
Medizinische Inhalte im Film plausibel zu erzählen ist eine Kunst für sich. Weil Drehbuchautoren nicht alles wissen können, arbeiten sie mit medizinischen Beratern zusammen. Einer von ihnen ist Dr. Pablo Hagemeyer (54), Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie aus Weilheim in Oberbayern. Er schreibt an Drehbüchern für Arztserien wie „Der Bergdoktor” und „Bettys Diagnose” mit und hat Schauspieler für authentische Arzt- und Patientenrollen gecoacht.
Herr Dr. Hagemeyer, wie sind Sie auf die Idee gekommen als medizinischer Berater beim Film zu arbeiten?
Dr. Pablo Hagemeyer: Ab Mitte der 1990er Jahre lief die US-Serie „Emergency Room” im Fernsehen. Damals studierte ich Medizin in Bochum und war fasziniert von den authentischen Dialogen, diagnostischen Details und Therapien. Das stellte deutsche Formate wie die damals noch populäre „Schwarzwaldklinik” absolut in den Schatten. Unsere Arztserien waren sehr reduziert und hatten kaum interessante medizinische Inhalte. „Emergency Room” dagegen hat gezeigt, wie packend man Medizin erzählen kann. Das hat mich auf die Idee gebracht, es hierzulande besser zu machen. Und überhaupt: Als leidenschaftlicher Kino-Gänger interessiere ich mich für Kinematografie und das Konzept des Storytellings, also des Geschichtenerzählens. Ich entwickle und schreibe selbst gerne Geschichten. Aber ich bin auch ein leidenschaftlicher Psychiater.
Wie sind Sie vorgegangen, um bei Filmproduktionen Fuß zu fassen?
Dr. Pablo Hagemeyer: Ich habe im Rahmen eines Businesswettbewerbs 1998 mit befreundeten Ärzten die Agentur The DOX gegründet. Als Mediziner hatten wir zwar kaum Kontakte zur Unterhaltungsbranche, aber es kamen schnell ein paar kleinere Aufträge, wie zum Beispiel für „Der Landarzt”. Ich habe dann eine etwas provokante Postkartenaktion gestartet und alle Filmproduktionen in Deutschland angeschrieben. Offenbar fanden einige Produzenten meine Aktion ansprechend, denn danach verdoppelten sich unsere Aufträge. Damals war es nicht üblich, dass sich Ärzte an die Medien wenden. Heute ist das ganz anders: Wer als Arzt keine gute Medienkompetenz hat und trotzdem in die Medien will, ist nicht gefragt.
Welche Aufgaben haben Sie bei der Produktion eines Films oder einer Serie?
Dr. Pablo Hagemeyer: Im Moment bin ich hauptsächlich als Drehbuchberater tätig. In der Regel kontaktiert mich eine Produktionsfirma telefonisch oder per E-Mail, und wir besprechen grob die Krankengeschichte auf Machbarkeit. Nach Vertragsabschluss bekomme ich von den Autoren zunächst ein kurzes Exposé, das ich überarbeite, und dann ein Treatment mit den Dialogen. Vom Drehbuch gibt es meist drei Fassungen bis zur drehfertigen Version. Beim Dreh selbst bin ich nicht mehr dabei. Das Komplettpaket mit Drehbuchschreiben und Set-Beratung macht meine Agentur derzeit nur für den „Bergdoktor”.
Waren Sie früher am Set beim „Bergdoktor” am Wilden Kaiser dabei?
Dr. Pablo Hagemeyer: Ja, einige Jahre. Bis etwa vor zehn Jahren regelmäßig. Dann kam in unserem Team die Idee einer Zweiteilung auf: Die einen übernehmen die Drehbuchberatung, andere das Set. Aktuell sind wechselnde Ärzte oder eine Krankenschwester am Set. Für die Dreharbeiten muss man sehr flexibel sein. Man muss sich freinehmen, Drehtage werden schon mal verschoben, zum Beispiel wetterbedingt oder weil ein Schauspieler nicht da ist. Das kann mit der Sprechstundenregelung eines Psychiaters arg kollidieren. Deshalb konzentriere ich mich aktuell auf die Entwicklung der Geschichten und besuche das Set im Grunde genommen nur noch, um mal wieder „Hallo” zu sagen.
Ein Drehtag am Set ist doch bestimmt komplett anders als die Arbeit als Psychiater …
Dr. Pablo Hagemeyer: ... definitiv. Es werden täglich zwar „nur” etwa drei Minuten Drehbuch gefilmt, aber dafür ist eine zeitintensive Vorbereitung notwendig. Während des Drehs arbeitet man mit allen Gewerken wie Maske, Kostüm und Ausstattung zusammen. Man muss wissen, wie das filmische Erzählen funktioniert. Was darf im Bild sein, was nicht? Bedient der Schauspieler das Ultraschallgerät richtig? Wie sitzt der Zugang der Infusionsnadel? Passt die Stimmlage des „Arztes” und „Patienten”? Stimmen die Gesten? Sprechen die Schauspielerinnen und Schauspieler die Fachbegriffe richtig aus? Alles wird laufend auf Plausibilität geprüft. Bei Fehlern muss man eingreifen und dies mit der Regie und Schauspielern klären. Manchmal springt der medizinische Berater auch als Hand-Double bei einer OP ein oder geht in einer Krankenhaus-Szene den Flur entlang.
Bereiten sich die Schauspieler speziell auf die korrekte Aussprache von komplizierten medizinischen Fachbegriffen vor?
Dr. Pablo Hagemeyer: Das läuft relativ spontan. Die Schauspieler kennen das Drehbuch. Sie lesen die Dialoge durch und erhalten die ein oder andere Rückmeldung. Ist ein Begriff zu komplex, sagt man das Wort dem Schauspieler auch vor. Aber kleine Fehler, der eben noch tolerierbar sind, werden verziehen. Zum Beispiel ein leichtes Nuscheln des Terminus oder ein nicht ganz mit dem Drehbuch übereinstimmender Satz. Zu viel Perfektion würde den Drehbetrieb aufhalten. Mit Mark Keller, der beim „Bergdoktor” den Dr. Alexander Kahnweiler spielt, habe ich eine kleine Challenge: Dem schreibe ich häufig schwierige Begriffe rein, die er dann mit Mühe aussprechen kann. Das hat eine gewisse Komik, aber auch eine Nettigkeit.
Wie werden Verletzungen und Operationen nachgestellt, die einen Blick ins Körperinnere freigeben?
Dr. Pablo Hagemeyer: Verletzungen wie offene Wunden präparieren Maskenbildner und Modellbauer in Abstimmung mit dem medizinischen Berater. Fürs Präparat werden keine organischen Materialien wie Tierfleisch verwendet, sondern meistens Latexprodukte, Schaumstoff und Silikone, die entsprechend geformt werden können. Das sieht auf dem OP-Tisch sehr echt aus. Der Trick ist dann, eine Wunde richtig abzudecken. Beispielsweise werden am Bauch Tücher darüber gelegt, die richtigen Instrumente benutzt und das suggeriert dann Echtheit. Sichtbare oder gebrochene Knochen werden aus Kunststoffen zusammengebaut. Auch das wirkt, gut gemacht, sehr realistisch.
Welche medizinischen Themen sind besonders schwer realistisch darzustellen?
Dr. Pablo Hagemeyer: Psychologische Themen wie Schizophrenie oder eine bipolare Persönlichkeit, also zwei Persönlichkeitszustände, sind oft schwierig zu spielen. Meist können nur sehr gute Schauspieler diese Nuancen gut performen. Voraussetzung dafür ist ein Verständnis für psychologische Phänomene. Da stößt man auch als erklärender Berater am Set an seine Grenzen.
Welchen Anspruch haben Sie generell an die authentische Vermittlung medizinischer Themen?
Dr. Pablo Hagemeyer: Für mich ist es vor allem wichtig, keine schlecht formulierten Halbwahrheiten und falschen Informationen über echte Krankheiten zu verbreiten. Grundsätzlich muss ich aber auch Abstriche machen. Denn in einer Arztserie zählen zwar die Fakten, aber man muss das mit dem Storytelling verbinden. Eine mit zu viel Fachwissen überschwemmte Geschichte kann langweilig werden. Da es bei Arztserien aber um Unterhaltung geht, werden Krankheitsbilder verkürzt. Die Herausforderung dabei ist, trotzdem fachlich plausibel zu bleiben. Damit eine Story nicht ausufert, werden zum Beispiel bei einer weiblichen Filmfigur mit atypischen Herzinfarkt-Symptomen wie Rückenschmerzen, andere typische Symptome, die bei einem Herzinfarkt auch auftreten können, eher weggelassen.
Sie sind Psychiater, brauchen aber auch in anderen medizinischen Bereichen aktuelle Expertise.
Dr. Pablo Hagemeyer: Grundsätzlich verfüge ich über ein breites medizinisches Wissen. Psychiater bin ich erst sehr spät geworden. Zuerst habe ich in Pathologie promoviert, dann bin ich in die Grundlagenforschung gegangen und habe neurowissenschaftlich am Gehirn gearbeitet. Und die Psychiatrie hat ja Berührungspunkte mit vielen medizinischen Bereichen. Deshalb habe ich auch keine Berührungsängste mit neurologischen oder organischen Seltenen Erkrankungen. Aber wenn es um Bildgebung oder Strahlentherapie geht, wende ich mich auch an meine Kollegen. In unserem lockeren Agentur-Team ist unter anderem ein Internist, ein Allgemeinmediziner und ein Notarzt. Auch eine Gynäkologin gehört dazu.
Und wie bereiten Sie sich konkret auf Ihre Mitarbeit am Drehbuch vor?
Dr. Pablo Hagemeyer: Im Großen und Ganzen unterscheiden sich Themen der Serienformate nicht wesentlich, sodass ich meistens nicht intensiv recherchieren muss: Notaufnahme, Praxis, Intensivstation, Operation, Rettung und Bergung, Reanimation – das ist es. Aber bei Seltenen Erkrankungen, wie sie beim „Bergdoktor” erzählt werden, kann es kniffelig werden. Nicht die vordergründige Krankheit ist die Ursache, sondern etwas ganz anderes. Damit wendet sich das Blatt für die Filmfigur und häufig auch die Therapie sowie der Genesungsverlauf. Das ist dramaturgisch wichtig, um mit einem Happy End zu enden. Für solch ungewöhnlichen Fälle recherchiere ich in PubMed und suche nach einer Erkrankung, die in die dramaturgische Struktur einer Geschichte passt. Oder ich ergänze die ausgefallenen Krankenfälle, die das Autorenteam recherchiert hat. Medizinisch plausible Erklärungswege und belastbare Evidenz finde ich dann in wissenschaftlichen Publikationen. Esoterische oder nicht evidenzbasierte Themen werden von mir aber nicht kommuniziert. Da ziehe ich die Grenze.
Berücksichtigen Sie beim Schreiben von Drehbüchern auch aktuelle Studien und Leitlinien zu bestimmten Themen?
Dr. Pablo Hagemeyer: Ab und zu, wenn es relevant ist. Aber die Fachgesellschaften prüfen die Inhalte nicht, sondern freuen sich, wenn ihre Themen einigermaßen plausibel oder überhaupt erwähnt werden. In der 14. Staffel vom „Bergdoktor” haben wir viel Lob aus der Neurologie bekommen, weil wir die unheilbare Erbkrankheit Chorea Huntington gut thematisiert haben. Die Aktualität ist eingeschränkt, da die Drehbücher eineinhalb Jahre vor der Ausstrahlung geschrieben und ein Jahr vorher gedreht werden. Corona zum Beispiel haben wir ganz außen vor gelassen, auch weil es nicht in das Unterhaltungskonzept der Serie passt.
Erfinden Sie manchmal auch Krankheiten?
Dr. Pablo Hagemeyer: Beim „Bergdoktor” bleibt das nicht aus. Schließlich läuft die Serie schon im 18. Jahr. Es wurden sehr viele außergewöhnliche Krankenfälle geschildert. Da muss man sich etwas einfallen lassen. Immundefizit-Erkrankungen oder unerwartete Tumor-Heilungen. Auch die Krankheit BD-1 war erfunden, übrigens ein Akronym für Bergdoktor 1. Bei erfundenen Fällen melden sich schon mal Zuschauerinnen und Zuschauer und fragen: „Was ist das eigentlich?” Es gibt sehr kritische Stimmen, darunter viele Kolleginnen und Kollegen, oder auch Fachgesellschaften, die sich zu Recht beschweren, wenn zu stark verkürzt wird. Bei der Darstellung der Muskeldystrophie war dies einmal der Fall. Insgesamt überwiegen aber die anerkennenden Stimmen.
Können deutsche Arztserien inzwischen den US-amerikanischen Produktionen das Wasser reichen?
Dr. Pablo Hagemeyer: Das nicht, es bleibt ein Riesenunterschied. Die Produktionsmittel in den USA sind um einiges höher sind als in Deutschland. Dort wird mit viel mehr Kameras aus verschiedenen Perspektiven gedreht, sodass am Ende mehr Bildausschnitte und Details zur Auswahl vorhanden sind. Außerdem gibt es in den USA die Tradition der Writers Rooms, der Autorinnen und Autoren, die in einer Art Fabrik arbeiten. Dadurch hat man auch viel mehr Talente, die dann vielleicht den einen oder anderen genialen Dialog schreiben. Aber insgesamt ist die Darstellung und Erzählung von Medizin bei uns besser geworden. Ziemlich realistisch sind derzeit in Deutschland auch die ARD-Serie „In aller Freundschaft” und „Bettys Diagnose”. Doch leider gibt es auch noch sehr viele, sehr blasse Produktionen.