Arzt-Patienten-Beziehung: Digitalisierung – mehr Daten, weniger Nähe?

22 Juli, 2025 - 07:08
Dr. med. Matthias Weniger
Arzt in weißem Kittel arbeitet an einem Laptop, umgeben von holografischen medizinischen Symbolen und digitalen Gesundheitsdaten, die moderne Technologie im Gesundheitswesen darstellen.

Mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens verändern sich zentrale Elemente der Arzt-Patienten-Beziehung. Während Diagnostik, Kommunikation und Informationszugang effizienter werden, verschieben sich zugleich die Ebenen der Begegnung.

In Kontakt mit Ärztinnen und Ärzten nutzen Patienten häufiger digitale Gesundheitsdaten, App-Auswertungen oder algorithmusbasierte Verdachtsdiagnosen. Zugleich ist die ärztliche Tätigkeit zunehmend durch technische Schnittstellen geprägt – von der elektronischen Patientenakte über Videosprechstunden bis hin zu KI-gestützten Entscheidungshilfen. All diese Entwicklungen bieten Vorteile in Bezug auf Zugänglichkeit und Transparenz. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie sich die Arzt-Patienten-Beziehung, das Vertrauen und eine gemeinsame Entscheidungsfindung in dieser technisierten Umgebung bewahren lassen, insbesondere wenn Unsicherheit, subjektives Erleben oder psychosoziale Aspekte im Vordergrund stehen.

Digitalisierung als Belastungsfaktor

Digitale Technologien eröffnen neue Möglichkeiten für Diagnose, Verlaufskontrolle und Kommunikation. Gleichzeitig zeigen sich unerwünschte Nebenwirkungen. Für Patientinnen und Patienten kann die Fülle unkommentierter Daten aus Apps oder Onlinerecherchen zu Unsicherheit, Selbstbeobachtung und einem gesteigerten Bedürfnis nach Kontrolle führen. Körperfunktionen werden in Echtzeit verfolgt; Grenzwerte ständig neu bewertet – oft ohne Kontext oder Einordnung.

25.10.2025, German Medicine Net
Zürich
24.10.2025, MVZ Evidence
Hamburg

Auch für Behandelnde entstehen neue Belastungen: Dokumentationspflichten, wechselnde Systeme und die Erwartung ständiger Verfügbarkeit beanspruchen Zeit und Aufmerksamkeit. Gleichzeitig reduziert sich der direkte Austausch – ein zentrales Element für Diagnostik, emotionale Entlastung und Beziehungsaufbau. Diese Entwicklungen zeigen: Digitalisierung ist nicht nur technischer Fortschritt, sondern beeinflusst auch die psychosozialen Dimensionen ärztlicher Versorgung, strukturell, kommunikativ und im Erleben medizinischer Rollen.

Die Arzt-Patienten-Beziehung basiert auf Zuwendung, Vertrauen und dem Austausch auch unausgesprochener Informationen. Digitale Formate verändern diese Dynamik. Videokonsultationen oder asynchrone Kommunikation ermöglichen zwar niedrigschwellige Kontakte, lassen jedoch oft Mimik, Pausen und Zwischentöne vermissen. Zugleich rückt das Verarbeiten objektivierbarer Daten stärker in den Mittelpunkt. Das kann hilfreich sein, etwa bei Verlaufskontrollen, birgt aber die Gefahr, dass das individuelle Krankheitserleben in den Hintergrund gerät. Doch gerade in komplexen Fällen bleibt der Kontext entscheidend. Digitale Mittel können die Versorgung unterstützen, sofern sie die Beziehungsebene nicht ersetzen, sondern bewusst mit ihr verzahnt werden. Entscheidend ist, ob das ärztliche Gespräch auch digital Raum für Vertrauen, Verstehen und gemeinsame Entscheidungen lässt.

Gesundheitsfördernde Digitalisierung

Digitalisierung kann Stress verstärken oder abbauen; sie kann Nähe ersetzen oder neue Formen von Verbindung ermöglichen. Entscheidend ist, wie sie gestaltet wird. Dabei sind drei Prinzipien zentral:

  • Orientierung geben statt Verwirrung schaffen: Ärztinnen und Ärzte sollten digitale Daten gemeinsam mit ihren Patienten einordnen. Ein klarer Rahmen für App-Nutzungen, Messwerte oder Onlinerecherchen kann helfen, Unsicherheiten zu vermeiden. Auch schriftliche Informationen oder kurze Einordnungshilfen vor dem Arztgespräch tragen zur Klarheit bei.
  • Verantwortung teilen statt verlagern: Technik darf nicht zu einem Rückzug aus Verantwortung führen, weder bei Patienten noch im ärztlichen Handeln. Digitale Systeme sollten so eingesetzt werden, dass Entscheidungen nachvollziehbar bleiben. Das bedeutet auch, technische Empfehlungen kritisch zu prüfen und gegebenenfalls zu relativieren.
  • Präsenz unterstützen statt ersetzen: Digitale Formate sollten gezielt eingesetzt werden – als Ergänzung, nicht als Ersatz persönlicher Begegnung. Wo direkte Kommunikation nicht möglich ist, können strukturierte digitale Gesprächsformate oder feste Ansprechpartner Kontinuität schaffen. Wichtig bleibt ein bewusstes Setting – mit definierter Zeit, Aufmerksamkeit und ohne Ablenkung.

Daten im persönlichen und sozialen Kontext

Eine patientenorientierte und stressreduzierende Digitalisierung erfordert nicht zwingend komplexe Systeme oder zusätzliche Ressourcen. Vieles lässt sich bereits im Kleinen mit einer bewussten Kommunikation, Struktur und gezielter Auswahl umsetzen. Digitale Vorerhebungen, etwa mit strukturierten Anamnesebögen, können den Gesprächseinstieg erleichtern, wenn sie als Grundlage für echten Austausch genutzt werden und nicht als Ersatz für das Gespräch selbst. Apps zur Symptomerfassung oder Verlaufskontrolle sind hilfreich, sofern Ärzte und Patienten sie im Kontakt gemeinsam reflektieren. Entscheidend ist, dass Daten nicht isoliert interpretiert werden, sondern im persönlichen und sozialen Kontext stehen.

Auch auf organisatorischer Ebene kann die Digitalisierung entlasten, wenn sie mit realistischen Erwartungen verknüpft ist. Die Einführung asynchroner Kommunikationswege, etwa durch sichere Nachrichtenportale, sollte von klaren Regeln flankiert werden, die Antwortzeiten, Zuständigkeiten und Kommunikationsanlässe definieren. Dies schützt nicht nur die Arbeitszeit, sondern schafft auch für Patienten Verlässlichkeit.

Raum für Reflexion im Team

Nicht zuletzt braucht es Raum für die Reflexion im Team: Welche digitalen Tools unterstützen unsere Arbeit? Wo entsteht zusätzlicher Aufwand? Wie lassen sich diese Spannungen sinnvoll ausgleichen? So verstanden, wird Digitalisierung nicht zum Selbstzweck, sondern zu einem Werkzeug, das das stärkt, worauf gute Versorgung angewiesen ist: Vertrauen, Verstehen und Präsenz.

10.10.2025, Österreichische Gesundheitskasse
Rankweil
10.10.2025, Praxis Dr. Dambach
Kandel

Digitalisierung ist gestaltbar – und damit auch ihre Wirkung auf Beziehung und Gesundheit. Ihre Qualität bemisst sich nicht allein an technischen Standards, sondern an der Art, wie sie in Versorgungskontexte eingebettet wird. Langfristig wird entscheidend sein, ob es gelingt, neue technische Möglichkeiten mit professioneller Haltung, Empathie und Kontextwissen zu verbinden. Zentral für das Vertrauen, das Menschen in medizinische Versorgung setzen, bleibt die ärztliche Präsenz, egal ob diese analog oder digital vermittelt wird.

Dtsch Arztebl 2025; 122(15): [2]

Der Autor:

Dr. med. Matthias Weniger
Ärztlicher Leiter
Institut für Stressmedizin Rhein Ruhr
45525 Hattingen

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