
Wie wirkt sich Corona bei unseren Nachbarn aus, zum Beispiel den Hausärzten in der Schweiz? Innenansichten gibt Eva-Isabel Schmid (36), Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin in einer mediX-Gruppenpraxis in Zürich.
Wie ist die Situation in Ihrer Praxis?
Eva-Isabel Schmid: Mir macht vor allem zu schaffen, dass sich viele Ältere und chronisch Kranke nicht mehr in die Praxis trauen. Das ist Anbetracht des Virus sicher sinnvoll, auf der anderen Seite fällt zu viel von meinem klinischen Alltag weg. Ich wage zu behaupten, dass sich das rächen wird. Denn wenn keine Kontrollen mehr stattfinden, haben diese Patienten in ein paar Monaten vielleicht eine Niereninsuffizienz, einen nicht eingestellten Diabetes oder Wunden, die niemand angeschaut hat. Es gibt noch andere Erkrankungen außer Corona, die auch gefährlich sind, wenn nicht gefährlicher.
Hatten Sie schon schwere Corona-Fälle?
Eva-Isabel Schmid: Einen, und der war wirklich beängstigend. Denn man hätte ihn auch übersehen können. Es handelte sich um einen relativ jungen Mann, Mitte 50, ohne gravierende Vorerkrankungen. Von denen hätte ich gewusst, ich bin schließlich seine Hausärztin. Er litt seit ein paar Tagen unter einem Infekt, sagte aber, das sei nicht so schlimm. Er wäre nur gekommen, weil er seit gestern keinen Appetit mehr habe. Er hatte etwas mehr als 39 Grad Fieber, auf der Lunge hörte ich aber nichts. Wegen Corona maß ich seine Sauerstoffsättigung. Und die war deutlich erniedrigt, zwischen 89 und 92 Prozent. Die Atemfrequenz war erhöht, aber der Patient empfand sich nicht als kurzatmig. Ich veranlasste ein Röntgenbild. Kurz darauf rief meine Sprechstundenhilfe an und sagte: „Ich glaub, ich muss das noch mal machen. Das Bild ist ganz weiß, der hat nicht gut eingeatmet.“ Ich antwortete: „Ich fürchte, das liegt nicht am Röntgenbild. Das ist seine Lunge.“ Ich überwies ihn sofort ins Spital, wo man nun versucht ihm mit dem Malariamittel zu helfen. Das fand ich sehr erschreckend.
Wie reagieren Ihre Patienten auf die Krise?
Eva-Isabel Schmid: Meist mit gesundem Menschenverstand. Wir hatten mit Massen an panischen Patienten gerechnet, die sich – koste es was es wolle – verzweifelte Kämpfe um Abstriche liefern. Doch davon kann keine Rede sein. Zwei Randgruppen fallen aber wirklich auf. Die einen sind völlig „coronahysterisch“, rufen zehnmal hintereinander an und ich muss sie sehr beruhigen. Die anderen sind dagegen „coronablind“. Vor ein paar Tagen brachte eine Patientin ihre über 80-jährige Mutter nach einem Sturz in die Praxis und saß selbst mit Husten und Fieber neben ihr – ohne Mundschutz. Ich bin rausgerannt und habe ihr sofort eine Maske aufgesetzt, sie abgestrichen und aufgeklärt. Der Test war gottseidank negativ.
Wie gestaltet sich der Alltag?
Eva-Isabel Schmid: Unsere MPAs* telefonieren sich die Finger wund: Ob es Corona sein könnte? Warum es Corona sein könnte? Weshalb es genau niemals Corona ist? Und was man am besten macht, wenn sich das ändern sollte. Und warum sie auch nicht wissen, wo man noch Desinfektionsmittel herbekommt. Ich habe ebenfalls den halben Tag Telefonsprechstunde, was politisch auch gewünscht ist. Das Telefon ist mein neues Stethoskop. Meist legen meine Patienten danach zufrieden auf. Offensichtlich reicht ihnen das gesprochene Wort, ein paar klare Ansagen in all der Verwirrung. Ich finde es allerdings gefährlich, wenn alles nur telefonisch läuft. Ich kann mir so kein gutes Bild machen, weil ich die Patienten dafür sehen muss. Je älter sie sind, desto schlechter können sie Symptome beschreiben. Und wenn man der breiten Masse immer nur sagt: "Sie haben Husten und Fieber. Bleiben Sie zuhause, es könnte Corona sein", so ist das eben nur die halbe Wahrheit. Dann fallen beispielsweise bakterielle Lungenentzündungen durchs Raster, die Antibiotika bräuchten. Auf der anderen Seite finde ich es fatal, wenn ich jemand mit starken Schmerzen in die Praxis bestelle, es dann doch nur eine Muskelverspannung ist und es bei uns oder im Bus deswegen vielleicht zu einer Ansteckung kommt.
Welche Schutzmaßnahmen wurden wann in der Praxis ergriffen?
Eva-Isabel Schmid: Ich war Anfang März fünf Tage nicht da, danach war alles anders. Vorher gab es Risikoländer, jetzt waren wir das Risikoland. Hektische MPAs liefen nun mit Desinfektionsmitteln ausgestattet gestresst von A nach B, um alles abzuwischen. Egal was. Jetzt haben wir eine Glasscheibe am Empfang, jeder trägt Mundschutz. Corona-Abstriche werden draußen an der frischen Luft gemacht. Es gibt einen Infektionsgang für die Verdachtsfälle. Das Wartezimmer existiert praktisch nicht mehr. Ich schaue, dass meine alten und kranken Patienten sofort in mein Sprechzimmer durchmarschieren. Die „Normalen“ sollen am Vormittag kommen und alles, was nach Corona klingt, am Nachmittag. Das alles ist nun seit ein paar Wochen so und mehr als anstrengend.
Klappt das gut?
Eva-Isabel Schmid: Es herrscht einfach viel Verwirrung. Patienten, die mit Erkältungsanzeichen kommen, erhalten einen Mundschutz. Was aber ist, wenn sie den Damen am Empfang etwas völlig anderes erzählen und dann hüstelnd und röchelnd vor mir sitzen, nachdem sie zwanzig Minuten neben anderen gewartet haben? Oder ein Patient zeigt mir seinen schmerzenden Rücken und hüstelt. Soll ich ihn fragen? Nein. Er hat Rückenschmerzen! Menschen husten eben manchmal… Klar sehe ich ihn dann kritisch an. Ist er krank, ohne es mir zu sagen? Auf der anderen Seite: Soll ich den armen Tropf, der zu mir gekommen ist, weil er sich verhoben hat, jetzt verunsichern? Er hat einen Hexenschuss. Aber was ist, wenn er doch Hunderte ansteckt? Dann bin ich schuld! Es ist wirklich schwierig. Ich frage mich täglich, teste ich zu viel, teste ich zu wenig?
Wie beurteilen Sie die Maßnahmen der Politik in der Schweiz?
Eva-Isabel Schmid: Ich bin wirklich unschlüssig, ob sie der Weisheit letzter Schluss sind. Meine ganz normalen Patienten verlieren ihre Existenzgrundlage, einige stehen schon ohne Job da. Und ein 50-Jähriger tut sich schwer, einen neuen zu finden. Das kann eine Katastrophe für die ganze Familie sein. Manche werden depressiv, ich bin mir sicher, dass die Suizidrate steigen wird. Teilweise arbeiten ja auch die Psychotherapeuten aus Panik nicht mehr. Eine meiner Patientinnen war in einer psychiatrischen Tagesklinik. Die wurde von einem auf den anderen Tag geschlossen und sie ohne irgendeine Anbindung unter hochdosierten Medikamenten entlassen. Es wird am Ende oft nicht wirklich klar sein, ob jemand an oder mit Corona gestorben ist. Ich habe von einem 1,5 Jahren alten septischen Kleinkind gehört, das immer wieder schwere Infekte hatte. Da sollten jetzt eigentlich die ganzen Abklärungen laufen. Alles abgesagt. Aber das ist doch ein kleines Kind und da muss doch geschaut werden, warum das immer wieder schwer erkrankt. Da kann ich doch nicht sagen, dass ist jetzt kein Notfall, das verschiebe ich um ein halbes Jahr. Nur weil das Spital vielleicht wegen Corona überlaufen könnte. In der Schweiz tut es das aber bislang nicht. Natürlich muss man auf Corona schauen, aber das Unglück, das wir dadurch verursachen und der Preis, den wir dafür zahlen, sind schon sehr hoch.
Glauben Sie, dass das Schweizer Gesundheitssystem für die Krise gut aufgestellt ist?
Eva-Isabel Schmid: Ich glaube schon. Man hatte Zeit sich vorzubereiten und wirklich schnell reagiert. Wenn das weiter so läuft, hat die Schweiz kein Problem mit überfüllten Krankenhäusern. Die Regierung rudert sogar bereits ein bisschen zurück. In den Medien gab es schon Aufrufe, dass die Leute auch mit anderen Beschwerden doch bitte wieder ins Krankenhaus gehen sollen. Vom Unispital habe ich gehört, dass deutlich weniger milde Schlaganfälle in der Neurologie eingeliefert werden… Aber die Leute haben doch nicht weniger Anfälle.
Was wünschen Sie sich im Fall einer weiteren Pandemie?
Eva-Isabel Schmid: Ich bin keine Politikerin, würde mir aber schon wünschen, dass man schneller hart reagiert und dafür kürzer. Und dass mehr an die Nebeneffekte gedacht wird. Ich bin zwar auch keine Epidemiologin aber aus meiner Sicht als Hausärztin – und davon verstehe ich etwas – ist die Lage für meine Patienten, die kein Corona haben, gesundheitlich schlimm. Dafür ist einfach zu wenig Bewusstsein da. Man kann Behandlungen nicht abbrechen, längerfristig verschieben oder chronisch Kranke nicht mehr sehen, das geht einfach nicht. Ich würde mir mehr Weitsicht auf das Leben neben Corona wünschen.
Haben Sie persönlich Angst zu erkranken?
Eva-Isabel Schmid: Das schwankt tatsächlich sehr. Man hört in den Medien immer von dem jungen Patienten, der auf der Intensivstation landet. Das ist statistisch ein totaler Ausreißer, geht subjektiv aber auch an mir nicht vorbei. Auf der anderen Seite ist es für mich keine Frage, dass ich mich in der Praxis irgendwann anstecken werde. Da kann ich mir so viele Masken aufsetzen, wie ich will.
* Medizinische Praxisassistentin (MPA), Schweizer Begriff für MFA
Auf einen Blick: das Gesundheitssystem der Schweiz
Teuer und gut, so könnte man es zusammenfassen. Seit Jahren ist die Qualität des Schweizer Gesundheitssystems in allen vergleichenden Untersuchungen global immer in der Spitzengruppe. Für die University of Washington aus Seattle erreichte das Land 2015 Platz drei im weltweiten Ranking (hinter Andorra und Island). 2018 war es im Euro Health Consumer Index sogar das beste Europas. Allerdings hat das seinen Preis. Jeder Eidgenosse muss eine Kopfpauschale bezahlen, deren Höhe je nach Wohnort stark schwankt. So kann die Prämie in Genf fast doppelt so hoch wie in einer abgelegenen Gegend sein. Für ärmere Bürger sind sogenannte Prämienverbilligungen möglich. Es gibt keine gesetzliche Krankenkasse, alle Kassen sind Privatunternehmen. Zahnbehandlungen und Unfallfolgen können über Zusatzversicherungen beglichen werden – oder man zahlt selbst. Aber: Wer als Arzt in der Schweiz arbeitet, erzielt ein deutlich höheres Bruttoeinkommen als in Deutschland.
Tipp: Ende des Jahres erscheint der historische Medizinroman „Paracelsus – Auf der Suche nach der unsterblichen Seele“ von Eva-Isabel Schmid.