
In Deutschland ist der Bereitschaftsdienst für Ärztinnen und Ärzte ein wesentliches Element der medizinischen Grundversorgung außerhalb der regulären Praxiszeiten. Doch während dieser Dienst unerlässlich für die Aufrechterhaltung der Patientenversorgung ist, wirft er auch zahlreiche rechtliche Fragen auf. Rechtsanwalt Andreas Wagner, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Geschäftsführer, Marburger Bund Landesverband Hessen e.V., bringt Licht in die Rechtslage zum Bereitschaftsdienst und erklärt, welche Rechte und Pflichten sowohl Arbeitgeber im Gesundheitswesen als auch die ärztlichen Angestellten haben.
Wie werden Bereitschaftsdienste rechtlich definiert und was unterscheidet sie von regulären Arbeitsstunden?
Andreas Wagner: Allgemein liegt Bereitschaftsdienst vor, wenn Arbeitnehmende sich an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle aufhalten müssen, um bei Bedarf die Arbeit so schnell wie möglich aufnehmen zu können. Für die meisten Krankenhausärztinnen und -ärzte spezifizieren die arztspezifischen Tarifverträge des Marburger Bundes dies so, dass die Aufenthaltspflicht außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit zu erfolgen hat. Die vom Arbeitgeber zu bestimmende Stelle ist im Regelfall das Krankenhaus, kann jedoch im Einvernehmen auch ein anderer Ort sein.
Der Unterschied fast aller ärztlichen Bereitschaftsdienste zur normalen Arbeitszeit ist, dass diese außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit geleistet werden und man nicht verpflichtet ist, die gesamte Zeit zu arbeiten, sondern nur wenn Arbeit im Bedarfsfall anfällt. In der Realität deutscher Krankenhäuser sieht das aber leider häufig anders aus.
Welche spezifischen Anforderungen müssen Arbeitgeber erfüllen, um Ärztinnen und Ärzte rechtlich zu Bereitschaftsdiensten einzuteilen?
Andreas Wagner: Wenn arztspezifische Tarifverträge Anwendung finden, muss darauf geachtet werden, dass in der durchschnittlichen Zeit des Bereitschaftsdienstes die Zeit ohne Arbeitsleistung überwiegt. Demnach muss mehr als die Hälfte der Zeit arbeitsfrei sein. Aber auch das sieht im Arbeitsalltag vieler Krankenhausärztinnen und -ärzte leider oft anders aus.
Wie kann man kontrollieren, ob sich ein Arbeitgeber an diese Vorschriften hält? Ist das ohne Weiteres möglich?
Andreas Wagner: Doch, man kann das kontrollieren. Wenn das erste Mal Bereitschaftsdienste angeordnet werden, muss der Arbeitgeber zunächst eine Prognose über die zu erwartende Arbeitsleistung machen. Daraus ergeben sich Anhaltszahlen, die man kontrollieren und überprüfen kann. Arbeitgeber müssen sich fragen, wie die durchschnittliche Arbeitsleistung ist, welche Prognose sie darauf basierend aufstellen können und müssen diese anschließend überprüfen, ob diese auch richtig war. Zudem muss während des Bereitschaftsdienstes die Arbeitsleistung erfasst werden. Arbeitgeber müssen einen repräsentativen Zeitraum festlegen. Dieser wird herangezogen, um festzustellen, dass die Arbeitsleistung in diesem Zeitraum durchschnittlich mehr oder weniger als die Hälfte des gesamten Zeitraums ist.
Was passiert, wenn die die Arbeitsleistung mehr als die Hälfte des Zeitraums überschritten hat?
Andreas Wagner: Dann gilt das nicht mehr als Bereitschaftsdienst, der Arbeitgeber darf keinen Bereitschaftsdienst anordnen und muss die Arbeit so modulieren, dass entweder wieder Bereitschaftsdienst angeordnet werden kann, oder er muss eine andere Dienstform wählen.
Können das Krankenhäuser umgehen?
Andreas Wagner: Ja, sicher. Stellen Sie sich vor, ein Krankenhaus setzt von 16:00 Uhr bis 07:00 Uhr am nächsten Morgen Bereitschaftsdienst an und jetzt stellt man fest, dass in diesem Zeitraum mehr als die Hälfte gearbeitet wurde. Dann kann das Krankenhaus sich überlegen, den Bereitschaftsdienst z.B. erst um 17:00 Uhr anfangen zu lassen, wenn dadurch die durchschnittliche Arbeitsleistung wieder unter den geforderten 50 Prozent liegt.
Machen wir uns nichts vor, der Bereitschaftsdienst wird ja auch gerne benutzt, um Stellen, die nicht besetzt sind, damit auszufüllen. Wie sehen Sie das?
Andreas Wagner: Das ist dann ein Problem, wenn dadurch gegen den Tarifvertrag und gegebenenfalls auch gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen wird. Dagegen müssten entweder die Personalvertretung vor Ort, der Betriebsrat oder Personalrat und in erster Linie die Betroffenen vorgehen – und das ist ja meistens die Schwierigkeit.
Wie war der Bereitschaftsdienst eigentlich früher geregelt?
Andreas Wagner: Früher galt Bereitschaftsdienst nicht als Arbeitszeit. Dagegen hat unter anderem ein deutscher Arzt mit Hilfe des Marburger Bundes vor mehr als 20 Jahren vor dem Europäischen Gerichtshof geklagt und Recht erhalten. Daraufhin wurde das deutsche Arbeitszeitgesetz geändert. Arbeitszeitschutzrechtlich gilt seitdem der Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit und das auch ohne Unterscheidung, ob in der Zeit gearbeitet oder nicht arbeitet wird.
Gibt es eine Obergrenze für die Anzahl an Stunden, die man im Bereitschaftsdienst arbeiten darf?
Andreas Wagner: Hier muss man zwischen den Zeiten differenzieren, die man an einem Tag arbeiten darf und den Wochenzeiten ohne Tarifvertrag. Die Arbeitszeit des Bereitschaftsdienstes kann maximal auf durchschnittlich 48 Stunden ohne Ausgleich verlängert werden. Mit Tarifverträgen dürfen es mehr sein. Meistens sind es 56 Stunden, aber, wie gesagt, ist das ein Durchschnittswert. Durch einen Tarifvertrag ist es zudem möglich, zum Beispiel an einzelnen Tagen an einen Acht-Stunden-Tag nochmal 16 Stunden Bereitschaftsdienst anzuschließen oder an Wochenenden vollständige 24 Stunden Bereitschaftsdienst anzuordnen.
Und das muss natürlich alles dokumentiert werden, richtig?
Andreas Wagner: Ja.
Welche Regelung zu Ruhezeiten zwischen den Bereitschaftsdiensten müssen eingehalten werden?
Andreas Wagner: Auch für den Bereitschaftsdienst gilt, dass sich nach dem Ende einer täglichen Arbeitszeit eine mindestens elfstündige Ruhezeit anschließen muss.
Was können Ärztinnen und Ärzte tun, wenn sie das Gefühl haben, an ihrer Arbeitsstelle läuft in Sachen Bereitschaftsdienst irgendwas falsch?
Andreas Wagner: Sie können sich an den Betriebs- oder Personalrat wenden oder einzeln bzw. als Gruppe dagegen vorgehen. Dabei helfen wir auch als Marburger Bund und unterstützen sehr oft in solchen Fällen.
Heißt das, das kommt häufig vor?
Andreas Wagner: Ja, das kommt sehr häufig schon vor.
Können Sie als Marburger Bund eigentlich klagen, wenn Sie Verletzungen des Arbeitsrechts bemerkten?
Andreas Wagner: In den meisten Fällen können wir das leider nicht. Bei individualrechtlichen Verstößen brauchen wir als Marburger Bund immer eine Klägerin oder einen Kläger, die wir individuell vertreten können.
Viele Ärztinnen und Ärzte beklagen immer schlechter werdende Arbeitsbedingungen. Die Personalnot hat große Auswirkungen auf die Arbeitsbelastung. Bemerken Sie angesichts dieser Entwicklungen eine Zunahme dieser arbeitsrechtlichen Verletzungen?
Andreas Wagner: Da gibt es leider keine Statistiken, aber die Mitteilungen über Arbeitsverdichtung, Personalmangel und Arbeitszeitverstößen sind immer noch auf einem unerträglich hohen Niveau.
Gibt Schutzmaßnahmen für bestimmte Gruppen von Ärztinnen und Ärzten?
Andreas Wagner: Es gibt das Mehrarbeitsverbot für schwangere Ärztinnen. Das gilt unabhängig davon, ob Bereitschaftsdienst vorliegt oder nicht. Es gibt natürlich auch den Fall, dass Ärztinnen und Ärzte aufgrund eines ärztlichen Attestes keine Bereitschaftsdienste machen können. Das sind dann allerdings individuelle Verbote. Generell gilt nur das Mehrarbeitsverbot für Schwangere.