Der 1-Minuten-Arzt: Bessere Kommunikation in Klinik und Praxis

26 Juli, 2023 - 08:03
Michael Fehrenschild
Freundliche Ärztin mit Patientin

Manche Patientinnen und Patienten möchten ihre Krankengeschichte ausführlich in allen Einzelheiten erzählen. Da taucht bei Ärztinnen und Ärzten häufig der Wunsch auf, sie zu unterbrechen und „irgendwie“ schnell zu behandeln. Warum das keine gute Idee ist, erklärt der Anästhesist, Coach und Autor Dr. Mark Weinert.

Untersuchungen stellen regelmäßig fest, dass rund 20 Prozent der Patientinnen und Patienten nicht dazu kommen, ihr Problem richtig zu schildern. Denn das gestresste medizinische Personal hat oft nicht die Zeit, die Fähigkeit und die Lust, zuzuhören. Das ist sicherlich eine kuriose Spitze des Eisbergs zum Thema schlechte Kommunikation in medizinischen Berufen. Auch Dr. Mark Weinert machte diese Negativ-Erfahrungen – und fing an, sich mit dem Thema intensiv zu befassen. Daher ist er heute nicht nur Arzt, sondern auch Kommunikationsexperte.

Typische Ausbildung der 1990er Jahre

Ein Blick zurück: Bei Weinert sah lange Zeit alles nach einer „normalen“ Medizinerkarriere aus. Mit kleinen Unterschieden. So hat er sich schon immer nicht nur für den Arztberuf, sondern auch für Themen wie Psychologie interessiert. Während seines Medizinstudiums und auch in den späteren Fort- und Weiterbildungen wunderte er sich oft, dass kaum über gute Kommunikation geredet wurde, sondern fast nur über medizinisches Wissen und technische Fähigkeiten. Noch heute fragt er sich: „Warum sprachen wir nicht darüber?“ Weinert dazu: „Großes Wissen oder erhebliche technische Skills nutzen nichts, wenn ich mit meinem Team nicht vernünftig kommuniziere. Dann wird meine Performance immer hinter dem zurückbleiben, was möglich ist.“

30.08.2024, Hausarztpraxis
Oberhausen
28.08.2024, German Medicine Net
Zürich

Und wenn der angehende Facharzt zuhause mit seiner Frau über Dinge sprach, die er außerhalb der Uni gelesen hatte, schüttelte sie oft den Kopf und fragte: „Lernt ihr das nicht während des Studiums? Ihr arbeitet doch auch mit Menschen!“ Sie hat viele Jahre als Organisations- und Wirtschaftspsychologin bei der Lufthansa im Training gearbeitet und erzählte ihm: „Was du da liest, das lernen die Leute bei uns in ihrem allerersten Kurs…“ Seit Weinerts Studium hat sich zwar manches etwas verbessert, aber es gibt immer noch ganz viel Luft nach oben, wie der vielseitige Mediziner betont.

Was ist in der medizinischen Kommunikation besonders?

Eigentlich sind Kommunikationsformen zwischen Menschen relativ unabhängig vom Beruf. Trotzdem sind bei Medizinern und Medizinerinnen einige Aspekte anders als bei den meisten zwischenmenschlichen Kontakten. Weinert erläutert dazu: „Ein großer Unterschied ist, dass in der Medizin häufig ein Machtgefälle existiert. Der Patient befindet sich fast immer in der schlechteren Lage. Er ist in den allermeisten Fällen in einer Abhängigkeitsposition und möchte etwas vom Arzt. Zudem hat er auch oft einen Wissensnachteil.“

Ein weiterer Grund, warum solche Gespräche schief gehen, ist der unglaubliche Produktionsdruck im Gesundheitswesen, egal ob in Praxis oder Krankenhaus. Die dort arbeitenden Menschen denken schlichtweg, dass sie immer schneller funktionieren müssen, weil sie sonst nicht fertig werden. Weinert stellt hierzu eine klassische Frage: „Wie lange dauert es, bis eine Ärztin oder ein Arzt einen Patienten im ersten Gespräch unterbricht? Antwort: Im Durchschnitt keine 20 Sekunden.“  Er ergänzt: „Doch üblicherweise müssen Menschen sich erst etwas warm reden und die Beziehungsebene checken, bevor sie zum Beispiel über Hämorrhoiden reden können.“ Häufig sei es so, dass Patientinnen und Patienten zwar mit einem Rezept nach Hause gehen, aber der eigentliche Grund für den Besuch gar nicht zur Sprache kam. Außerdem haben Ärzte und Ärztinnen weniger Zeit für Empathie und Mitgefühl. Das führt insgesamt zu einer schlechteren Behandlung, ist unbefriedigend für beide Seiten und: Letztendlich dauern Therapien dadurch sogar länger.

Auch für die Kommunikation zwischen Ärztinnen und Ärzten und Pflegekräften gelten Besonderheiten. Menschen filtern alles durch ihre eigenen Brillen. Bei manchen stehen eher Gefühle im Vordergrund, bei anderen dominiert die Sachebene. Weinert: „Ich denke, dass Pflegekräfte oft mehr auf Gefühle achten und die Ärztinnen und Ärzte – natürlich nicht alle – vor allem auf die Sachebene fixiert sind.“ Wenn aber unter den Teammitgliedern Emotionen hochkommen, ist es wichtig, erst auf die einzugehen, bevor man die Sachebene betritt. Das rettet die persönliche Beziehung und die Motivation, mit anderen zusammenzuarbeiten.

22.08.2024, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Zürich
21.08.2024, Vitasphère Gesundheitszentrum Oensingen AG
Oensingen

Negative Konsequenzen auch für Ärztinnen und Ärzte

Kommunikationsdefizite haben auch für Ärzte und Ärztinnen Konsequenzen – zum Beispiel, wenn das Personal wegläuft. Das erzeugt eine Spirale. Denn wo weniger Kolleginnen und Kollegen arbeiten, kommt man selbst mit der Arbeit nicht hinterher und das bringt dann noch mehr Druck in die ganze Situation. Und: Je gestresster die Menschen sind, desto schwieriger wird es auch zu kommunizieren. Weinert fasst zusammen: „Ich würde das als Gesamtpaket in alle Richtungen bezeichnen. Es wäre auch sehr überraschend, wenn ein Oberarzt, der sehr schlecht mit Patienten kommuniziert, das hervorragend mit den Kollegen kann.“

Was ist der „1-Minuten-Arzt?“

Weinert benutzt diesen griffigen Begriff in seinem neuen Buch. Er erklärt: “Zu allererst muss die Beziehung zwischen zwei Menschen funktionieren, bevor ich über Inhalte sprechen kann. Wer die erste Minute dafür investiert, wird später, wenn er inhaltlich etwas erreichen möchte, viel erfolgreicher sein.“ Das ist hilfreich für Mediziner und Patienten – aber auch intern für das medizinische Team.

Dennoch muss manchmal auch die klare Ansage möglich sein, zum Beispiel in der Kommunikation in zeitkritischen Situationen, etwa bei Notfällen. Aber auch dabei muss wirklich aufgepasst werden, wie Weinert anhand eines bekannten Zitats von Konrad Lorenz erklärt. Der berühmte Naturforscher sagte folgendes: „Gedacht heißt nicht immer gesagt, gesagt heißt nicht immer richtig gehört, gehört heißt nicht immer richtig verstanden, verstanden heißt nicht immer einverstanden, einverstanden heißt nicht immer angewendet, angewendet heißt noch lange nicht beibehalten.“

Gute Kommunikation kann Leben retten

Weinert veranschaulicht dies mit einem Beispiel aus seiner Praxis: „Angenommen, ich möchte in einer Notfallsituation, dass ein Medikament verabreicht wird. Da habe ich verschiedene Möglichkeiten, das zu kommunizieren. Wenn ich nun sage ‚ein Milligramm Adrenalin für die Reanimation verabreichen‘, dabei aber niemanden konkret anspreche, kann es sein, dass in der Situation gar nichts passiert. Vielleicht nimmt aber auch jemand eine Ampulle und zieht ein Milligramm Adrenalin auf, ein anderer zieht das Adrenalin auf und spritzt es auch, oder es gehen zwei Leute und ziehen jeweils eine Ampulle auf. Das habe ich alles im Rahmen von Reanimationen erlebt. Der korrekte Weg wäre zu sagen: Sebastian, zieh ein Milligramm Adrenalin auf, gebe es dem Patienten und sag mir Bescheid, wenn es drin ist‘. Ich habe damit jemanden konkret angesprochen. Dieser weiß genau, was zu tun ist. Jetzt weiß ich aber immer noch nicht, ob er es auch wirklich ausführt. Erst wenn er mir dazu noch ein Feedback gibt, ist klar, dass er es auch richtig verstanden hat.“

Diese Technik kommt übrigens aus der Flugkommunikation der Luftfahrt, wo auch nichts schief gehen darf. „Wenn der Kapitän zu seinem Copiloten beim Landeanflug sagt ‚Klappen auf 30 Grad ausfahren‘ und der nickt nur, dann weiß er noch lange nicht, ob das auch richtig verstanden wurde. Erst wenn der Copilot antwortet ‚Klappen auf 30 Grad‘ und der Kapitän wiederholt das, wissen es beide sicher. „Das ist ein Beispiel dafür, dass gute Kommunikation Leben retten kann“, ist sich Weinert sicher.

Der Wert guter Kommunikation

„Schlechte Kommunikation ist immer Sand im Getriebe. Dann quietscht die Maschine, geht kaputt und bleibt stehen. Gute ist wie Öl. Geölt läuft alles eben leichter, die Arbeit geht besser von statten, es macht auch mehr Spaß.“ Denn wer sich in einem funktionierenden Team wohlfühlt, hat auch weniger Probleme damit, viel zu arbeiten. Ist das Klima dagegen im Kollegenkreis schlecht, kann selbst eine 20-Prozent-Stelle zu viel sein.

Der Experte:

Dr. Mark Weinert

Dr. Mark Weinert ist Anästhesist, Intensivmediziner, Notarzt und Autor mehrerer Bücher. Sein neuestes Werk heißt: Der 1-Minuten-Arzt: Einfach. Besser. Kommunizieren. Das Praxisbuch für Menschen im Gesundheitswesen, erschienen 2023. Darin finden sich zahlreiche Tipps zum Kommunikationsverhalten in Krankenhaus und Praxis plus: Es gibt sogar Anregungen zum Umgang mit Medien, Juristen oder zur Rolle des Humors für Ärzte und Ärztinnen.

Bild: © privat

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