeder Feuerbestattung erfolgen, außer in Bayern, wo es wohl auch wieder eingeführt wird. Das darf aber nicht jeder Arzt, je nach Bundesland ist das unterschiedlich geregelt. Hier in Hessen ist die Rechtsmedizin zuständig. Normalerweise haben wir drei verschiedene Krematoriums-Dienste am Tag. Außerdem machen wir vor Auslandstransporten eine zweite Leichenschau im Haus. Auch führen wir pro Jahr etwa 800 primäre „normale“ erste Leichenschauen durch. Das ist aber eine besondere Vereinbarung mit der Stadt Frankfurt, dass wir Leichen auch ohne Anfangsverdacht untersuchen, wenn die Polizei dazu gerufen wurde.

Wie lange dauert eine Routine-Obduktion? Und wie lange hat der längste Fall Sie beschäftigt?

Prof. Marcel Verhoff: Eine normale Obduktion dauert vielleicht so um die zweieinhalb Stunden. Aber es gibt welche, für die man acht oder zehn Stunden braucht. Zum Beispiel, wenn zahlreiche Schüsse oder Stiche vorliegen, die einzeln dokumentiert und vermessen werden müssen. Dann geht es vielleicht auch darum, ob verschiedene Waffen eingesetzt wurden. Wie lange man insgesamt pro Fall beschäftigt ist, lässt sich ganz schwer sagen. Es kommen manchmal noch Erkenntnisse und Nachfragen hinterher oder es werden Ergänzungs-Gutachten beauftragt. Was den kalendarischen Zeitaufwand betrifft, inklusive der Gerichtsverfahren, kann es sein, dass man für einen Fall schlimmstenfalls ein Jahr lang immer mal wieder einen Tag ins Gericht muss.

Wie berechenbar ist die Arbeit?

Prof. Marcel Verhoff: Das kommt auch auf die Größe des Instituts an. Die kleineren sind mit vier bis fünf Ärztinnen und Ärzten besetzt, bei den größeren geht es ab zehn bis zwölf los und die größten, wie wir in Frankfurt, haben dann 20 oder noch mehr. Und je größer ein Institut ist, desto eher existieren klare Dienstpläne, die alles ein bisschen aufteilen in Sektions-, Untersuchungs- oder Leichenschaudienst, und es gibt klare Zuweisungen. Während in einem kleineren Institut mal eine Obduktion ansteht, mal eine klinische Untersuchung und mal eine Fahrt zu Gericht. 

Gibt’s auch Zeitdruck wie in der Klinik? Wie sind die Dienste geregelt?

Prof. Marcel Verhoff: Bei uns sind immer zwei Ärztinnen oder Ärzte rund um die Uhr in Bereitschaft. Und in Frankfurt passiert eigentlich in jedem Dienst irgendetwas. Ansonsten heißt es eher selten, du musst jetzt sofort da und dorthin kommen. Klar muss man manchmal schon zum Tatort eilen und es herrscht kurzfristiger Zeitdruck, vor allem auch, wenn sich zu viel anhäuft, aber an sich hat man in der Rechtsmedizin – und das ist das Schöne – meist doch eine sehr freie Zeiteinteilung. Insgesamt ist es so, dass es den typischen Arbeitsalltag bei uns nicht gibt. Ich habe in meinem ganzen Berufsleben nicht einen Tag erlebt, der genauso war wie ein anderer. Das liegt an der großen Vielseitigkeit unserer Disziplin.

Der Experte

Seit 2013 ist Marcel A. Verhoff Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Frankfurt am Main, einem der größten Institute Europas. 2007 wurde er mit dem Konrad-Händel-Stiftungspreis ausgezeichnet. Er berät bekannte Krimi- und Drehbuchautoren und war Experte bei der TV-Serie „Medical Detectives“. Seit 2020 veröffentlicht er mit Vanessa Nischik den Podcast Rechtsmedizin – Dichtung und Wahrheit.

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