
In der Abteilung Forensik 2 der LVR-Klinik Viersen kümmert sich Chefarzt Dr. David Strahl um rund 100 hochgefährliche Männer. Wer sind seine Patienten? Wie wird behandelt? Und was ist das Ziel? Der erfahrene forensische Psychiater berichtet.
Herr Dr. Strahl: Welche Fälle kommen zu Ihnen? „Platt gefragt“, sind das alles Mörder, Vergewaltiger oder auch Betrüger?
Dr. David Strahl: Das hat der Gesetzgeber recht klar definiert: Das Gericht ordnet die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bei schwerwiegenden Straftaten an, welche die Opfer seelisch oder körperlich ernsthaft schädigen. Sobald Kinder betroffen sind, ist das automatisch schwerwiegend. Es handelt sich also – salopp gesagt – weder um Ohrfeigen oder Schwindeleien, sondern das reicht von schwerer Körperverletzung über Tötung und sexuellem Missbrauch bis zur Brandstiftung.
Was ist der Unterschied zur Unterbringung in einer Justizvollzugsanstalt?
Dr. David Strahl: Bei uns im sogenannten Maßregelvollzug geht es nicht um die Haft als Strafe, die Untergebrachten gelten als schuldunfähig oder vermindert schuldfähig. Im Gegensatz zur JVA dient die Unterbringung hier in erster Linie dazu, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen. Zu unseren Kernaufgaben gehört es, die Gefährlichkeit unserer Patienten einzuschätzen und sie bestmöglich zu behandeln.
Was zählt alles zu Ihren Tätigkeiten?
Dr. David Strahl: Wir kümmern uns um alle Belange, die unsere Patienten betreffen. Diese Menschen sind ja meist sehr lange bei uns, im Durchschnitt neun bis zehn Jahre, manchmal sogar noch länger. Die Palette reicht von sozialen Problemen, die zum Beispiel die Kontakte zur Familie oder Schulden betreffen, über die medizinisch-psychiatrische Therapie bis zu rechtlichen Fragen. Dabei nimmt letzteres, also die Kommunikation mit Rechts- und Staatsanwaltschaft, einen großen Teil unserer Arbeit ein. Einmal im Jahr müssen wir zudem eine Stellungnahme zu den Therapiefortschritten schreiben und diese dem Gericht vorlegen. Im Optimalfall werden die Patienten entlassen, wobei sie von der Klinik über Jahre hinweg auf die Rückkehr in die Gesellschaft vorbereitet werden. Darüber hinaus begleiten wir unter anderem auch die Vermittlung in ein Praktikum oder eine Arbeitsstelle draußen.
Noch mehr?
Dr. David Strahl: Es kommt noch die ganze medizinische Versorgung hinzu, wir sind also ebenso als Hausärztinnen und -ärzte tätig. Denn die Patienten haben natürlich auch die ganz allgemeinen körperlichen Krankheiten. Wir versuchen so gut es geht, diese Behandlung innerhalb der Einrichtung sicherzustellen, um möglichst wenig mit ihnen in Praxen außerhalb fahren zu müssen. Daher ist bei uns auch ein Internist tätig, zudem kommen Haut- und Zahnärzte ins Haus.
Das klingt insgesamt nach viel Teamwork…
Dr. David Strahl: Oh ja. Meine Arbeit ist nicht vergleichbar mit der in einer psychiatrischen niedergelassenen Praxis, wo man vieles allein entscheidet. Bei uns arbeiten verschiedene Berufsgruppen eng zusammen: Neben den juristischen Akteuren sind das Sozial-, Pflege- und Erziehungsdienst plus Ergo-, Bewegungs-, Kunst- und Musiktherapie – und dann natürlich die ganzen Ärztinnen und Ärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, Weiterbildungsassistenten und konsiliarisch Tätige sowie Psychologinnen und Psychologen. Ein großer Teil unseres Alltags dreht sich darum, gemeinsam die beste Lösung für die Patienten zu finden. Dazu haben wir eine feste wöchentliche Teamsitzung. Außerdem finden zu jedem einzelnen Fall spätestens nach einem halben Jahr intensivere Besprechungen statt. Diese dauern mehrere Stunden unter Einbeziehung aller Kolleginnen und Kollegen. Dort überdenken wir unseren Behandlungsplan umfassend und überlegen, ob wir vielleicht andere Wege gehen müssen.
Unter welchen Störungen leiden Ihre Patienten?
Dr. David Strahl: Wir sehen die ganze Bandbreite, dennoch lassen sich drei Hauptgebiete festmachen. Unser Schwerpunkt liegt auf Sexualstraftätern. Die zweite Gruppe sind Schizophrene mit paranoiden Wahnvorstellungen. Und dann gibt es noch die Persönlichkeitsgestörten, die zum Beispiel eine Traumatisierung nach einer frühen Entwicklungsstörung oder durch Verwahrlosung erlitten haben, was zu aggressivem Verhalten geführt hat.
Woraus setzt sich die Behandlung zusammen?
Dr. David Strahl: Sie ist sehr umfassend. Es besteht zum einen aus einer medikamentösen Therapie, falls diese indiziert ist, zum anderen gehört Psychotherapie dazu. Die Untergebrachten erhalten einmal pro Woche ein einstündiges Einzelgespräch. Zusätzlich gibt’s störungsspezifische Gruppen, wie zum Thema Sucht oder deliktspezifische für Gewalt- oder Sexualstraftäter sowie verschiedene Trainings etwa zur sozialen Kompetenz.
Was passiert in den störungsspezifischen Gruppen?
Dr. David Strahl: In der Suchtgruppe wird erarbeitet, wie es zu der Abhängigkeit kam, welche Funktion diese hat und wie sich das bewältigen lässt. Bei den Gewalt- oder Sexualstraftätern geht es darum, warum jemand aggressiv geworden ist und wie er anders damit umgehen kann. Vergleichbare Situationen werden in Rollenspielen simuliert. Dabei profitiert der Rest der Gruppe auch vom Beobachten, in dem sie sehen, wie andere in solchen Situationen reagieren. Überhaupt erschrecken viele, wenn ihnen ihre eigene Reaktion demonstriert wird. Zudem bauen wir kreativ- und pädagogisch-therapeutische Maßnahmen wie Bewegungs-, Arbeits- oder Ergotherapie in die Behandlungspläne ein.
Wie muss man sich die Einzeltherapie vorstellen? Klassisch, mit Aufarbeitung der Kindheit?
Dr. David Strahl: Nur manchmal wird es notwendig, dass wir die Kindheitserlebnisse aufschlüsseln. Der Maßregelvollzug ist letztlich dazu da, das zu behandeln, was denjenigen gefährlich macht – und das kann in ganz unterschiedlichen Lebensabschnitten entstanden sein. Dazu sammeln wir anfangs alle Informationen, die wir nur kriegen können. Hierzu gehört eine ausführliche biografische Anamnese, inklusiver eventueller Vorbefunde, aber auch Informationen aus den Ermittlungs- und Gerichtsakten, sowie Zeugenaussagen und, falls möglich, Gespräche mit Angehörigen. Wir entwickeln anhand dieser sehr umfassenden Recherche eine Delikt-Hypothese, die regelmäßig überprüft wird.
Was heißt das?
Dr. David Strahl: Wir schauen, was genau dazu führte, dass der Untergebrachte die Straftat begangen hat. Neben der Krankheit spielen hierbei manchmal auch andere Faktoren eine Rolle, wie Drogenkonsum oder bestimmte Gelegenheiten. Dann überlegen wir, was als erstes behandelt werden muss. Im Verlauf überprüfen wir immer wieder, ob diese Hypothese dem Patienten hilft. So arbeiten wir uns stückchenweise vor.
Kommt man leicht ans Eingemachte?
Dr. David Strahl: Bei manchen Fällen hat man bereits von Anfang an gute Erfolge. Das gilt zum Beispiel bei Schizophrenen, die mit Medikamenten gut einzustellen sind. Bei Sexualstraftätern und Persönlichkeitsgestörten braucht man in der Regel etwas länger und manchmal auch viele Anläufe mit verschiedenen Methoden. Nur wenige erreichen wir überhaupt nicht.
Erleben Sie persönliche Erfolgsmomente, nach dem Motto „jetzt habe ich ihn geknackt“?
Dr. David Strahl: Ja. Es gibt Durchbrüche bei Patienten, von denen ich gedacht habe „das schaffst du nie“. Manchmal versucht man mit ganz vielen verschiedenen Methoden voranzukommen und irgendwann bringt ein Kollege eine andere Idee mit ein – und auf einmal läuft's. Wir erleben das sogar nach 20 Jahren Stillstand.
Wie gestaltet sich der Weg nach draußen?
Dr. David Strahl: Nach einer gewissen Zeit kann es zunächst Lockerungen geben, wie die Arbeit in der Holzwerkstatt oder der Buchbinderei. Idealerweise absolvieren die Patienten bei uns sogar eine Ausbildung. Dann kommen Ausgänge dazu. Nun folgen zwei Phasen. Zunächst wird der Patient beurlaubt. Er lebt nun in einer Wohngruppe oder einer eigenen Wohnung, ist aber immer noch unser Patient. Wir sorgen dafür, dass er seine Medikamente richtig einnimmt. Er muss regelmäßig hierherkommen oder wir fahren zu ihm. Unter anderem kümmern sich die Mitarbeitenden der forensischen Ambulanzen und der Sozialdienst um die ganzen Anforderungen, die draußen auf ihn zukommen. Wir kontrollieren, ob alles funktioniert. Tatsächlich kennen wir unsere Patienten ja am längsten und besten. Daher können wir in der Regel sehr schnell einschätzen, ob oder wann es wieder kritischer wird und greifen dann frühzeitig ein.
Was passiert in diesem Fall?
Dr. David Strahl: Dann kommt er für ein paar Tage oder längere Zeit wieder zurück. Im Idealfall freiwillig. Das heißt, er merkt selbst, dass er überfordert ist und holt sich Hilfe, anstatt darauf zu warten, dass sich die Krankheit weiter verschlechtert. Das wir jemand fast schon mit Gewalt zurückholen müssen, liegt im einstelligen Prozentbereich.
Und wenn‘s gut klappt?
Dr. David Strahl: Wer nach ein bis zwei Jahren draußen gut zurechtkommt, bekommt die Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt. Die Patienten suchen sich einen niedergelassenen Psychiater und wir sind nur noch für die Nachsorge zuständig. Wir sind dann zwar noch ansprechbar, aber die Frequenz ist deutlich geringer.
Der Experte:
Dr. David Strahl ist Facharzt für Neurologie, Nervenheilkunde Psychiatrie und Psychotherapie, Schwerpunktbezeichnung forensische Psychiatrie. Er ist Chefarzt in der Abteilung Forensik 2 der LVR-Klinik Viersen mit jugendforensischem Schwerpunkt.