Die Ärztinnen und Ärzte hinter der App: Berufsalltag in einer Online-Praxis

10 Januar, 2022 - 08:34
Gerti Keller und Michael Fehrenschild
Das dermanostic-Gründungsquartett (von links): Dr. Estefanía Lang, Patrick Lang, Dr. Ole Martin und Dr. Alice Martin
Das dermanostic-Gründungsquartett (von links): Dr. Estefanía Lang, Patrick Lang, Dr. Ole Martin und Dr. Alice Martin

Erst vor zwei Jahren gegründet – heute ein Team von 30 Köpfen: Das ist die Erfolgsgeschichte von dermanostic, der Düsseldorfer digitalen Hautarztpraxis. Doch wie genau funktioniert so eine virtuelle Visite? Das erfahren Sie im Beitrag.

Rund 150 Anfragen kommen durchschnittlich pro Tag über die dermanostic-App rein. Der Patient muss jeweils drei Handy-Fotos der betreffenden Hautstelle einschicken sowie einen Fragebogen ausfüllen. Innerhalb von 24 Stunden gibt’s postwendend die Diagnose zurück plus einer Therapie-Empfehlung in Form eines Arztbriefes im PDF-Format. Falls nötig, erhalten die Patienten auch ein Rezept, das sie online oder in der Apotheke um die Ecke einlösen können. Die digitale Praxis ist immer geöffnet, an sieben Tagen und Nächten die Woche, inklusive an Feiertagen. An Wochenenden und Weihnachten brummt‘s besonders.

Momentan wird diese Form der Arztkonsultation nur von den privaten Krankenkassen übernommen, gesetzlich Versicherte kostet sie 25 Euro als IGeL-Leistung. Doch Gespräche, ob alle Kassen dies künftig übernehmen, laufen – und zwar sehr vielversprechend. Es ist also eine echte Zukunftsoption, und in vielen Fällen nicht schlechter als der Besuch einer „normalen“ Praxis. 92 Prozent der Patienten benötigen danach keinen weiteren Arztbesuch. Und vor allen Dingen: Die Diagnose erfolgt oft wesentlich schneller, was Leben retten kann.

Der Alltag im Praxis-Büro

Dabei unterscheiden sich die meisten Fälle nicht von denen eines niedergelassenen Dermatologen. Es sind vor allem Gesichtsakne, Neurodermitis und Rosazea, aber: „Auffällig ist, dass wir viele Aufnahmen von Muttermalen eingeschickt bekommen“, erläutert Dr. Estefanía Lang (35) und beschreibt: „Hier kann man mit dem bloßen Auge bereits relativ gut erkennen, ob das in Richtung bösartig geht. Häufig liegen die Patienten schon mit ihrer Intuition richtig. Wir können ihnen dann zumindest mit einer Ersteinschätzung weiterhelfen. Im Fall eines Verdachts empfehlen wir ihnen, sich beim niedergelassenen Hautarzt vorzustellen. Mit unserem Arztbrief bekommen sie dort in der Regel dann auch schnell einen Termin.“

29.03.2024, Praxis
Aschaffenburg
29.03.2024, Hairmedic Privatklinik
Dortmund

Daneben bietet diese neue Art der Sprechstunde aber auch weitere praktische Vorteile. Das gilt insbesondere für ältere Patienten, insbesondere, wenn sie immobil sind. „Oft schicken uns die Enkel Aufnahmen von der Hautstelle der Oma. Zudem arbeiten wir bereits mit einigen Senioren- und Pflegeheimen zusammen, was wir auch ausweiten möchten. Die digitale Befundung belastet nicht nur die Patienten weniger, die nirgendwohin transportiert werden müssen, sondern spart auch dem Gesundheitssystem Geld“, betont die Fachärztin für Dermatologie.

Bei derzeit rund 40.000 Patienten in der Kartei – vom Neugeborenen bis zur 100-Jährigen – hatten sie bislang rund 500 verschiedene Diagnosen. Darunter sind auch seltene Krankheiten. „Trotz Online-Praxis sehen wir ganz unterschiedliche Dinge. So hatten wir schon mal einen Fall von Blutkrebs. Dieser Patient war bereits mehrmals vor Ort beim Dermatologen gewesen. Immer wieder war ihm gesagt worden, er hätte ein Ekzem. Aber die Therapie sprach einfach nicht an. Wir schlugen dann eine Biopsie vor und lagen richtig“, so Lang.

Und auch die menschlichen Schicksale, die hinter den Fotos stehen, bleiben den Medizinern nicht immer fern. So bekam die Dermatologin von einer Gynäkologin Aufnahmen einer schwangeren obdachlosen Patientin mit ausgeprägter Schwangerschaftsdermatose zugeschickt. Als sie sich nach einer Woche nach ihr erkundigte, sagte die Kollegin, das Kind sei schon in die Adoption gegeben. „Da sitzen wir dann hinter dem Computer und kriegen einfach Gänsehaut“, meint Lang und erinnert sich noch an ein weiteres bemerkenswertes Ereignis: „Einmal schickte uns eine Internistin aus einem Berliner Krankenhaus Bilder ihres Patienten. Ihm ging es auf Station immer schlechter, er war komplett übersät mit Hautveränderungen. Sie hatte einfach keine Möglichkeit, ein Konsil zu stellen und bezahlte dann unsere 25 Euro aus eigener Tasche. Das sich ein Arzt so kümmert, hat mich schon sehr bewegt.“

Hohe Interdisziplinarität

15 Prozent der Fälle werden automatisch doppelbefundet. „Zweimal pro Woche gehen wir zusammen im Team die Fotos durch, wie eine richtige Visite. Dabei schauen wir uns zum Beispiel schwierige oder seltene Diagnosen an, wie neulich eine genetisch bedingte Verhornungsstörung, oder besprechen neue Therapiemöglichkeiten. Das passiert immer montags mit allen Ärzten und noch einmal mittwochs. Dann kommen unsere Krankenschwestern dazu, damit auch sie sich langsam eine gewisse Expertise aneignen“, schildert die 35-Jährige.

Denn die aktuell zwei Pflegekräfte sind die ersten Ansprechpartner für Patienten bei Nachfragen. „Sie helfen, falls Formulierungen erklärt werden müssen oder beispielsweise konkret gefragt wird ‚kann ich bei Feigwarzen trotzdem Geschlechtsverkehr mit Kondom haben?‘ Auch wenn wir das alles im Arztbrief geschrieben haben, braucht es manchmal doch eine menschliche Brücke“, führt Lang aus. Bessern sich die Symptome nicht oder ist unklar, wie weitergemacht werden sollte, kommt stets ein Arzt dazu. Das alles funktioniert in der Regel via Textnachricht über den Button „Arzt kontaktieren“. Allerdings ist das keine Chatfunktion, sondern wird abgearbeitet wie bei einem Ticketsystem. Im Allgemeinen beträgt die Zeit bis zu einer Antwort 24 bis 48 Stunden.

Schreibt ein Patient, dass er ein Telefonat wünscht, wird er auch angerufen. Manchmal melden sich die Ärzte zudem aus eigenem Antrieb: „Gibt jemand an, dass ihn das alles sehr traurig macht und er nicht weiß, ob er das schafft, rufen wir immer an und geben beispielweise die Telefonnummer der Depressionshilfe weiter. Auch, wenn wir das Gefühl haben, dass jemand die bisherigen Infos nicht versteht, melden wir uns persönlich. Denn mithilfe der menschlichen Stimme kann man oft ganz anders beruhigen, vor allem, wenn es sich um eine psychologisch bedingte Hauterkrankung handelt. Bei ernsteren Diagnosen bieten wir immer ein Telefonat an. Für mich ist das der Bogen zwischen analog und digital.“ Das ist alles übrigens im Preis inklusive.

Ans Netz angeschlossen sind zudem neun weitere Disziplinen, von Augenheilkunde über Pädiatrie und Urologie bis zur Rheumatologie. Lang: „Manche dieser externen Experten – oft sind es Kollegen von früher – arbeiten in ihrer eigenen Praxis, einige sind im Ruhestand. Sie haben Zugriff zu unserem System und werden für diese Befunde freigeschaltet. Diese große Interdisziplinarität ist ein toller Wissenstransfer und deswegen auch nachhaltig“ Und für den Patienten ein weiterer Benefit.

Zukunft Teledermatologie?

Das Marketing erfolgt unter anderem durch Pre-Rolls bei Spotify und via TikTok-Videos, für die das Team dann selbst vor der Kamera steht. „Wir werben nicht für Krankheit, sondern für Prävention und Gesundheit. Wir reden einfach über typische Dermatologie-Themen wie Akne und wie man sie vermeiden oder verbessern kann.“ Genauso locker sprechen sie über Beschwerden im männlichen Genitalbereich, auch auf Sexseiten. Denn darüber hinaus gibt es einen Konsultationsgrund, der nicht klassisch ist, den sie aber vermehrt sehen: die Entzündung von Penis- und Vorhaut. „Das liegt sicherlich an der erhöhten Hemmschwelle, damit in die Sprechstunde zu gehen“, vermutet die Mitgründerin der App. „Wir klären in unseren Spots auf, wie man das von anderen Infektionen unterscheiden kann, was gesund ist und was nicht – immer mit der Aufforderung: Falls du so etwas hast, melde dich bei deinem Arzt, vor Ort oder digital.“

Aktuell wurde die App mehr als 100.000-mal heruntergeladen und der TikTok-Kanal hat fast 190.000 Follower. Darüber hinaus gibt es diverse Kooperationen, etwa mit Eucerin, der Uni Göttingen, die auch den Fragebogen validiert hat, sowie mit EUROIMMUN. Mit dem Labordiagnostika-Hersteller laufen derzeit mehrere gemeinsame Projekte, damit Patienten in Zukunft selbst verschiedene laborchemische Untersuchungen durchführen können. Zudem setzen einige Unternehmen dermanostic im Rahmen ihres betrieblichen Gesundheitsmanagements ein. In naher Zukunft könnten die gesammelten Daten außerdem als Basis für Künstliche Intelligenz auch den niedergelassenen Hausarzt unterstützen. Denn dieser sieht auch sehr viele Hautveränderungen. Ein Projekt hierzu ist ebenfalls schon in Arbeit.

Ausbaufähig ist das Konzept aber auch noch aus einem weiteren Grund: digital kennt keine Grenzen. Der Service wird aktuell schon in Englisch, Spanisch, Französisch, Niederländisch, Portugiesisch, Russisch, Türkisch und Chinesisch angeboten, Arabisch ist in der Entwicklung. „Daher bekommen wir auch Bilder aus anderen Ländern. Der entfernteste Patient kam aus Singapur“, so Lang.

Werden noch Dermatologen gesucht?

Mittlerweile besteht das Team aus zwölf Ärztinnen und Ärzten. Auch einige Ruheständler sind dabei, deren enorme Erfahrung Lang besonders schätzt. Eine Schicht geht meist sechs bis acht Stunden, wie ein normaler Arbeitstag. Manche arbeiten aber auch nur ein paar Stunden pro Woche. Denn wann und wie lange man dort arbeitet, ob vormittags oder abends, steht jedem frei zur Wahl. Und: Homeoffice ist problemlos möglich. „Unser IT-System ist sehr intuitiv aufgebaut, dazu braucht es nicht viel technisches Know-how“, erklärt die Ärztin und Gründerin. Ein kleiner Nachteil ist vielleicht: Weil sie den Patienten nicht live erleben, gestaltet sich die Befundung etwas schwieriger. Deswegen braucht es wirklich viel Fachwissen und alle Bewerber durchlaufen eine Aufnahmeprüfung. Momentan sind sie personell sehr gut aufgestellt, aber das kann sich immer schnell ändern. Bei Interesse können Dermatologen einfach eine Mail an bewerbung@dermanostic.com senden, die dann auch bearbeitet wird.

Wie es anfing

Die Idee einer Online-Hautarztpraxis wurde durch die vielen WhatsApp-Fotos von Hautstellen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis initiiert, wo es hieß „schau doch mal eben“. Beim Ideenwettbewerb an der Heinrich-Heine-Universität (HHU) in Düsseldorf 2019 bekam sie den Publikumspreis. Business Angels schoben das Projekt mit an. Im Oktober 2019 wurde dermanostic gegründet.

Das Gründungs-Quartett besteht aus zwei befreundeten Ehepaaren: Dr. Estefanía Lang ist Fachärztin für Dermatologie, Dr. Alice Martin Dermatologin in Weiterbildung, Patrick Lang Unfallchirurg und Dr. Ole Martin Radiologe in der Weiterbildung. Alle Vier arbeiten jetzt nur noch für dermanostic. Nimmt man die ganze Mannschaft inklusive Marketing, Videoschnitt, IT und Praktikanten beschäftigt das Start-up aktuell mehr als 30 Personen.

Mehr Infos: www.dermanostic.de

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