Auswandern als Arzt oder Ärztin: Auf nach Schweden?

12 Juni, 2025 - 07:10
Gerti Keller
Stockholm, Skyline mit schwedischer Flagge
Stockholm, Schweden

Wie gut arbeitet es sich in Schweden, dem größten skandinavischen Land? Wie stark unterscheidet sich das Gesundheitssystem von unserem? Und wie offen sind die Menschen dort? Die Gefäßchirurgin Dr. Silke Brunkwall wanderte vor sechs Jahren nach Malmö aus und wirft einen persönlichen Blick auf den Sehnsuchtsort mancher Kolleginnen und Kollegen.

Frau Dr. Brunkwall, seit wann arbeiten Sie in Schweden? Und was ist Ihr Gebiet?

Dr. Silke Brunkwall: Ich bin seit 2019 an der Uniklinik von Malmö als Oberärztin der Gefäßchirurgie tätig. Wir sind unterteilt in mehrere Aufgabenbereiche, in Operationen oder Krankheiten. Ich bin verantwortlich für die Halsschlagader. Auch leite ich die Station und bin für den Ultraschall zuständig. Andere Kolleginnen und Kollegen haben die Beine, die Hauptschlagader oder die Dialyse-Shunts im Fokus.

Was hat Sie bewogen auszuwandern?

Dr. Silke Brunkwall: Ich absolvierte von 2005 bis 2007 in Göteborg den Postdoc in der Forschung und bin mit einem Schweden verheiratet. Er lebte 20 Jahre in Deutschland. 2013 kauften wir ein Ferienhaus in Schweden. Als meine jetzige Stelle ausgeschrieben wurde, wurde ich von dem damaligen Chef aufgefordert, mich zu bewerben. Ich hatte auch noch andere, attraktive Angebote. Aber dann wagte ich den Schritt.

07.07.2025, Landkreis Birkenfeld
Idar-Oberstein
07.07.2025, Palliative-Care-Team
Stuttgart

Unterscheidet sich das schwedische Gesundheitssystem stark von unserem?

Dr. Silke Brunkwall: Ja. Fast alles ist anders. Ein Hauptunterschied ist, dass die private Krankenversicherung hier nicht üblich ist. Es wird also nicht so viel Geld generiert, aber die Schweden möchten keine Zwei-Klassengesellschaft. Alle sollen Zugang zu einer ordentlichen Krankenversorgung haben. Diese wird durch die Steuern finanziert. Man muss keine Krankenversicherung bezahlen, nur manchmal geringe Praxisgebühren. Mittlerweile werden jedoch immer mehr kleine Zusatzversicherungen abgeschlossen. Diese betreffen eher Erkrankungen, die nicht lebensgefährlich sind, wie aus den Bereichen Allgemeinmedizin, HNO oder Ophthalmiatrie, teilweise auch Orthopädie. Einiges wird zudem von den Kliniken an private Anbieter auslokalisiert. Diese haben meist kürzere Wartezeiten und sind günstiger. Die Kosten für medizinisch Notwendiges werden aber auch dafür von der staatlichen Kasse übernommen.

Welche Vorteile hat das Arbeiten in Schweden?

Dr. Silke Brunkwall: Ein Großer ist: Für zusätzliche Nacht- oder Wochenenddienste gibt's einen großzügigen Freizeitausgleich. Wie viel Prozent genau, kann man mit seinem Vorgesetzten ausmachen. Dabei kommt es auch drauf an, wann gearbeitet wurde. Für Sonntagnacht erhält man sogar die doppelte Anzahl von Stunden. Das ist natürlich teuer und braucht zweimal so viel Personal.

Was sind Unterschiede in der täglichen Arbeit?

Dr. Silke Brunkwall: Es wird viel weniger Diagnostik, Vor- und Nachsorge gemacht. Man ist sehr darauf bedacht, evidenzbasiert und leitliniengerecht zu behandeln. Darum ist es manchmal schwierig, individualisiert vorzugehen. Provokativ gesagt: Hier ist es eher die Diagnose, die behandelt wird, wobei in letzter Zeit Gespräche für mehr Patientenzentrierung laufen.

Ebenso gibt es rechtliche Unterschiede. Deutschland ist wesentlich strenger, die Patientinnen und Patienten brauchen viel Information. Man muss sie extrem genau aufklären mit Zeichnungen und handschriftlichen Ergänzungen, sie müssen alles unterschreiben. Schweden sind da viel pragmatischer. Es landen auch seltener Klagen wegen ärztlicher Fehlbehandlung vor Gericht. Wenn man sich die Ergebnisse bei schwerwiegenden Erkrankungen anschaut, liegen beide Länder trotzdem gleich auf.

Ist die Hierarchie flacher?

Dr. Silke Brunkwall: Ja, und wer ein Krankenhaus betritt, sieht das auch sofort. Alle tragen weiße Kasacks. Die Pflege hat eine Universitätsausbildung und kann zum Beispiel Laborwerte beurteilen. Wenn wir morgens auf Visite gehen, ist sie meist schon informiert über Blutdruck und HB-Werte. Pflegekräfte nehmen eher eine Zwischenstellung ein, denn es gibt zusätzlich Hilfskräfte, die waschen, Blutdruck messen etc. Auch im OP habe ich fast nur die Narkoseschwester oder -pfleger neben mir, die sehr viel übernehmen. Und: In Schweden kann sogar jemand aus der Pflege oder einem ganz anderen Beruf den Chefposten bekommen, was eher eine verwalterische, geschäftsführerische Tätigkeit ist. Dafür habe ich als Oberärztin mehr Kompetenz. Das war für mich eine Umgewöhnung. Man läuft hier nicht ständig zum Chefarzt, sondern ist selbstständiger und seine eigene Expertin.

Vor welchen Herausforderungen steht das schwedische Gesundheitssystem?

Dr. Silke Brunkwall: Es ist nicht so effektiv, trotz mehr Personal. Zu meiner Zeit in Köln gab es durchaus Nächte mit nur einer Krankenschwester oder zwei Pflegekräfte tagsüber auf 30 Betten, was natürlich zu wenig ist. Wir haben hier aber auf 15/16 Patienten drei Pflegekräfte und mindestens noch mal so viele Helfende. Will man es krass ausdrücken: In Schweden versorgt man mit doppelt so viel Personal ungefähr ein Drittel oder Viertel wie in Deutschland. Als Folge herrscht überall chronischer Bettenmangel. Auch für mich ist es immer wieder ein harter Job, meine Fälle, die wegen eines Schlaganfalls oder entsprechender Warnzeichen meist ja sehr kurzfristig kommen, irgendwie „reinzubugsieren“. Das Personal leistet eine richtig tolle Arbeit, ist sehr gewissenhaft, aber es geht alles etwas langsamer.

Auch die Abläufe?

Dr. Silke Brunkwall: Es gibt auch hier jede Menge Standards, und es wird viel verschriftlicht. Man will alles richtig machen, aber es soll auch den Mitarbeitenden gutgehen. In Deutschland wurden wir viel mehr gedrillt. Ich erinnere mich, dass extrem auf die OP-Minuten geachtet wurde. Wenn wir da nicht um Viertel nach 8 einen Schnitt hatten, kam jemand und untersuchte, an wem das gelegen hatte. Auch die Anästhesie-Minuten kosteten richtig viel. Alles musste reibungslos ablaufen. Da wurde der Assistenzarzt gerufen, musste mitwaschen und mitlagern im OP, und dann wurde überlappend der nächste Patient eingeleitet. Das geht hier gar nicht. Die Überleitungszeiten sind viel länger. Gerade wird ein neues Krankenhaus in Malmö gebaut. Da wurde dafür nicht mal ein Raum eingeplant. Das System ist eben nicht so auf Gewinn ausgerichtet, obwohl auch wir versuchen müssen zu sparen.

Sie haben Erfahrung in beiden Systemen, welches finden Sie besser?

Dr. Silke Brunkwall: Das Optimale von beiden wäre gut. Verfechter des schwedischen Systems sagen, in Deutschland würde man überuntersucht und -behandelt. Ich finde, das deutsche System hat aber auch klar Vorteile. Ich war ja auch schon Patientin in beiden Ländern. Wenn man lästern möchte, könnte man sagen: In Deutschland überarbeitet sich der Arzt und hier ist wichtig, dass jeder seinen Urlaub nehmen kann – und auch sein Mittagessen bekommt! Letzteres ist den Schweden ebenfalls heilig. Das war auch das Erste, worüber ich gestaunt habe, als ich meine Premiere im OP hatte. Da steht ein Bildschirm für die Narkosepflege mit einem Plan, wer wann wen zum Mittagessen ablöst. Aber es ist auch schlau, darauf zu achten, dass das Personal lange gesundheitlich durchhält.

Und die hochgelobte Work-Life-Balance?

Dr. Silke Brunkwall: Die ist wirklich viel besser. In Schweden pünktlich nach Hause zu gehen und den Freizeitausgleich auch wirklich zu leben, ist voll akzeptiert. Die Menschen lieben die Natur, sind oft draußen, machen Sport. Sie lachen viel, auch mal über sich selbst. Ihnen fällt es leichter, Schwächen zu gestehen. Als kleines Land fragen sie sich eher: Machen wir alles richtig? Dieses reflektierte Denken gefällt mir gut. Man geht hier nicht immer davon aus, selbst alles besser zu wissen. Es kann auch vorkommen, dass ein hoher Chef einen Kurs besucht für ganz junge Ärzte, weil er einfach mal wieder etwas auffrischen will.

Was gefällt Ihnen am Land?

Dr. Silke Brunkwall: So vieles. Ich liebe die Ruhe. Wir wohnen in einem Waldgebiet mit Kiefern, Birken und Eichen. Die Grundstücke in unserem Viertel dürfen nicht kleiner als 2.000 Quadratmeter sein. Trotzdem sind wir nur 900 Meter vom Meer und den weißen Sandstränden entfernt und haben dennoch die Nähe zur Stadt. Unsere zwei Töchter gehen durchs Grüne, sind in zwei Minuten an der Schule und können leichter selbstständig werden. Mit gefallen auch die vielen einfachen Lösungen, dass nicht alles so verkompliziert ist wie in Deutschland. Beispiel Digitalisierung. Das zeigt sich unter anderem an der blitzschnellen Steuererklärung. Ich muss nichts einreichen. Das Finanzamt erhält automatisch Auskunft über meine Einkünfte, berechnet alles und benachrichtigt mich, ob ich mit dem Ergebnis so einverstanden bin. Ich muss nur noch zustimmen und fertig. Das Ganze geht übers Handy mit der Personenzahl – einfach das Geburtsdatum plus vier Ziffern. Die haben alle, damit kann man sich hier überall einloggen, auch bei der Bank.

Gibt es auch Mythen? So gilt Skandinavien als besonders fortschrittlich bei der Gleichberechtigung. Erleben Sie das auch so?

Dr. Silke Brunkwall: Gleichberechtigung war schon immer ein großes Thema im Norden, aber ich finde, es wird ähnlich wie in Deutschland umgesetzt. Auch hier ist noch jede Menge Luft nach oben, was zum Beispiel die Besetzung von Führungspositionen angeht. Ich glaube, wir haben hier nur zehn Prozent Gefäßchirurginnen. Es werden aber mittlerweile sicher mehr, wenn ich die angehenden Fachärztinnen sehe. Aber die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist wirklich besser. Es gibt genug Kindergartenplätze sowie Mahlzeiten in der Schule. Die Nachmittags- und die Ferienbetreuung sind klasse. Zudem ist das Schulsystem anders, womit wir sehr zufrieden sind. Die Kinder bleiben bis zur neunten Klasse zusammen und wechseln erst dann. Ziel ist, dass alle das schaffen. Und zu den Mythen: Als ich das erste Mal nach Schweden ging, sagten meine Freundinnen „oh Schweden ist so dunkel, die Leute sind so verschlossen, du wirst vereinsamen und Alkoholikerin werden“. Das ist Quatsch. Natürlich ist es dunkel im Winter, aber die Schweden trinken auch nicht mehr als die Deutschen.

Wurden Sie denn mit offenen Armen aufgenommen?

Dr. Silke Brunkwall: In Köln konnte ich keine zwei Meter gehen, ohne auf ein bekanntes, liebes Gesicht zu treffen. Ich bin ganz schweren Herzen weggezogen. Als ich hier auf die Station kam, war ich erstaunt, wie offenherzig und liebevoll ich empfangen wurde. Die menschliche Ebene ist super, und zwar rund um die Uhr. Man kann nachts in den OP kommen, doch es meckert niemand. Auch noch um 3 Uhr sind alle super drauf, freuen sich, dich zu sehen, und geben das Beste. Das macht richtig Spaß.

Was machen Sie in Ihrer Freizeit?

Dr. Silke Brunkwall: Familie steht an erster Stelle, auch haben wir viele Freunde gewonnen. Und jetzt, wo die Kinder etwas größer sind, habe ich mein Klavierspiel wieder aufgenommen und nehme Unterricht, aber ganz entspannt. Mein Lehrer sagt „wir sind jetzt über 40 und machen uns keinen Stress mehr“. Deswegen fahre ich einmal in der Woche zur Musikschule und muss dann auch wirklich pünktlich los. Außerdem haben unsere Töchter und ich mit dem Reiten angefangen und das schenkt mir viel Energie. Hier gibt es viele Freizeitmöglichkeiten, zum Beispiel wunderschöne Golfplätze. Und wir haben ein Segelboot. Im Winter sitze ich am Kamin und stricke.

Was würden Sie interessierten Kolleginnen und Kollegen raten?

Dr. Silke Brunkwall: Man sollte sich bewusst machen, dass es eine große Umstellung ist, plötzlich in so ein anderes System zu kommen. Auch die Bewerbung ist nicht einfach. Ich musste nicht nur alles übersetzen, sondern auch sämtliche Facharzt-Qualifikationen anerkennen lassen. Die Facharztausbildung ist ebenfalls anders. Der Ablauf ist durchstrukturiert, der Nachwuchs genießt viele Rechte. Sie machen ständig Kurse, sind jedes Jahr wochenlang unterwegs. Es steht mehr Freiraum für forschungsfrei zur Verfügung. Die Arbeitsbelastung ist geringer, aber wer wie ich ein operatives Fach wählt, hat auch ein viel kleineres Volumen an Operationen. Man kann sagen, der Berufseinstieg ist in Deutschland anstrengender, dafür hat man es später besser. In Schweden verhält es sich eher umgekehrt.

Was vermissen Sie?

Dr. Silke Brunkwall: Ganz viel. Meine Kollegen, Familie – und auch die „deutsche Disziplin“. Eine starke Führung hat schon Vorteile, auch um das Team im Griff zu haben. Und die Gemütlichkeit, dieses Urige in der Gastronomie, wenn man draußen im Biergarten sitzt. Und der deutsche Humor ist auch anders. Dennoch: Schweden ist ein wirklich schönes Land. Man kann sich hier auch im Krankenhaus sehr wohl fühlen. Das kann ich mit ganzem Herzen sagen.

Die Expertin:

Dr. Silke Brunkwall

Dr. med Silke Katharina Brunkwall ist Fachärztin für Gefäßchirurgie. Von 2004 bis 2019 war sie Ärztin an der Universitätsklinik Köln, ab 2016 Oberärztin. Seit 2019 arbeitet sie als Oberärztin in Skånes Universitetssjukhus in Malmö in Vollzeit. Von den laut Swedvasc rund 750 Operationen an der Halsschlagader in Schweden im Jahr macht sie circa 100.

Bild: © privat

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